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Qingdao, Bade- und Hochzeitsstadt mit deutschen Tupfern
Shanshan und Robert saßen im Nachtbus nach Qingdao … Noch herrschte Tageslicht. Industriezonen und Städte wechselten im dichtbesiedelten China schnell miteinander ab. Zuweilen waren es Grauzonen, düstere Gebiete, die sie durchfuhren, in denen die Ruinen von stillgelegten Fabriken, von alten Staatsbetrieben, welche nicht mehr rentabel waren, dem vollständigen Verfall und der Demontage noch ein wenig trotzten. Dann sah man wieder Neubauten und neue Fabriken. Städte wie Linyi oder Rizhao wurden in den Außenbezirken durchquert. Kein Deutscher kennt die Namen, obgleich – nebenbei gesagt – Linyi in der Verwaltungseinheit mehr als zehn Millionen Einwohner besitzt, wohingegen Rizhao mit nur knapp drei Millionen Bewohnern fast als eine Kleinstadt gilt.
Es war schnell dunkel geworden. Was Shanshan und Robert sahen, war schwarzblaue Leere, hin und wieder aufgefüllt vom Lichterglanz der Städte. Müde, Schulter an Schulter gelehnt, dämmerten die Chinesin und der Deutsche im Halbschlaf vor sich hin. Irgendwann tauchte die schwärzlich reflektierende Wasserfläche des Gelben Meeres auf, welches ein Ausläufer des Pazifiks ist. In der Ferne zogen kleine und große Schiffe auf einer vorgegebenen ruhigen Bahn dahin. Das Meer verschwand wieder, es wurde von dunklen Landschaften verdeckt, bis es abermals auftauchte. Schließlich umfuhren sie die Bucht, an der die Stadt Qingdao gelegen war, in einem großen Halbkreis, so dass sie vom Norden her durch endlose Industriegebiete kamen. Von dem Ruf eine besondere Schönheit zu sein, welcher der einst von Deutschen gegründeten Stadt vorauseilte, erahnte man bei der Einfahrt auf holprigen Straßen durch industrielles Gelände zunächst einmal nichts.
Es war gegen halb zwei, weit nach Mitternacht, als Shanshan, die den deutschen Namen Viktoria trug, und Robert den Bus verließen. Trotz der unmöglichen Zeit wurden sie in Qingdao von einer Freundin Viktorias abgeholt, was bedeutete, dass auf Chinesinnen – und auf gute Freunde – immer und zu jeder Stunde Verlass sein konnte. Die Freundin hieß mit Vornamen Furong, wollte von Robert aber mit Laura angeredet werden. Laura studierte Anglistik. Sie hatte für die beiden Reisenden zwei Zimmer in einem Studentenhotel am Ostcampus der Universität Qingdao bestellt. Laura winkte schnell ein Taxi herbei, in welches sie einstiegen und mit ihnen durch die nächtliche Stadt jagte… Nach einer halben Stunde erreichten sie das kleine Hotel. Robert hatte nur den einen Wunsch zu schlafen, wohingegen Laura mit aufs Zimmer der Freundin ging. Frauen haben sich immer etwas zu erzählen, sogar mitten in der Nacht, selbst im Morgengrauen, wenn müde Männer nur noch an den heiligen Schlaf denken und – unschuldig wie Kinder – für den kommenden Tag Kraft tanken müssen.
(...)
Qingdao, das um 1900 deutsche Kolonie war, ist jetzt eine bekannte Kur- und Hochzeitsstadt mit vielen alten und neuen Sehenswürdigkeiten. Nach einer kurzen Busfahrt erreichten die Leute das grüne Villenviertel. Der Botanische Garten war in der Nähe und der ausgedehnte Zhongshan-Park, zumindest die Ausläufer desselben. Die Stadt machte ihrem Namen als ›Grüne Insel‹ alle Ehre, dabei war sie nicht auf einer Insel, sondern nur auf einer Halbinsel gelegen, welche in die Bucht von Jiaozhou, wie sie heute heißt, hineinragt. ›Grüne Insel‹ oder vielleicht doch ›Blaue Insel‹? Wenn man die chinesischen Zeichen genau nimmt, müsste es ›Blaue Insel‹ heißen …, also Insel im blauen Meer ... Jedenfalls ist Qingdao der angesehenste Badeort im Norden, wohingegen Xiamen das Gegenstück im südlichen China ist … Robert musste an die Erzählungen von Wenwen/Schöne Wolken denken, welche mit ihrer finanzstarken Tante Minh des Öfteren gekurt hatte. Die Tante, die mit einem sehr smarten Barmusiker aus Shanghai verheiratet war, kam fast alle zwei Jahre hierher.
