In Zeiten der Solidarität
Juliane Schumacher [Platz 2]

Im November 1970 kam Salvador Allende in Chile an die Macht, und in den drei Jahren, bis sein Versuch eines demokratischen Übergangs zum Sozialismus gewaltsam beendet wurde, reisten junge, linksgerichtete Menschen aus der ganzen Welt nach Chile, um diesem Experiment beizuwohnen. Eine Handvoll dieser Chile-Reisenden gründete im Juni 1973 die Chile-Nachrichten als Austausch- und Informationsorgan der Chile-Kommittees, die sich in vielen Städten im deutschsprachigen Raum gegründet hatten. Als am 11. September 1973 das Militär den Präsidentenpalast La Moneda in Santiago de Chile bombardierte und das Land innerhalb weniger Wochen in eine blutige Militärdiktatur verwandelte, wuchs nicht nur die Redaktion stark an, sondern auch das Interesse an den Vorgängen im Land. Die Auflage der Zeitschrit stieg auf mehrere tausend, Drucker-Kollektive stellten sie in Nachtarbeit her; kurz nach dem Putsch gab es über 1000 Solidaritätskommittees und schon am 15. September eine "Europäische Koordination für die Solidarität mit Chile". Die Solidarität mit jenen, die – vergeblich, wie wir heute wissen – im Land und außerhalb gegen den Putsch ankämpften, beschränkte sich nicht auf Gruppen der radikalen Linken, sie reichte weit in die Gesellschaft, in die katholische und evangelische Kirche, Gewerkschaften, in Parteien bis ins konservative und liberale Spektrum hinein.

Fast vierzig Jahre später stürzten erst in Tunesien, dann in Ägypten und Libyen aufgebrachte Protestierende langjährige Diktatoren. Zu jener Zeit war ich Redakteurin jener Zeitschrift, die einst aus Solidarität mit den chilenischen Bewegungen gegründet worden war, und die – inzwischen unter dem Namen Lateinamerika-Nachrichten – sich zwar noch als kritisch-solidarisch, vor allem aber als journalistisch seriöses Medium verstand. Zu jener Zeit formierten sich auch in den USA, in Spanien und Griechenland neue Bewegungen, junge Protestierende besetzten die Wall Street, die Indignados fluteten die Plätze von Barcelona und Madrid. Aber die Kontakte zwischen den Bewegungen blieben gering. In Ägypten verfolgten die jungen Revolutionäre die Ereignisse in Spanien über Twitter, und dort hielt manchmal ein:e Demonstrant:in ein Plakat hoch, das sich auf den Tahrir-Platz in Kairo bezog. Beobachter:innen analysierten die Proteste im Tunesien und Ägypten als Teil eines arabischen Frühling, als Zeichen eines demokratischen Erwachens und des Widerstands gegen korrupte Eliten; die Proteste in Südeuropa als Folge der Euro-Krise, und Occupy Wallstreet als Reaktion auf die Finanzkrise und die wirtschaftlichen Verwerfungen, die sie in den USA ausgelöst hatte. Die Bewegungen im Land setzten dem nichts entgegen – sie waren beschäftigt, die Plätze zu halten, die sie besetzt hatten. Internationale Treffen mit Vertreter:innen der verschiedenen Proteste gab es nicht, keine gemeinsamen Zeilen und Protestsongs, die die Protestierenden teilten und Künstler:innen sich gegenseitig widmeten, wie in den 1970er Jahren die Liedermacher:innen der internationalen Solidaritätsbewegungen, von Sheikh Iman bis Victor Jara. Keine Solidaritätskommittees, Reisen und Spendensammlungen, weder während der kurzen Aufbruchszeit im Jahre 2011, noch als 2013 das Militär in Ägypten putschte und Präsident Assad den Aufstand in Syrien blutig niederschlug. Gruppen wie Adopt a Revolution, die syrische Basisorganisationen unterstützen, blieben Ausnahmen und wandelten sich bald zu professionellen NGOs. Einzig die Kämpfe im Norden des Iraks strahlten bis nach Europa aus, doch die Solidarität mit Rojava blieb auf die radikale Linke beschränkt. Die meisten Beobachter:innen blieben Beobachter:innen, die Ereignisse fern von ihnen verfolgten, manchmal auch unterstützten, Ereignisse, die mit ihren eigenen Lebenswirklichkeiten nichts zu tun hatten, wenn nicht gerade Flüchtende aus den Ländern der Aufstände nach Europa kamen.

