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Zum Paradoxon der schriftstellerischen Existenz

Das Schreiben ist ein paradoxes Geschäft. Einerseits ist man dabei notwendig allein. Denn gemeinsam einen Text zu verfassen, mag Paaren gelingen (den Gebrüdern Grimm, Marx und Engels, Adorno und Horkheimer, Fruttero & Lucentini) oder auch ein läppisches Gesellschaftsspiel abgeben. Für gewöhnlich aber ist der Schreibakt, und auch schon das Ausdenken eines Textes, eine recht einsame Tätigkeit. Der Schreiber muss, was er schreiben will, selbst verfassen. Und wenn er dabei nicht abschreibt (oder sich einer gedankenlos Texte aus Texten generierende Maschine bedient), ist er als Schreibender unvertretbar und ganz auf sich verwiesen.

Auf der anderen Seite kann und will man nur schreiben, weil es andere gegeben hat, die schon geschrieben haben, und nur weil man voraussetzt, dass es welche gibt, die einen lesen lesen werden. Manche Autoren heben zwar hervor, sie dächten beim Schreiben an keinen Leser; explizit mag das richtig sein, implizit ist freilich jedes sprachliche Ereignis, das man produziert, adressiert, sonst wäre es ja gar nicht lesbar, wäre es grundsätzlich nicht verständlich, wäre es schlechterdings nicht sprachlich. Nur weil es weil es Sprache schon gab, konnte man sprechen lernen. Und nur weil man längst Erfahrungen mit Geschriebenem gemacht hat, will man selbst (im emphatischen Sinne) schreiben.

Einerseits also die notwendige Einsamkeit des Schreibens, andererseits die notwendige Verwiesenheit auf andere, die man gelesen hat und die einen lesen (oder doch könnten). Voilà, das Paradoxon der schriftstellerischen Existenz.

Der Schreibende entkommt dem nicht. Er sitzt fest zwischen zwei Stühlen. Schlicht gesagt: Ohne andere hat das Schreiben eigentlich keinen Sinn; aber schreiben muss man schon selber. Grobianisch gesagt: Schreibende sind egomanische Arschlöcher, die sich Lesenden aufnötigen wollen, in der Hoffnung, dass ihre Selbstsüchtigkeit als Grandosität verkannt wird. Romantisch gesagt: Erst wenn es in Herz und Hirn eines Gegenübers dessen Eigenständigkeit weckt, findet das Schreiben wirklich zu sich.

Notwendige Einsamkeit des Schreibens, notwendige Verwiesenheit auf andere: Zwei Seiten einer Medaille, die man drehen und wenden kann, wie man will, sie zeigt immer das Entscheidende. Auch in ihren Missbildungen.

Denn die eine Seite verführt manche Schreibende zur Wichtigtuerei, zur Aufblähung des Schreib-Egos, das in seiner Abgeschiedenheit zur unvergleichlichen Einzigartigkeit wird. Das übersieht die unabdingbare Notwendigkeit, von anderen zu lernen (im Guten wie im Schlechten), und es vergibt die Chance, sich kritisierbar zu machen und so dem Schreiben einen Sinn zu geben, der über Selbstbefriedigung hinausgeht.

Die anderer Seite der Medaille bringt manchen dazu, nicht bloß durch die Qualität von Texten überzeugen zu wollen, sondern sich durch geschicktes Management so zu positionieren, dass, wenn es schon nicht erreichbar wird (welch kühnes Ideal!), vom Schreiben einigermaßen zu leben können, so es doch immerhin gelingt (und das ist auch schon viel!), allerhand Anerkennung einzuheimsen. Verlegt zu werden, besprochen zu werden, öffentliche Lesungen zu haben, Preise zu bekommen, erfüllt manchen mit tieferer Befriedigung als ein gelungener Text. Auf den es dann vielleicht schon gar nicht mehr ankommt.

Fast jeder, der irgendwann zu schreiben beginnt, der das Schreiben gar mehr oder minder zum Beruf machen möchte, bringt wohl den Kinderglauben mit, man müsse nur gut schreiben und Richtiges sagen, die Leute würden das dann schon irgendwann merken, und schließlich und endlich werde man mit dem, was man wolle und könne und mache, auch erfolgreich sein. Die Lebenserfahrung widerlegt freilich diese Illusion. Im Gegenteil, sie lehrt, dass erwiesene Begabung und erhoffte Relevanz keineswegs genügen, dass sich also nicht das durchsetzt, was man für gut gedacht und gut gemacht, für wichtig und richtig hält. Sondern Erfolg haben die, die den Publikumsgeschmack vorwegnehmen und nur so weit dem Konformismus der Masse widersprechen, dass durch wohldosierte Übertretung und Befremdung ein harmloser exotischer Kitzel bewirkt wird; erfolgreich sind zudem die, das ist von großer Bedeutung, die sich in den richtigen Institutionen bewegen und beizeiten Allianzen und Kooperationen mit den richtigen Leuten und Institutionen eingehen.

Wer das nicht kann oder will und nie wollte, nämlich marktgerecht schreiben und sich systemkonform platzieren und vernetzen, dem geschieht es recht, dass er unbekannt bleibt und nur für sich und sehr, sehr wenige Leser schreibt. Er wird dann zwar die kritisieren, die sich geschickt durchzusetzen vermögen, und er wird Recht haben. Aber man wird ihm umgekehrt nicht ganz zu Unrecht vorwerfen, dass er selbst auch gern Erfolg gehabt hätte, viele Leser, öffentliche Wahrnehmung, Lob und Tadel, womöglich ein Einkommen, Bekanntheit, ja Ruhm. Nur dass er ja eben nicht bereit war, den Preis zu bezahlen, das Schneckenhaus, den Elfenbeinturm, den Ponyhof zu verlassen, sich den Realitäten des Lebens zu stellen und seine Haut zu Markte zu tragen. Und man wird ihn heimlich oder ausdrücklich verdächtigen, dass er das nicht nur nicht wollte, sondern dass es auch nichts gebracht hätte, wenn er es versucht hätte, weil dafür ohnehin nie der Richtige gewesen wäre, warum auch immer.

Der isolierte, nur für die Schublade (oder Festplatte oder Cloud) Schreibende ist sozusagen die Reinform des Schriftstellers, unverdorben von jedem Kompromiss mit der Leserschaft und den Regeln des Betriebs. Andererseits stellt sich die Frage, ob der, der nicht gelesen wird, überhaupt ein Schriftsteller ist, ob ohne die Bewährung in der Wahrnehmung und Beurteilung der anderen überhaupt von Literatur die Rede sein kann. — Wem es so ergeht, der mag sich damit trösten: Hätte Max Brod auftragsgemäß Franz Kafkas sämtlichen Nachlass verbrannt, der große Schriftsteller wäre heute völlig unbekannt und bestenfalls eine leicht zu überlesende Fußnote im längst vergriffen Übersichtswerk irgendeines eines auch schon längst vergessenen Spezialisten für pragerdeutsche Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.

Schriftsteller ist also nicht, wer vom Schreiben (gut) leben kann, wer mit dem Schreiben erfolgreich ist, wer überhaupt gelesen wird. Schriftsteller ist, wem das Schreiben Lebensinhalt ist. Eine solche Bestimmung sagt freilich nichts darüber, ob einer denn auch ein guter Schriftsteller ist oder nicht. Denn das ist eine ganz andere Frage.

Raimund Bahr Replik | Zum Paradoxon der schriftstellerischen Existenz | Literart Heft 25 | Seite 9 | [lesen]

Stefan [Broniowski]


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