In dem grünen Villenviertel mit Bauwerken, die zumeist in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts entstanden und von denen jetzt einige Hotels sind, wird die Tante gekurt haben oder möglichweise gerade jetzt kuren … Es handelt sich um sehr vornehme Anwesen mit fein gestalteten Gartenanlagen. Hier hielten sich Gäste auf, die es zu etwas gebracht hatten, aber es waren auch Hochzeitspaare darunter, die es erst zu etwas bringen wollten. Eine solche Hochzeitsreise leistete man sich in der Regel nur (?) einmal, weshalb man/frau aus diesem Anlass gern mehr Geld als nötig ausgab. Allerdings erweisen sich der erste Mann und die erste Frau im Lebenszusammenhang oftmals als die allergrößten Illusionen, wenn auch nicht als die letzten.
Die fröhlichen jungen Leute spazierten – mehr an die ›freie Liebe‹ als an Heirat denkend – durchs grüne Viertel zum Meer hinab. Der dem Villenviertel vorgelagerte Strand mit seinem weißgelben Sand war einer der schönsten Strände in der Stadt. Strand und Meer besitzen eine anziehende, ja eine magische Atmosphäre … Das ist immer so, das ist das ozeanische Gefühl … Zur besonderen Atmosphäre kam die Atmosphäre, welche von den vielen Hochzeitspaaren ausging, noch hinzu. Qingdao schien die Hochzeitsstadt Numero 1 in China zu sein. Weiß gekleidete Bräute, wie sie Robert zuvor vereinzelt im Villenviertel und in den Parks gesehen hatte, lagerten und posierten zu vielen am weitläufigen Strand. Ein Riff und schwarzgraue Felsenbrocken ragten weit ins Meer hinaus, auf denen ebenfalls zahlreiche Bräute in Weiß und mit dunklen Fracks oder Smokings bekleidete Herren die Blicke auf sich zogen. Das alles wirkte irgendwie abgedreht und war höchst surreal. Robert Marian fühlte sich in einen der Filme von Werner Herzog versetzt, obwohl keiner von dessen Filmen bislang in China gedreht worden war. Nur die eigentümliche Stimmung war danach – sie war herzoglich.
(...)
Heute war der Tag, um das Deutsche Viertel zu erkunden. Shanshan/Viktoria, Furong/Laura, Gao/Tom und Robert/Ruibai verließen nach dem Frühstück den Campus. Das Deutsche Viertel besuchen, das in der Altstadt im Südwesten Qingdaos lag, ließ an längst vergangene Zeiten und an eine überholte Geschichte denken. Auch die Deutschen, na ja, eher die Preußen, hatten nach einer Exkursion ihres Ostasiengeschwaders Ende des 19. Jahrhunderts – wie die Engländer an vielen Stellen – noch einen der ungleichen Verträge über neunundneunzig Jahre zu ihren Gunsten erzwungen. Damals plusterten sich die Deutschen unter Wilhelm II. zur ›Schutzmacht‹ über das Fischerdorf Qingdao und die Bucht von Jiaozhou auf. ›Schutzmacht‹, um den ironischen Begriff aufzugreifen, waren sie nur von 1898 bis 1914, dann nahmen ihnen die Japaner das kleine chinesische Besitztum weg! :))
Trotzdem, Deutsche hatten damals einiges in Szene gesetzt und durften unter ›japanischem Schutz‹ bis weit in die Dreißigerjahre hinein weiterwirken. Im Deutschen Viertel war, durchaus positiv, ein gewisses Flair bewahrt worden. Zum architektonischen Baustil der Jahrhundertwende gehörte der anmutige Jugendstil, der in Qingdao Verwendung fand. Die deutsche Brauerei und der Jugendstil hatten zum guten Ruf und zum Charme der aufkommenden Stadt beigetragen. Die jungen Chinesen, mit einer heimlichen, obschon rätselhaft unbegründeten Vorliebe für Deutschland, wurden nicht müde, auf den früheren und heutigen Werdegang Qingdaos hinzuweisen.
