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Spaziergänge in Florenz | Teil 4
Geh deinen Weg und lass die Leute reden!
Dante Alighieri
San Marco hat sein dunkles Geheimnis, in San Marco sind sich Himmel und Hölle nah. Vom Himmel zeugen Beato Angelicos Fresken, von der Hölle zeugt Girolamo Savonarola. Der eine produziert himmlische Erlösungen, der andere verfiel als Prediger höllischen Strafgerichten. Angelicos berühmtestes Werk in San Marco ist das Fresko Verkündigung an Maria (um 1440 entstanden). Handelt es sich um Renaissance oder um hohes Mittelalter? Hohes Mittelalter in der Renaissance; zum Sujet kommt erstmals die Perspektive auf einer räumlich erfassten Fläche dazu. Der verkündende Engel und Maria erscheinen als schöne Gestalten in feiner Manier gemalt.
Dann mache ich die Entdeckung, dass es sich um ein Flaneur-Bild handelt. Unter dem Fresko gibt es eine lateinische Inschrift die Anweisung, dass man beim Vorbei- und/oder im Vorübergehen, also beim Flanieren, das Ave Maria nicht vergessen soll: »VIRGINIS INTACTE CUM VENERIS ANTE FIGURAM PRETEREUNDO CAVE NE SILEATUR AVE«. Der Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman ‒ klingt wie Übermann also wie Übermensch (Nietzsche) ‒ hilft bei der Übersetzung: »Wenn du vor die Figur der unberührten Jungfrau kommst, gib beim Vorbeigehen acht, dass du das Ave nicht stillschweigend übergehst« ... In meinem Geist beginnen die gemalten Maiglöckchen zu schwingen und zu läuten: »Ave Maria, gratia plena …«. Der Blick auf Mitsue normalisiert mich wieder. Dennoch ist ein dreifaches Wunder geschehen: (1) Mir fällt als Nicht-Katholik das Ave Maria ein, (2) die Maiglöckchen ertönen und (3) Mitsues tiefgründige Augen leuchten hell auf. Dieses Aufleuchten lässt an die Sonnengöttin Amaterasu denken. Wir stehen Hand in Hand vor dem Fresko Fra Angelicos. Für einen Moment befinden sich eine heilige und eine weltliche Femme fatale nahe beieinander.
Der verkündende Engel sieht um einiges pfiffiger als die scheinbar lammfromme Maria aus ... Die Flügel des Engels lassen die berühmten »Regenbogenfarben« erkennen … Na ja, fast! Hinsichtlich des Farbspektrums habe ich mich ein wenig geirrt, aber ich bleibe dabei. Der Regenbogen ist das zweite Verkündigungsmotiv. Das erste, die Jungfrauengeburt, hat Frau Angelico des Öfteren gestaltet: 1426 Öl auf Holz, derzeit im Prado in Madrid ausgestellt, sowie auf dem Altarbild von Cortona (1433/34). Auf dem Altarbild redet der Engel Maria auf Latein an und sagt, hier vornehm auf Deutsch wiedergegeben: »Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.« Die Antwort Marias, der Demütigen, ist ein Satz, der auf dem Kopf steht. Ins Deutsche übertragen: »Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort.« Der Satz wurde auf diese kuriose Weise hingemalt, damit der »Herrgott« das von oben aus besser lesen könne.
Ironisch geneigt, überlege ich, ob diese Technik unsere Kommunikation beflügeln würde. »Ma Belle«, raffinierter als ich, schreibt manches in Spiegelschrift und amüsiert sich über meine Enträtselungsversuche. Das können wir später klären, wir wollen San Marco erkunden ... Die winzigen Klosterzellen der Mönche, auf die wir beim Weitergehen stoßen, wirken deprimierend. Sie sind das krasse Gegenteil von Renaissance. Die sieben oder acht Quadratmeter kleinen Zellen ‒ mit einem Fresko Fra Angelicos und einem Fensterchen in der Wand ‒ lassen vergeblich auf himmlische Wunder in einem »klösterlichen Gefängnis« warten ... Meine Grundstimmung ist die Ironie. Mir fällt kein besserer Vergleich ein, ich denke an mögliche K-Varianten. Da gibt es einige: Kloster, Kunst, Klosterzelle. Und die Klosterzelle wird zur himmlischen Kerkerzelle.
