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Wenn das Vertraute fremd wird | Rezension

Alla Leshenkos Buch »Von Wespen und Raubfröschen« überrascht, es beginnt mit einer Beerdigung, endet mit einem Selbstmord und ist doch libidinös. Bei den ProtagonistInnen handelt es sich zumeist um Frauen, die im alltäglichen Leben diverse Herausforderungen und Abenteuer überstehen müssen, was nicht immer gelingt. Über der Alltagswelt lagert eine zweite Welt, die aus Imaginationen besteht und ein Eigenleben entwickelt. Ich sehe in Alla Leshenko eine begabte Erzählerin, die von sich sagt, mal aus Usbekistan, mal aus der Ukraine zu stammen. Die sprachliche Integration der jungen Dame mit den Zügen einer Femme fatale, die freilich auch Mutter zweier Kinder ist, ist mehr als gelungen. Allas Sprache ist ausdrucksstark, fantasiereich, zuweilen famos und kennt die Ironie. Das verwundert, wenn man bedenkt, dass die deutsche Sprache für sie eine Zweitsprache ist. Ich muss an Wladimir Kaminer denken, über dessen Lesungen und Bücher ich in Düsseldorf Feuilletons verfasste. Aber die Richtung ist eine andere. Im Gegensatz zu Kaminer lässt Leshenko alles Russische hinter sich. Witzig, geistreich und temperamentvoll ist sie freilich doch. Ihre Erzählungen spielen im Westen, in Deutschland vor allem und in Düsseldorf. Was Leshenko schreibt, lässt an die Erzählungen eines Stephen King und die Filme eines Stanley Kubricks denken. Wie gesagt ›denken‹; es geht in diese Richtung. Leshenko wird sich als Autorin längerfristig noch beweisen müssen.

Der Erzählband von »Wespen und Raubfröschen« hat die Kraft, einem den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Das Vertraute und das Andere überlagern sich. Die Geschichten beginnen realistisch, doch die Szenerie wandelt sich nach und nach. Das eigene Unbewusste, in dem sich Ängste und Hoffnungen durchdringen, stiftet surreale Parallelwelten, in denen sich oftmals schlimmstmögliche Wendungen ereignen. Beispielsweise in der famosen Schlüsselerzählung »Mitfahrgelegenheit«. Eine vivide junge Dame, Francesca Wagner, geborene Eramo, unlängst geschieden, vom Freund getrennt, entscheidet sich für eine Mitfahrgelegenheit, um von Düsseldorf aus nach Hamburg zu gelangen. Dort wartet ein wohlhabender IT-Unternehmer auf sie, mit dem sie ein neues Leben beginnen will. Francesca fährt als junge Frau los und kommt als alte, körperlich ausgelaugte und gebrochene Frau in Hamburg an, die vom Freund nicht mehr erkannt wird. Eine Fantasiegeschichte mit horrenden Zügen; surreale Welten und »Schwarze Romantik« wirken nach.

noll bild In dieser merkwürdigen Erzählung »Mitfahrgelegenheit« verwandelt sich die Fahrerin des Porsches, Jolantha, zu Jo Lan Tha verfremdet, allmählich zur Super-Wespe, während der Porsche zum Raubfrosch wird. Nicht nur Francesca, viele Mitfahrer, Frauen und Männer werden auf beängstigende Weise eingesammelt und in ein albtraumartiges Gebäude ‒ ein gigantisches Wespennest ‒ gebracht. Dort werden sie einem Koloss von Wespenkönigin, der unaufhörlich Nachwuchs erzeugt, geopfert, in welchem sie als menschliches Nahrungsmittel dienen und ausgesaugt werden.

Wenn man träumt, dass man träumt, ist man dem Aufwachen nahe, bei Leshenko aber nicht. Man/frau wacht zwar auf, aber nur um in den nächsten Albtraum zu geraten. Der Freund in Hamburg erkennt die um Jahre gealterte Francesca nicht mehr ... Nach Düsseldorf zurückgekehrt, zerschlägt sie ihr Spiegelbild. Sie nimmt ein scheinbar entspannendes Bad, wird dabei auf ihre Kindheit in Italien zurückgeworfen und gerät prompt in den nächsten surrealen Albtraum. Von den Glassplittern verletzt, verblutet Francesca in der Badewanne. Unfall oder Selbstmord? Beides ist möglich. Nur schrecklich? Keineswegs! Der Erzählton ist abgründig libidinös, die Fäden sind vielfach verstrickt, die Spannungsbögen sind straff und halten den Leser/die Leserin bei Laune.

Der Band enthält acht Erzählungen. In »Der Neue« steht in einem kleinen Ort ein Haus zum Verkauf. Man ist sehr gespannt, wer das Haus erwerben und einziehen wird. Es ist ein eher unscheinbarer Mann mittleren Alters, der das Haus nach seinen Wünschen renovieren lässt und in schneller Folge wechselnde Dienstleistungen anbietet: »Georg Brassel, Ihr Fachmann für esoterische Heilkunde«, »Modelagentur Georg Brassel. International Model Management« oder »Ausgefallene Geschenkideen. Inhaber: Georg Brassel.« Kurzum, mehrere Frauen des Ortes verschwinden nach und nach in diesem Haus der Verwandlungen und der inneren Dämonien. Sie sind weg, bis auf Patrick, der in einer Nebengeschichte zu Patricia wird, die ein Leben als Frau führt, bis sie ihre Kindheitserinnerungen plötzlich wieder als Patrick erlebt. Tja, einigermaßen verblüfft erinnere ich mich an Friedrich Schlegel und dessen Konzeption eines »reizenden Verwirrungsrechts«; in Analogie zum ›romantischen Verwirrungsrecht‹
lasse ich der Autorin gern ein ›postmodernes Verwirrungsrecht‹ zukommen, das am Ende zur Aufklärung und/oder Selbstaufklärung führt.

Der Platz für Buchbesprechungen ist begrenzt, aber in allen Erzählungen geschieht Besonderes, in »Ich folge dir« erlebt der Leser eine heidnische Dämonenaustreibung und in »La Fleur du mal« füttert ein Junge eine purpurschwarze Blume, bis er von dieser verschlungen wird. Trotz der surrealen Geschehnisse wirkt Leshenkos Sprache realistisch genau, ist von imaginativer Kraft, streift zuweilen die poetische Dimension, wenn am Anfang der Erzählungen ein »libellenartiges Geschöpf« als »kindliche Frau mit lichtdurchlässigen Flügeln« beschrieben wird: »Ihr winziges Antlitz zeugte von einer überirdischen Schönheit. Es schimmerte in einem matten Perlenglanz, so zart wie das Blatt einer Jasminblüte. Die langen, lockigen Haare des Wesens sahen genauso aus, wie Sofie es sich stets vorgestellt hatte. Auch die Farbe stimmte mit ihrer Fantasie überein: die des Akazienhonigs.«

Das Werk enthält subtile Illustrationen und digitale Grafiken von Peter Schildwächter, die eigens zu den Erzählungen geschaffen worden sind. Das lässt eine kongeniale Zusammenarbeit erkennen.


Das Buch ist in der Edition Schildwächter erschienen: Alla Leshenko, Von Wespen und Raubfröschen. Mit Illustrationen von Peter Schildwächter, Norderstedt 2023.

Wulf [Noll]


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