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Ein einziges Wort noch

Ich weiß es nicht, das sind die einzigen Worte, die mir dazu einfallen, und ich wälze sie in meinem Gaumen wir ein saures Bonbon. Am Ende klebten mir Zähne und Lippen zusammen. Es war die Namenlosigkeit, die mir zu schaffen machte, die mich richtiggehend (ja, so sagt man) fertigmachte. Da läuft man ein Leben lang durch die Gegend und wird nur mit He, du! oder Sie da! angeredet. Doch damit nicht genug. Wie soll man denn sich selbst anreden, sinnstiftende Selbstgespräche führen? Einen Zugang zu sich finden (ja, so sagt man).

Klar, die Neunmalklugen werden einen beschwichtigend auf die Schulter klopfen und sagen: Selbstgespräche sind ungesund und kein sinnvoller Beitrag für diese Welt. Man sollte sich mit echten, mit globalen Problemen auseinandersetzen, statt mit sich selbst Konferenz zu halten. Wozu also ein Name? Namen sind in heutiger Zeit nicht mehr effizient. Sie sind nicht systemrelevant (ja, so sagt man). Wenn man aber unbedingt meint, mit sich selbst reden oder sich in der Öffentlichkeit mit Namen hervortun zu müssen, dann reicht X, 1420, JVC oder weiß der Geier was.

Hab' ich's schon gesagt? Ich hasse die Neunmalklugen, die Experten mit ihren ganzen neunmalklugen Titeln. Diplomingenieur, Doktor, Mag. art. etc., etc. Die haben doch keine Ahnung, wie es ist, keinen Namen zu haben.

Wie keinen Namen, das gibt's doch nicht.
Doch, das gibt's.
Aber deine Eltern.
Welche Eltern?
Aber du hast doch Eltern?
Nein!
Was, nein!

Ich habe keine Eltern, ergo habe ich keinen Namen. Jedenfalls kann ich mich an keine Eltern erinnern, und mein Erinnerungsvermögen ist nicht schlecht. Ich war einfach da, verstehst du, als wäre ich durch ein Wurmloch in diese Welt hineingeworfen worden, daß ich nur sagen konnte: Da! Das war übrigens das einzige, das ich dazu sagen konnte. Lautstark, verstehst du? Da! Himmelherrgott noch mal! Und kaum hab’ ich Da! gerufen, laut und öffentlich, war’s mir, als wäre die Welt vor mir einen Schritt zurückgetreten. Puh, hat die Welt gesagt, das ist schon heftig, mit so einem wollen wir nichts zu tun haben, der einfach Da! sagt wie ein sabbernder Säugling. Seitdem bin ich allein, und ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin, ich weißt es schlichtweg nicht. Schlichtweg: sagt man das heute noch? Aber das interessiert keinen, wie ich hergekommen bin, ob ich bin oder nicht, das ist den Wissenden relativ egal (relativ sagt man heute gerne, oder?). Wär’ ich eloquent, hoho!, dann würde sich die Welt für mich interessieren, sie würde einen artigen Knicks vor mir machen, wär ich eloquent, lautstark, verstehst du, öffentlich und offiziell, dann hätte ich einen verdammten Namen, verstehst du, aber so? Keiner interessiert sich für einen Unwissenden, für einen Namenlosen, für einen Sprachlosen, der nur Da! sagt, immer nur Da! sagt, in allem, was er sagt, sagt er immer nur Da! Jedenfalls hört man immer nur Da!

So ist es gekommen, daß sich mein Mund verklebt hat. Meine Unwissenheit hat meine Lippen versiegelt. Es gibt nichts zu sagen. Vielleicht kommt noch ein letzter Ruf, wenn ich noch einmal meinen Mund aufmachen könnte, weil meine Zunge schon brennt, ein Ruf, der da lauten könnte: Weg! oder Nichts! oder Alles! Ein Wort, das meinen Rachen aufreißt und sich aus einer namenlosen Tiefe herausschleudert, die Welt mitreißt und die Wissenden sprachlos macht. Nur ein Wort, das Millionen anderer Worte niedermäht wie eine Sense mit gewaltigem Schwung. Vielleicht heißt das Wort Liebe. Das wär’ was! Ich wünsche mir, daß meine elternlose Unwissenheit, meine Wurmlochgeburt ein bestürzendes Wort gebiert, das die Welt wieder unwissend macht, das die Wissenden auf die Knie fallen läßt. Ein Wort, das Namen gebiert, echte Namen. Was braucht man Eltern, in Gottes Namen, um zu sein. Ich bin ein Kind des Himmels. Was braucht man ein Wissen, wenn man die Welt mit einem einzigen Wort sprachlos machen kann. Für einen Augenblick zumindest.

Rolf [Seyfried]


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