Die Freunde flanierten unbeschwert die schöne alte Jiangsu Lu entlang und erfreuten sich an einigen prächtigen von deutschen Architekten um die Jahrhundertwende erbauten Gebäuden mit Balkonen aus schwarzem Gusseisen und mit Dächern, welche rostrote Dachziegel trugen. Die Häuser waren inzwischen nach chinesischem Geschmack neu verputzt worden, manche in Gelb, manche in rötlichen Farben und sahen jetzt mehr rosig-chinesisch als traditionsbewusst deutsch aus … Überhaupt schien die neue chinesische Liebe zu den deutschen Hinterlassenschaften recht ungestüm erwacht zu sein und in einer Übertreibungssucht zu gipfeln. Hin und wieder waren Fachwerkhäuser neueren Datums zu sehen, offenbar nachgebaut ... Manchmal war aber etwas Altes verblieben. In den Seitenstraßen konnte man so schön auf altem Kopfsteinpflaster von anno dazumal flanieren.
Da die Chinesen das Deutsche Viertel für einen schönen Ort hielten, WAREN DIE HOCHZEITSPAARE WIEDER DA. Man gewöhnt sich zwar nicht an alles, aber an vieles, sogar an übertrieben viele Hochzeitspaare im öffentlichen Straßenbild Qingdaos … Ganz China, zumindest halb China, schien heiratssüchtig zu sein … Nachdem die Hochzeitspaare, die für idyllisch gehaltenen Flecken und Fleckchen in den Parks und am Strand für ihre lieblichen Fotoaufnahmen genutzt hatten, strömten sie zur St. Michaels-Kathedrale, die sich auf der Spitze eines Hügels erhob. Erst im Jahr 1934 wurde sie von deutschen Missionaren erbaut, um eine Handvoll Chinesen für den Katholizismus zu gewinnen.
Die romantischen Hochzeitspaare, die hier posierten, hatten keineswegs eine kirchliche Trauung im Sinn. Die Paare waren bloß herbeigeströmt, um sich vor der Kathedrale fotografieren zu lassen. In ihren weißen Schleppenkleidern und mit putzigen Schleiern auf dem Kopf sahen manche Frauen wie überdimensionale Seidenraupen aus, wohingegen die befrackten Herren an mutwillige, wie auch an liebesdurstige Käfer, ja, an Skorpione denken ließen, die ihre Seidenraupen immer im Blick behielten… Raupen und Käfer hielten sich fürs Hochzeitsfoto aneinander fest… Das war die ›romantische Hochzeit in Weiß‹.
(...)
Man war hungrig geworden … Die Herrschaften durchschritten die ›Fressgasse‹ des Deutschen Viertels. Am Eingang zur Gasse prangte über einem Torbogen, dessen Farben abgeblättert waren, die Jahreszahl 1902 ... Das war bloß gut hundert Jahre her. Es gab kleine Restaurants, chinesische Restaurants allerdings, weil die deutsche Küche in China keine Chance hatte, aber unter den chinesischen Schriftzeichen fand man plötzlich deutsche Untertitel wie »in Familien-Betrieb« oder »Familien-Restaurant« … Robert betrachtete eine Wand mit Plakaten, welche das Städtchen Tsingtau um 1910 zeigten. Alles sah wie zu Hause aus, Bilderbuch-Deutschland, deutsch-provinziell … Die heutige Zhejiang Road hieß schlicht Bremer Straße und die damalige Hauptstraße, die auch die heutige Hauptstraße ist, trug den Namen Friedrichstraße, wohingegen sie heute Zhongshan Road heißt … Robert Marian kaufte unverzüglich einige Postkarten mit Motiven aus der alten Zeit.
Das deutsche Bier und die Architektur hatten überlebt, die Küche nicht. Chinesische Küche, das hieß frisch und lebendig, falls man bei diesen Temperaturen – es waren knapp dreißig Grad – von Frische überhaupt sprechen konnte: Desorientierte Krabben saßen in Körben im Freien, desolate Muscheln zuckten im warm gewordenen Wasser, silbrige Fische taten ihre letzten Züge …, und in gefährlich aussehenden Seeigeln mit langen Stacheln steckten noch längere Löffel, um den Inhalt roh auszuschlürfen, was als eine bedeutende Delikatesse gilt … Ein wunderschönes Mädchen schmorte, wie zum Trost, Seegurken in einer großen gusseisernen Pfanne … Deutsche schienen im Viertel freilich ausgestorben zu sein; der Gastpoet Robert Marian kam sich an Ort und Stelle wie ihr letzter Repräsentant vor.
