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Venedig nach der Jahrtausendwende | Teil 1
Mitte Januar landete die Maschine der Lufthansa auf dem FLUGHAFEN VENEDIG. Beim Abflug in der D-Stadt war es wolkig gewesen, doch während des Überflugs über die Alpen gewann die Sonne die Oberhand. Der internationale Flughafen Venedigs erstreckt sich außerhalb der Stadt an der (blauen) Lagune. Der volle Name lautet: Flughafen Venedig-Tessera »Marco Polo« ... Zu Recht wird Marco Polo als bedeutender Händler, Kaufmann, Reisegenie und als Kundschafter in Fernost in seiner Vaterstadt mit einem Flughafen geehrt. Na ja, nicht mit dem Flughafen selbst, sondern mit dessen Namensgebung. Der erste Erforscher Ostasiens wurde zu seiner Zeit wenig ernst genommen, das betrifft manche Wanderer, Globetrotter und Flaneure noch immer. Wenn das, was sie erzählen, nicht den ›gewünschten Vorurteilen‹ entspricht, hält die manipulierte Mehrheit die Erzählungen für unglaubhaft.
Am Flughafen befindet sich eine Anlegestelle für Bootstaxis. Schwiegermutter will mit ihren Schützlingen Venedig stilgerecht auf dem Wasser erreichen ... Die gut zehn Kilometer jagt man im schnellen Boot dahin, die vorgelagerten Inseln und die sich nähernde Stadt im Blick. Ein eindrucksstarkes Bild der Dichter mit seinen beiden Musen im Boot, wie sie zurückgelehnt auf einer gepolsterten Bank mit hellblauem Lederbezug lagern. Träume schäumen auf, oder sind es nur Wellen, die das Boot aufwirft? Bald taucht es verlangsamt in das labyrinthische System von Venedigs Kanälen ein, um den Anlegeplatz in der Nähe des Hotels Giorgione anzusteuern. Patrick und die Damen werden dort wohnen. Das Hotel ist geschichtsträchtig, ein kleiner Palast aus dem 14. Jahrhundert, im 18. Jahrhundert erneuert und im 20. Jahrhundert restauriert. Der Palast, das Hotel, trägt den Namen Giorgione, weil der Maler Giorgio da Castelfranco (1478 – 1510), ein Meister der italienischen Renaissance, eine Zeitlang hier lebte und arbeitete. Giorgiones »Schlummernde Venus« (1510) konnten Naomi und Patrick bereits in Dresdens Gemäldegalerie betrachten. Hier in Venedig ist Naomi selber eine ...
Der Palazzo wirkt venezianisch verspielt, aber nichts ist übertrieben. Zur Ausstattung gehören Möbel im antiken Stil und Glasleuchter aus Murano. Ein Doppelbett dominiert das Schlafzimmer. Im Salon sorgt eine schwarzblaue Chaiselongue alias Ottomane für einen hübschen Akzent. Attenzione! Patrick schärft seinen fotografischen Blick und verwandelt Giorgiones »Schlummernde Venus« auf der Ottomane in eine Japanerin, mehrere Fotos liefern den Beweis. Der Fotograf gerät in Versuchung, an japanische Liebeshotels zu denken; Ähnlichkeiten im Stil legen das nahe. Freilich gibt es einen Unterschied: Das Hotel Giorgione ist authentisch und alt, japanische Liebeshotels sind neu, künstlich und nachgemacht. Draußen befindet sich nicht irgendeine japanische Stadt; draußen ist das wunderbare Venedig, und drinnen ist Venetia auch.