Wie auch immer, Fra Angelico (1395/99-1455) und Savonarola (1452-1498) in diesem Kloster vereint, das passt nicht zusammen. Die Welt des sanften, glückseligen Mönches war friedlich, die Gegenwelt des Hasspredigers, Gotteskrieger und religiösen Fanatikers Savonarola war gewalttätig. Er predigt das Gegenteil von Renaissance. Der »schreckliche Moralist«, Moralisten sind immer schrecklich, ist ein Gegenbeispiel für Aufklärung und »fröhliche Wissenschaft«. Erst Lektor, dann Prior in San Marco, terrorisierte der endzeitlich gestimmte paranoide Mönch mit seinen Banden und Garden fast vier Jahre lang Florenz. Von der »wahren Religion« inspiriert, war besonders die Familie de' Medici für Savonarola der Brennpunkt der Verderbnis. Seine (!) »christliche Kulturrevolution« nannte er (!) »Volksherrschaft«, die auf Rom und auf die anderen italienischen Machtzentren ausgedehnt werden sollte.
Die »Volksherrschaft«, während derer man aufs »Jüngste Gericht« wartete, dauerte an die vier Jahre. Die Zeit kann man sich in den Jahren 1494-1498 so vorstellen: Tausende von desorientierten Gläubigen drängten Tag für Tag in den überfüllten Dom, um sich von Savonarolas dunklen Visionen inspirieren zu lassen. Seine Banden, halbwüchsigen Vandalen, »Kinderpolizei« (fanciulli) genannt, war es erlaubt, in die Häuser der Stadt einzudringen und unnütze Dinge zu zerstören, wozu »Schminktöpfe, Spiegel, Perücken, reiche Kleidung, Gemälde von nackten Gestalten« gehörten. Wer sich weigerte, auch wer keine Almosen gab, wurde weich und willig geprügelt.
»Macht ein Feuer, das ganz Italien ergreift!« Das war Savonarolas Vision, das war sein Wunsch. Auf der Piazza della Signoria loderte ein gewaltiger Scheiterhaufen. Im vorauseilenden Gehorsam warfen die Leute Kleider, Perücken, Bücher, Musikinstrumente und Gemälde hinein … Erst brennen Bücher, dann Menschen. Huren, Gotteslästerer, Homosexuelle … waren zu bekehren. Man brandmarkte Homosexuelle; im Wiederholungsfall wurden sie verbrannt ... Aber die »Volksherrschaft« war nicht die katholische »Inquisition«, die in vielen anderen Ländern wütete. Es war eine religiös motivierte Revolution, eine kämpferische Früh-Reformation vor Luther. ‒ Savonarolas Herrschaft erreichte im Februar 1497 den großen Sandro Botticelli, den wahren Renaissancekünstler, den gefeierten Maler der Medici, der wenige Jahre zuvor mit seiner »Geburt der Venus« das erotische Universum der Renaissance mit erschaffen hatte. Jetzt liefert er »freiwillig« den mönchischen Banden seine Bilder aus, wenn auch nicht die besten ... Savonarola kannte nur eine Antwort, die Werke sollen auf der Piazza della Signoria brennen, brennen, brennen.
Da der eifernde Mönch seine »Volksherrschaft« ausweiten wollte und sich gegen Rom und den Papst gewandt hatte, wurde er vom Borgia-Papst Alexander VI. als »Ketzer und Verächter des Heiligen Stuhles« exkommuniziert. Der Widerstand gegen Savonarola nahm zu. Im April 1498 stürmte eine Menschenmenge das Kloster San Marco; im Namen des Rats von Florenz setzt man Savonarola als exkommunizierten Ketzer fest und verurteilte ihn zum Tode. Mit zwei anderen mönchischen Rädelsführern wurde der Dominikaner am 23. Mai 1498 auf der Piazza della Signoria, auf der er ein Jahr zuvor das »Fegefeuer der Eitelkeiten« entfacht hatte, erst gehenkt und dann selber verbrannt. Die Asche übergab man dem Arno.