Gegen Ende des Stadtbummels standen die Leute vor dem Deutschen Bahnhof, der gut gepflegt worden war, wirklich, ein schützenswertes Kulturgut … Höflicher ausgedrückt, der alte Bahnhof war in den neuen Bahnhof, welcher den alten Bahnhof architektonisch nachahmte, bestens integriert worden. Deutsche hatten ab 1899 eine Eisenbahnlinie gebaut, welche ihr »Schutz- und Trutzgebiet Kiautschou«, wie Qingdao zu dieser Zeit hieß, mit dem heutigen Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, verband. Der Bahnhof sah aber nicht wie ein Bahnhof, sondern eher wie ein ehrwürdiges Rathaus in einer kleinen deutschen Stadt aus und besaß zwei Giebel und ein Säulenportal. Das Gebäude ging zur Linken in einen Uhrenturm über, welcher – ohne Uhr oder mit Uhr – ein Kirchturm hätte sein können. Das dreiteilige, mit dem neuen Bahnhof zu einem würdigen Monument zusammengewachsene Gebäude war sandsteinfarben verputzt, während die Giebel mit ihren Ziegeldächern rotbraun in der Abendsonne schimmerten.
Viele Leute saßen auf Bänken vor dem Bahnhof und betrachteten diesen mit versonnenem Blick, besonders die Liebespaare. Bestimmt träumten sie von einer sentimentalen Reise. Robert Marian träumte ein Weilchen mit den Liebespaaren mit, das war er seiner Rolle als Gastpoet schuldig … Gerade als die Züge Flügel hatten und in den Himmel flogen, wurde der Deutsche von Shanshan geweckt. Sie stand ein Stück hinter ihm – zur anderen Seite des Platzes hingewandt – und rief seinen Namen. Roberts Orientierung setzte wieder ein. Er erblickte Viktoria/Shanshan vor einem imposanten Gebäude, einem Geschäftskomplex, welcher Victoria-Plaza hieß. Viktoria, Victoria-Plaza, verblüfft erhob sich Robert und schritt auf die ›schöne Süße/süße Schöne‹ mit ihrer roten Haarsträhne zu. »Na sowas, du hast ja deinen Platz im Leben schon gefunden«, sagte er mit einem breiten Lächeln.
Die Leute schritten abermals in Richtung der Landungsbrücke, bogen dann aber nach rechts ab und spazierten in der Abenddämmerung am Meer auf einer Promenade entlang. Die nächtliche Dunkelheit brach in Ostasien mit großer Schnelligkeit herein, daran war Robert längst gewöhnt. Was ihn verwunderte, war etwas anderes, war etwas, was er wiederum zuvor noch nie gesehen hatte: Mit Einbruch der Nacht blitzten nämlich IM MEERESWASSER Leuchtreklamen auf. Leuchtreklamen, die allesamt dem Meer entsprangen und sich auf der Wasserfläche vielfältig spiegelten … Werbung für Restaurants, für die IT-Branche, Werbung für das neueste Smartphone, alles zusammen eine Werbung für eine noch schönere neue Welt … Als Krönung stieg aus dem Meer die berühmte Tsingtao-Bier-Flasche mit dem ›Pavillon der zurückkehrenden Wellen‹, gewissermaßen wie Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Schönheit und der sinnlichen Begierde, aus den Fluten empor. Beide sind im und aus Schaum geboren, das Bier und die Frau…
Nach einigen Drinks in einer Bar am Strand fuhren die Leute auf den Campus zurück. Der Gastpoet Robert Marian hatte seinen Kopf an die Aphrodite Shanshan gelehnt und schlief unverzüglich – von schönen Träumen durchdrungen – ein.
Gekürzter und leicht veränderter Auszug aus: W.N., Drachenrausch. Flanieren in China, Bacopa Verlag, Schiedlberg/Österreich, im Herbst 2019. Das ungekürzte Kapitel befindet sich auf den Seiten 56-81.
Wulf [Noll]
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