VENEDIG! Die Belle und ihr Mann sind zum zweiten Mal hier, zum ersten Mal gemeinsam. Für beide ist Venedig ein Ort der inneren Freiheit und der schönen Kunst. Die Stadt ist nicht nur ein Symbol der Schönheit, sie ist die Schönheit selbst, obschon ihre Erhabenheit ruinös ist ... Ein kleines Hotel wie das Giorgione ist prächtig genug; am Canal Grande zu residieren, ist unbezahlbar. Das Giorgione befindet sich versteckt in der Nähe des Kanals Rio Ca‘ Dolce ... Dolce, süß, das kann nicht besser klingen ... Zur Jahrtausendfeier in Venedig, wenn auch verspätet, passt in privater Hinsicht die Feier von zehn freien Ehejahren :)) Die sind wie im Flug vergangen. Ein Paradoxon: freie Liebe und Ehe. Auf die nächsten zehn freien Ehejahre wird angestoßen … Die Belle ist noch immer genauso anmutig und faszinierend wie am ersten Tag und in der ersten Nacht. ‚Man‘ muss ‚frau‘ nur (sein) lassen und umgekehrt … Für Patrick ist Naomi auch dann eine aufregende und anregende Frau, wenn sie das Gegenteil davon ist. Sich voneinander entfernen, bedeutet, sich einander anzunähern. Eifersucht widerspricht dem polyamoren Denken, das jedem die selbstbestimmte Freiheit gönnt.
Vom Hotel Giorgione aus ist vieles fußläufig zu erreichen, der Canal Grande und die Rialto-Brücke, San Marco, die Kathedrale, der Markusplatz mit dem Dogenpalast. Das autofreie Venedig erweist sich als Eldorado für FlaneurInnen. Aber nicht nur der Flanierweg über Brücken und Brückchen ist reizvoll, der Bootsverkehr auf den Kanälen und Wasserstraßen ist es ebenfalls. In einer Gondel zu sitzen, bedeutet auf dem Wasser flanieren. Die Stadt mit Bauwerken aus der Zeit von Romanik und Gotik bis hin zum Barock, mit Biennalen zur Moderne und zur Postmoderne, ist der wahre Innenraum der Kunst. Naomi war 1982 in Venedig, Patrick zwei Jahre später mit Markus und den beiden Kindern aus erster Ehe. Naomi und Markus, da hat sich auch einiges überlagert. Berlin kommt wieder hinzu, wenn Madame in den nächsten Monaten im Haus der Kulturen der Welt ausstellen wird.
Patrick muss an Heinrich Heines italienische Reisebilder denken, die ihn das ein oder andere vergleichen lassen. Wir sehen Madame Akimaru im Palazzo Giorgione auf der blauen Chaiselongue liegen und können uns vorstellen, wie sie ihre pumpsbewehrten Füße bewegt, mit denen sie einen Sketch aufführt wie weiland Signora Francesca in »Die Bäder von Lucca« vor dem Marchese Gumpel und dessen Diener Hirsch Hyazinth. Doch heute stellen wir uns das bizarre Bild ohne Katastrophe, ohne bittere Pointe, ohne Diarrhoe vor, denn bei Heine führt eine Portion Glaubersalz den von Liebeslust entzückten und gemarterten Marchese von der Angebeteten weg auf schnellstem Weg zur Toilette hin, nur um sich danach ohne die Bewunderte mit den Ghaselen des Grafen Platen zu trösten ;‒)
Solches Missgeschick ist nicht zu erwarten; die Akimaru-Wahls schwelgen selig in sich selbst. Sie sind gewissermaßen ein doppeltes Kunststück, eine Ursache ohne Grund beziehungsweise ein Grund ohne Ursache, worin die freie Liebe besteht … Naomi und Patrick genießen heilige und verworfene Nächte und die Erinnerungen daran. Sind es »tausendundeine« oder »zweitausendundzwei Nächte«? Wer zählt die Zuckerstücke, wer zählt die Schampusgläser im Paradies? … Es geht um Großzügigkeit, nicht um Kleinzügigkeit. Börne und Platen passen zusammen; es sind engstirnige Geister. Zu Heinrich Heine mag sich Oscar Wilde gesellen, weil es sich um zwei Großzügige handelt. Falls Heine noch nicht so weit wie Wilde gewesen sein sollte, lässt sich das in einer unkonventionellen Untersuchung kompensierend ausgleichen.