Religiöses Absurdistan …, kommt in der islamischen Welt im 21. Jahrhundert noch vor ... Im Kloster San Marco ist das historische Vergangenheit: man/frau blickt schaudernd in die Doppelzelle Savonarolas hinein. Schließlich erreicht man eine kleine »Gedenkstätte«. Gedenkstätte? Manchen Leuten gelten die Schriften und Predigten des aufgeregten Mönchs als reformatorisch. Falls Savonarolas Geist im Kloster noch ein wenig spukt, dürfte er mit der Zeit hinreichend aufgeklärt worden sein. Es ist nie zu spät. Für Aufklärung sorgen die freien, freizügigen und heiteren Touristinnen, die nicht selten aus Ostasien kommen. Die sommerlich leicht bekleideten Damen sind renaissancehafte Erscheinungen, die Busen, Taille und Po erkennen lassen. Eine florentinische Venus steht neben einer chinesischen, eine indische Venus schmiegt sich an eine japanische ... Die Damen posieren vor Savonarolas Büste fürs Selfie mit nach oben erhobenen Arm und Victory-Zeichen sowie mit unwillkürlich-willkürlich herausgestreckten Brüsten, als wollten sie den »Gotteskrieger« und Schönheitsgegner zum x-ten Mal persiflieren und an der langen Nase herumführen … Der Mönch gerät durch die Jahrhunderte von einer Verwirrung in die nächste, bis er, ich meine seinen Geist, hinreichend entspannt und aufgeklärt ist, denn die humane und unabschließbare Aufklärung schließt niemanden aus.
Die alte Lustfeindlichkeit haben wir durch eine neue Lustfreundlichkeit ersetzt; nicht jeder scheint das zu schaffen; die Mickerigkeiten und Verleumdungen nehmen nur andere Dimensionen an. ‒ Meister Dante wurde seinerzeit kräftig verleumdet. Wobei wir beim Thema sind. Das Dante-Haus wartet auf uns; es ist ein kein schwieriger Ort … Ich flaniere mit Beatrice, ach was, ich flaniere mit »ma Belle« zu einem bescheiden wirkenden mittelalterlichen Haus, Casa di Dante. Echt mittelalterlich ist das Haus leider nicht; es wurde im frühen 20. Jahrhundert an der Stelle rekonstruiert, an der man das Geburtshaus des großen Dichters im 13. Jahrhundert vermutete. Die stille Via Dante Alighieri ist ein sehr kleines, romantisches Gässchen, in dem man seine Gedanken gut sammeln kann.
Vieles, was mit dem Dichter zusammenhängt, besteht aus Mutmaßungen, vom Geburtsdatum, über die Ausbildung, bis hin zu den wechselnden Orten im Exil. Dante (1265-1321) war ein respektabler Bürger in der Stadtrepublik Florenz, dem Stand der Apotheker und Ärzte zugeordnet. Er gehörte verschiedenen Räten an und war zuletzt im höchsten Gremium der Stadt, dem Priorat, vertreten. Am Ende ging die Sache mit der Politik schief; Dante stand auf der Seite der papsttreuen Guelfen, der weißen, es gab schwarze. Die Gegner beider Guelfen waren die kaisertreuen Ghibellinen. Aber jemand musste Dante und die weißen Guelfen verleumdet haben, indem man ihnen geheime Verbindungen zu den Ghibellinen vorwarf. D. wurde daher in einer Zeit der Wirren und Aufstände mit anderen hochrangigen weißen Guelfen im Jahr 1302 zum Tode verurteilt, durfte aber als hochrangiger Vertreter der Stadtrepublik ins Exil gehen. Das kam einem symbolischen Tod gleich. Sokrates, dem Freund der Jugend, war es in Athen einst ähnlich ergangen. Doch der Philosoph als Verächter des Lebens und der Athener Obrigkeiten, trank den Schierlingsbecher aus: »Böse Stadt Athen…«
»Böse Stadt Florenz…« Nachdem gut ein Jahrzehnt verstrichen war, erinnerte man sich in Florenz des werten Bürgers und wollte Dante Alighieri, der sich keiner Schuld bewusst war, gern vergeben, wenn er sich mit einer kleinen Abbitte und einer stattlichen Geldsumme an die liebe Vaterstadt wenden würde. Der Dichter lehnte das kleinzügige Angebot ab, woraufhin ihn die alten Narren anno 1315 gleich nochmals zum Tode verurteilten und seine Söhne gleich mit … Was für ein entmutigend blödsinniges Kapitel. An jeder Ecke Verfolger, Verleumder, Hasser, Verächter. Reumütig zu Kreuze zu kriechen, das passte schlecht zum erhabenen Komödianten, denn Dante verfolgte, seitdem er sich an wechselnden Stätten und schließlich in Ravenna im Exil aufhielt, seine geistesgeschichtliche Hauptidee und arbeitete an einer großen KOMÖDIE, in welcher er nicht nur die Republik Florenz, sondern halb Europa in die Hölle steckte, aber um sehr vieles geistreicher als der spätere beschränkte Eiferer Savonarola, der das selber glaubte, was er dachte. Dante war ein großer Dichter.