Warum unterscheiden sich die beiden Geschichten so stark? Warum war der Gedanke von Solidarität, die Annahme, Teil eines gemeinsamen Kampfes zu sein, stärker in einer Zeit, als die Kommunikation und der Kontakt untereinander auf einer technischen Ebene viel schwieriger waren? Als Berichte noch über Telefon diktiert oder abgetippt und per Post verschickt wurden, als keine Videos über die Grausamkeiten eines Regimes über das Internet geteilt werden konnten? Warum bleiben die Kämpfe isoliert in einer Zeit, in der wir, so wird uns gesagt, stärker verbunden seien als jemals zuvor?

Dass die Globalisierung zumindest in Teilen ein Mythos ist, ein Mythos, der aus einer naiven westlichen Perspektive erzählt ist und die Geschichten von Vernetzung und Verbindungen anderer Zeiten und jenseits von Europa ignoriert und negiert, haben postkoloniale Denker:innen wie Arjun Appadurai und Paul Gilroy seit den 1990er Jahren deutlich gemacht. Vernetzung und Mobilität sind für die einen einfacher, für die anderen viel schwieriger geworden (noch in den 1970er und 1980er Jahren war es für junge Menschen aus Nordafrika und Lateinamerika ebenso einfach, für Reisen und Besuche nach Europa zu reisen wie für die jungen Europäerinnen umgekehrt – eine Tatsache, die uns heute, in Zeiten der großen Abschottung, so undenkbar vorkommt wie noch vor zweihundert Jahren den Menschen das Fliegen). Aber das Spiel der semi-permeablen Grenzen, der freien Warenströme und der eingeschränkten Bewegungen ist, möchte ich argumentieren, nicht der Grund, warum uns Solidarität heute so schwerfällt, so antiquiert vorkommt, ein Brauch, der, obwohl er, das verstehen wir, nötiger denn je wäre, uns so fremd geworden ist, dass wir Worte wie Internationalismus oder internationale Solidarität nicht mehr in Verbindung bringen mit dem, was wir denken und tun.

Solidarität ist ein altes Wort und ein altes Konzept, und es hat seine Bedeutung immer wieder verändert. Das ist kein Makel, das eröffnet im Gegenteil Raum für Analysen. Wie Raymond Williams das Verhältnis von Stadt und Land analysiert, nicht indem er die Zeiten unterscheidet, wo der Unterschied zwischen beiden betont wurde, und jene, wo dies keine Rolle spielte, sondern indem er herausarbeitet, was genau mit Stadt und Land jeweils verbunden wird, so lässt sich anhand des jeweiligen Verständnisses von Solidarität ablesen, wie politische Zusammenarbeit zwischen Menschen gedacht wird und wurde, und welche konkurrierenden Ansätze es zu einer Zeit in dieser Hinsicht gab. Solidarität in dem Sinn, wie sie die Grundlage der Solidaritätsbewegungen der 1970er und 1980er Jahre bildete, ist eine spezifisch moderne Erscheinung, sie ist verbunden mit der Durchsetzung des Kapitalismus und der Geschichte der Arbeiterbewegungen. Kritiker:innen haben moniert, dass eben diese – linke – Solidarität exklusiv sei, weil sie Solidarität aus einem gemeinsamen Hintergrund ableite, der Zugehörigkeit zu einer Klasse. Das Gegenteil ist der Fall. Solidarität in ihrem modernen Sinn war immer ein progressives Konzept, sie leitet sich nicht ab aus einer gemeinsamen Geschichte, sondern aus einer gemeinsamen Zukunft, nicht aus geteilten Erfahrungen, sondern daraus, dass man auf dasselbe hinarbeitet, für dasselbe kämpft.

Die meisten der jungen Menschen, die in jenen Jahren der Solidarität nach Chile oder Nicaragua gingen, taten dies nicht, um die 'Armen' dort zu unterstützen, um 'Entwicklungshilfe' zu leisten. Sie taten es, weil sie sich als Teil einer Bewegung verstanden, für den Sozialismus, den Kommunismus oder für was immer sie kämpften, eine Utopie, die notwendigerweise internationalistisch war. Der Kampf dort war Teil ihres Kampfes, und Länder wie Chile, so verstanden es viele, waren in diesem Kampf den europäischen Staaten voraus. Sie gingen dorthin um zu unterstützen, aber auch, um zu lernen – denn die Umbrüche, denen sie dort beiwohnten, so die Annahme, würden in Kürze auch in ihren Heimatländern stattfinden. Die Revolution war nur eine Frage der Zeit.

