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Großelterngeschichten | Abschied von Hermann Eisl

Von einem Tag zum anderen hatte sich der Herbst über die Stadt geworfen. Heftiger Wind trieb Regengüsse durch die Straßen der Stadt. Für Franz war es ein Trost gewesen, dass sein Großvater noch im Sommer sterben hatte dürfen. Die Sommermonate erleichterten nicht nur Franz das Loslassen, sondern auch seinem Großvater das Weggehen. Als Hermann Eisl an diesem heißen und schwülen Augusttag seine wachen Augen für immer schloss, saß sein Enkel Franz Eisl wie jeden Donnerstagabend am Bett seines Großvaters. Er betrachtete den abgemagerten Körper, der auf dem weißen Laken lag und konnte nicht fassen, dass sein Großvater nun doch noch gestorben war.

Der Tod Hermann Eisls war für Franz ein großer Verlust. Er wusste, dass sein Großvater nun das Schlimmste hinter sich hatte, zumindest nahm er es an. Der Verfall seines Körpers konnte von den Ärzten auch mit einer Operation nicht aufgehalten werden. Die Medikamente halfen lediglich, die Schmerzen zu ertragen. Hermann Eisl hatte jeden Widerstand gegen den Krebs aufgegeben.

Franz konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Sein Großvater saß aufrecht im Bett, sein Körper abgemagert, seine knochenharten Hände legten sich sanft auf seinen Unterarm und dabei erzählte er einen Witz, um dann fast übergangslos hinzuzufügen: "Endlich kann ich abtreten."

Franz konnte lange Zeit nicht verstehen, warum sein Großvater gerade einen Tod wählte, der sich in die Länge zog.

"Ich weiß, ich hätte ihn verdient, einen schmerzlosen Tod. Aber ich habe den Krebs aus Solidarität gewählt."
"Aus Solidarität?" fragte Franz erstaunt.
"Ja, aus Solidarität mit deiner Großmutter. Begonnen hat alles vor drei Jahren. Die Ärzte stellten mir meine Diagnose drei Monate nach dem Tod von Julia. Damals wollte ich sterben."
"Aber warum mußtest du dich mit dieser Todesart bestrafen?"
"Vielleicht wollte ich mich dafür bestrafen, dass ich einmal zu oft überlebt hatte."
"Das ist doch verrückt."
"Ja, ich war verrückt, damals, in den Wochen nach dem Tod deiner Großmutter. Verrückt und desorientiert."

Aber gerade die Diagnose der Krebserkrankung hatte ihn auch rasch wieder zur Vernunft gebracht. Hermann Eisl begann, sein Leben neu zu organisieren. Er lebte von Tag zu Tag, plante seine Vorhaben nur mehr von Woche zu Woche und bezog seinen Enkel Franz immer stärker in sein Leben mit ein. Geduldig gingen sie gemeinsam einen Schritt nach dem anderen: vom Schreibtisch zum Bett, vom Bett ins Krankenhaus, vom Krankenhaus in die Leichenhalle.

Was Hermann zu schaffen machte, war der körperliche Verfall. Er war nie ein Mensch gewesen, der die unausweichlichen Tatsachen ignorierte, und so gelang es ihm auch nicht, seinen abgemagerten Körper, seine zittrigen Hände, den Verlust der Kontrolle über seine Körperfunktionen zu übersehen. Er sagte nichts, aber Franz wusste am Ende, dass der Tod, den sein Großvater bei vollem Bewusstsein erlebte, eine Erleichterung für ihn gewesen war.

Das Begräbnis war ein Abschied ohne Pathos, war von jener Leichtigkeit, die er immer am Leben seines Großvaters bewundert hatte. Der Tag, an dem die Familie Eisl seinen Sarg über den Kiesweg des Friedhofs zur Reihe 22, Grab 8 begleiteten, war strahlend blau. Außer den Verwandten und Freunden waren nur wenige Menschen gekommen. Die Stille stand im Gegensatz zu den Bildern, die Franz schon seit dem Morgen im Kopf herumgingen. Es waren Sommerbilder: urlaubende Menschen, heißer Asphalt, leere Straßen in der Vorstadt, frisch gemähter Rasen in den Schrebergärten. All das stand im Widerspruch zu seiner Trauer und Angst, die ihn auf seiner Fahrt zum Friedhof begleiteten. Trauer, weil er sich nicht mit Großvaters Tod abfinden wollte, weil er sich alleingelassen fühlte, hilflos, ausgesetzt. Angst, weil jeder Gedanke an das bevorstehende Begräbnis, Kindheitserinnerungen wachrief an Friedhofsbesuche, an trauernde Menschen vor Gräbern, an Kirchgänge. All das, was sein musste, weil es sich so gehörte, zwang ihn als Kind zur Ernsthaftigkeit, zur Trauer und zur Freude am richtigen Ort, zur richtigen Zeit. Er hatte in solchen Dingen immer ein grauenvolles timing und wurde immer zurecht gewiesen, wenn er die ihm aufgetragene Rolle nicht erfüllen konnte. Bei all dieser Schauspielerei fühlte er sich unbehaglich und schuldig, weil er Lügen musste und doch auch aufgefordert war, die Wahrheit zu sagen.

Doch bei Großvaters Begräbnis war es anders gewesen. Plötzlich war keine Heuchelei mehr nötig, er spürte nichts von der Komik, die sich normalerweise auf Begräbnissen breit machte. Was er spürte, war schlichte Trauer. Vielleicht weil es keine große Zeremonie, keine Chöre, keine Kränze, keinen Pfarrer und keine Redner gab. Der Sarg lag auf einem schmalen Karren mit großen Rädern und der Kies knirschte bei jeder Bewegung. Die wenigen Menschen, die bei einem Brunnen Wasser holten, hielten mit ihrer Beschäftigung inne, bekreuzigten sich und warteten geduldig, bis die Trauernden an ihnen vorübergezogen waren. Die Erde fiel schwer auf den Holzsarg, den sie auf den Überresten von Julia Eisl seiner Großmutter abgestellt hatten.

Bertolt [Williamson]


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