Die nächste Generation in Florenz war geistig fortgeschrittener und offenherziger; man wollte künstlerische und literarische Avantgarde in Europa sein. Der Florentiner Giovanni Boccaccio (1313-1375) sollte herausfinden, was in Dantes KOMÖDIE wirklich steckt. Boccaccio war vom Werk begeistert; er begann mit einer öffentlichen Lesung aus der Komödie. Sein Lob konnte nicht kongenialer ausfallen, er nannte die Komödie GÖTTLICH. Und seitdem heißt das Werk, die »Commedia«, so: »Divina Commedia«, und ihre Rezeption ist auch im 21. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen.
Die GÖTTLICHE KOMÖDIE ist so etwas wie eine poetische Universalie, in welcher die Summe einer Zeit eingefangen wurde. Gegner, Feinde, Narren, Hasser, Freunde … in der Hölle. Dante selbst tritt in seiner »Komödie« stolz als Dante auf, wozu hat man/frau einen Namen? Der Meister erscheint als eine tiefschürfende Komödienfigur, von Vergil durch die Hölle und von Beatrice durchs Fegefeuer in den Himmel geführt ... Während Dantes liebste Gegner in der Hölle schmachten, schreitet der Meister mit der hübschen Seelenführerin durchs reinigende Fegefeuer immer höher hinauf, bis er die Gefilde der Seligen erreicht und ins Paradies gelangt ... Wer jetzt denkt, ich sei Danteforscher geworden oder wolle einer werden, der irrt ... Diese gewaltige Aufgabe überlasse ich anderen: nämlich im Paradies zu schmoren und sich in der Hölle zu erheitern.
Mitsues und meine Paradiesvorstellung stimmen mit der von Dante nicht überein ... Wir sind um vieles freier und haben die Liebesverhältnisse polyamor entspannt. Den Schluss der Komödie halten wir für wenig renaissancegerecht. Statt in Beatrices Armen landet Dante – oder dessen Komödien-Ich – in den Armen von Bernhard von Clairvaux!!! Na, wenn das so ist, wenn es anders nicht geht, dann gehört er dorthin ... In Catulls Armen wäre erfreulicher ... Wir könnten Dante auch Boccaccios Armen anvertrauen. Boccaccio hat den Dichter nicht nur mit bewegten Worten freigesprochen, sondern das Erzählwerk DECAMERONE setzt auf gewisse Weise das Versepos »Göttliche Komödie« in irdische Novellen aufgelöst fort. Aus Dantes »hundert Gesängen« werden bei Boccaccio »hundert Novellen«, von sieben (jungen) Frauen und von drei jungen Männern, die abwechselnd Königin und König spielen, recht anschaulich, prächtig und renaissancegerecht erzählt.
Meister Dante war noch nicht so weit: Seine schöne Beatrice löst sich bei ihm im dritten Rang der Heiligen unterhalb der Erdmutter Eva und zu Füßen der Gottesmutter Maria in eine der mystischen Rosen auf, während an ihrer Stelle, wir erwähnten es, überraschend und unerwartet der heilige Bernhard von Clairvaux erscheint. Die angekündigten Betrachtungen und Belehrungen führt Dante glücklicherweise nicht mehr aus, sonst verfielen seine Philologen und Interpreten vollends einem hundertjährigen Dornröschenschlaf, dem sie ohnehin verfallen sind ... Statt Beatrice liebt Dante die scheinbar unsterbliche Seele Bernhard von Clairvaux', der Meister narrt sich selber ... Nur zum Tode verurteilte Dichter oder Philosophen, welche die nächsten Tage oder Wochen nicht mehr erleben werden, schaffen das, wie Boëthius (480/85-524/26), der sich mit »Sophia« vermählt und sein Buch »Trost der Philosophie« hinterlässt.