David Harvey hat die Durchsetzung des Neoliberalismus, die Anstrengung, die die Eliten ab den 1970er Jahren unternahmen, um das linke Momentum jener Zeit zu brechen, auch damit erklärt, dass sie die Ausbeitung jener revolutionären Situation keineswegs für unwahrscheinlich hielten: In Italien standen in den 1970er Jahren die Kommunisten kurz vor der Machtübernahme, die Finanz- und Steuerpolitik jener Jahre – in nahezu allen westlichen Staaten existierten Vermögenssteuern, der Spitzensteuersatz in den USA lag zeitweise bei 93 Prozent – führte zu einem allmählichen Einschmelzen der Vermögensunterschiede, in den meisten europäischen Staaten gab es Mehrheiten für eine Politik der Umverteilung, die auch die bestehenden Eigentumsverhältnisse antastete. Die Zukunft, die damals die Grundlage für Solidarität bildete, ist im Raum des Möglichgewesenen verblieben. Aber sie schien keineswegs so fern und unwahrscheinlich, wie es heute, nach 40 Jahren des neoliberalen Umbaus, den Anschein hat.

Im Mai 2020 tötete ein weißer Polizist in Minneapolis den Afroamerikaner George Floyd. Die Tat löste eine Welle von Protesten aus, nicht nur in den USA, sondern weltweit, Proteste auch von vielen Nicht-Schwarzen, die sich als solidarisch verstanden mit jenen, die von Rassismus betroffen sind. Die Proteste wurden, gerade in der linken Szene, begleitet von Diskussionen, die in den letzten Jahre auch in Bezug auf andere Formen der der Diskriminierung geführt wurden: Wer darf, wer kann mit wem solidarisch sein? Muss man dieselben Erfahrungen von Unterdrückung gemacht haben, damit echte Solidarität möglich ist? Können Weiße mit People of Color, Männer mit Frauen, Cis-Personen mit Queers solidarisch sein, wer ist ein Mann, eine Frau, wer Schwarz, wer queer, und wer entscheidet das? Diese Debatten können, warnen manche, zu Spaltungen führen, sie können, ins Extrem geführt, Solidarität unmöglich machen und in das Gegenteil einer progressiven Konzeption von gemeinsamen politischem Handeln kippen: Wenn Solidarität nur noch unter Gleichen möglich ist – was immer Gleiche sein mögen – so ist dies näher an einem konservativen Verständnis der solidarischen Gemeinschaft der Zugehörigen als an progressiven Konzeptionen; Solidarität ist dann nichts mehr, was sich gestalten, schaffen lässt, sondern durch einen gemeinsamen Ursprung bestimmt und beschränkt.

Diese Fragen können aber auch, auf die Zukunft gewendet, Ansatzpunkt für Überlegungen sein, die eine reflektierte Solidarität möglich machen. Sie können helfen, zu unterscheiden, ob wir solidarisch sind oder nur paternalistisch, ob wir aus Mitleid und Scham über unsere eigenen Privilegien helfen wollen – oder unser Handeln als Teil eines gemeinsamen Kampfes für einen bessere Welt verstehen. Pat Parker, afroamerikanische lesbisch-feministische Autorin, gab 1980 eine Rede auf dem Basta!-Kongress in Oakland, einer Konferenz von Frauen zu Imperialismus und Krieg. Parker spricht vor Amerikaner:innen der weißen Mittelschicht und vor Women of Color. Und in der Mitte ihrer Rede sagt sie: "I am a revolutionary feminist because I want me to be free. And it is critically important to me that you who are here, that your commitment to revolution is based on the fact that you want revolution for yourself." Der Kern von Solidarität, so Parker, ist die Tatsache, dass jede die Revolution für sich selbst will, dass keine nur für die andere kämpft – was oft einfacher ist – sondern auf die Zukunft hinarbeitet, die sie sich auch für sich wünscht. Sich darüber bewusst zu werden, gerade aus einer privilegierten Position, wo eine solch bessere Welt auch Verzicht oder Veränderung bedeuten kann, ist eine Voraussetzung für wirkliche Solidarität. Die zweite ist die Möglichkeit, eine solche Zukunft denken, träumen, sich vorstellen zu können. Wir können nicht solidarisch sein, wenn wir keine gemeinsame Zukunft haben – und sei es nur eine imaginierte. In einer Zeit der "absoluten Gegenwart", der "geschichtslosen Augenblicklichkeit", in der das Kommende nur noch Gegenstand berechneter Wahrscheinlichkeiten ist, ist schon der Glaube an eine gestaltbare Zukunft und die Möglichkeit eines solidarischen Kampfes für eine solche revolutionär.

Juliane [Schumacher]


[March] Tobias Thomas - Platz 1 | Platz 3 - Monika [Matscheko]