Heutzutage, da der metaphysische Himmel verschwunden ist, geraten alle geschichtlichen und zukünftigen Personen zu Recht in die »symbolische Hölle«, die aufrichtigen Skeptiker und die unaufrichtigen Apologeten, die hellsichtigen Dekonstruktivisten sowie die geistig umdunkelten Zahlenmystiker ... Die Alten, die Neuen und die Neueren ... Die großen und die etwas kleineren Meister, das dichterische Ich und die erfundenen »engelsgleichen Geliebten«. Von Meister Dante geführt, geraten alle ans »Höllentor«, der Meister allerdings auch:
Ich führe Dich zur Stadt der Qualerkornen,
Ich führe dich zum wandellosen Leid,
Ich führe dich zum Volke der Verlorenen.
Ihn, der mich schuf, bewog Gerechtigkeit,
Mich gründete die Macht des Unsichtbaren,
Die erste Liebe und Allwissenheit.
Geschöpfe gibt es nicht, die vor mir waren,
Als ewige ‒ und ewig daur' auch ich.
Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren.
Als der große Philosoph und Religionskritiker Ernst Bloch diese Zeilen las, dachte er: »Mein lieber Dante, es muss doch anders gehen!« Bloch fand eine sehr gründliche Konzeption für die drei Riesenbände des »Prinzips Hoffnung«, so dass ihm, aber auch mir, der ich das »Hoffnungsprinzip« verinnerlicht habe, die Höllendrohungen Dantes nichts anhaben können. Die Atmosphäre im Dante-Haus ist zudem nicht wirklich bedrohlich. Das »mittelalterliche« Gebäude kommt bloß auf drei winzige Etagen, durch welche bildungshungrige StudentInnen ostasiatischer Herkunft huschen. Das Haus, welches verdeutlicht, dass wir heutzutage besser als in der Dante-Zeit leben, ermöglicht mit Dokumententafeln und Bildern einen eingeschränkten Blick. Für die BesucherInnen ist das positiv, weil sie von der ins Überdimensionale angewachsenen Danteforschung nicht erdrückt werden und ihre hoffnungsfrohen Tage in Florenz nicht mit Kopfschmerzen verbringen müssen.
Ein gewisser Argwohn ist zurückgeblieben; womöglich trauen die Florentiner ihrem Dante noch immer nicht ganz. Bin ein wenig erstaunt, warum die nach wie vor sehr reichen Florentiner so knauserig sind und ihrem Dante als Museum keinen Palazzo gebaut haben. Ja, nicht einmal die Universität ist nach ihrem berühmt-berüchtigten Sohn benannt worden. Die Universität heißt schlicht Università degli Studi di Firenze, was genau genommen bedeutet, dass sie überhaupt keinen Namen trägt.
Genug Dante für heute; es war meine Absicht, dem Meister kurz meine Referenz zu erweisen und etwas über Dichter und ihre Vaterstädte zu Papier zu bringen. Das Kapitel bleibt kritisch; nur wenige Vaterstädte erfreuen sich ihrer künstlerischen Söhne, wie umgekehrt die Söhne ihrer Vaterstädte, wenn nicht gar Vaterländer … Die Stadt Ravenna, die ihrer Bedeutung nach mit Florenz konkurriert, hält daher zu Recht bis heute die Gebeine Dantes zurück, denn Dante, viel zu früh verstorben, liegt dort begraben, weshalb man in Florenz in der Grabkirche Santa Croce zwar auf die Gräber und Grabmale von Michelangelo, Galileo Galilei und von Machiavelli…, aber nicht auf das Grab Dantes trifft. Man stößt nur auf ein übergroßes Kenotaph, ein leeres Grab, in dem ist nichts drin.
Der heiße Tag war anstrengend; weder im Kloster San Marco noch im Dante-Haus gab es eine Klimaanlage. Jetzt genießen wir im Palazzo Bari-Guicciardini die gekühlte Luft. Vielleicht machen wir heute Nacht das, woran wir gestern nur gedacht haben und verbringen den Abend im Dolce Vita und im Escape Club, diesmal umgekehrt, Mitsue im Dolce Vita und ich im Escape, obschon das Ergebnis ähnlich ausfallen wird, »ma Belle« hat die größeren Chancen. Eifersucht haben wir uns längst abgewöhnt. Die Zauberworte heißen Einfühlung und Mitempfinden. Der sinnlich-geistigen und geistig-sinnlichen Erneuerung folgend, verbinden wir unser Leben mit der freien und schönen Renaissance (Rinascimento) und mit einer ebenso freien und schönen Polyamorie…
Wulf [Noll]
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