Vom Geist der Renaissance fühlt sich das Paar Akimaru-Wahl angesprochen. Wo kann das inniger geschehen, als in dem Palazzo, in dem einst Giorgione eine Zeitlang lebte. Naomi und Patrick bewundern die Selbstbildnisse Giorgiones, des schönsten Mannes und Malers seiner Zeit. Naomis tiefe Liebe zu Patrick, es sei denn, dass es sich um Ironie handelt, zeigt sich in der zärtlichen Anrede bei Tag und bei Nacht: »Ti amo, Giorgio, ti amo!« Patrick scheint Naomi an den jungen Giorgione zu erinnern, ein Kompliment für alle drei ... Die Blickrichtung wechselt, die Künstlerin und der Literat haben Giorgiones »Bildnis einer jungen Frau« im Blick. Ob das nun »Laura«, die (erdichtete) Freundin Petrarcas oder eine Muse oder jemand aus dem Kreis der Mäzenatinnen war, weiß nur Giorgione selbst.
Wegen eines lustvoll gezeigten Busens galt das Bildnis lange Zeit als ›revolutionär‹, als skandalös. Die üppige Laura trägt auf dem Gemälde einen geöffneten pelzgefütterten roten Mantel, was einen Blick auf den rechten nackten Busen ermöglicht ... Nichts wirklich Weltbewegendes! Doch die Gesellschaft hatte so ihre Ängste. Noch im 19. Jahrhundert galt Courbets »Der Ursprung der Welt« (1866) mit einem Blick auf einen realistisch dargestellten Venushügel als nicht ausstellbar. Heutzutage zeigt man/frau alles, und niemand ist empört ..., so dass man sich hin und wieder etwas mehr an reizend-raffinierter Verhüllung wünscht.
Venezianische Tagträumerei: Patrick, dauerverliebt, sieht Naomi und sich selbst mitsamt der Chaiselongue ätherisch im Zimmer schweben … Die Chaiselongue als fliegender Teppich ... Naomi ist nicht nur Maler-, sondern auch Dichtermodell. Als Malerin ist sie eine Kollegin Giorgiones, als Dichtermodell ist sie Patricks Venus. Vielleicht sieht der junge Giorgione die Belle vom Himmel aus? Vielleicht ist er wiedergeboren worden, ob als Maler wird nicht garantiert. Patrick lässt den Gedanken zu, dass Giorgiones Geist sich in Naomis Körper verweltlicht haben könnte, was erhaben-romantisch wäre. Weniger romantisch, ja äußerst banal ist die Vorstellung, dass Giorgione im Hotelkellner steckt, der einen Blick durchs Schlüsselloch wirft ... Es gibt viele Eventualitäten. Naomi spielt mit; sie meint der Maler Giorgio da Castelfranco könne auch als Dichter Patrick Wahl wiedergeboren worden sein. Die beiderseitigen Neigungen zur Philosophie ließen das zu.
Kein Wunder, man sieht Naomi und Patrick nachdenklich auf der Ottomane sitzen und in einem Bildband Giorgiones Gemälde »Die drei Philosophen« betrachten. Nur drei? Welche? Der Maler liebt die Mehrdeutigkeit und legt sich nicht fest. Es macht keinen Sinn, einen bestimmten Philosophen erkennen zu wollen. Die Herren stehen für drei Epochen der Philosophie. Rechts der weißbärtige Alte in einer wallenden Tunika symbolisiert die antike Philosophie. Der orientalisch gekleidete Mann in der Mitte lässt an die islamische Aufklärung im Mittelalter denken, die das Wissen der Antike vor bücherstürmenden Christen bewahrte. Der junge Philosoph links, sommerlich gekleidet im weißen leicht geöffneten Hemd, ein Winkelmaß in der Hand, könnte Giorgione selber sein, zumindest handelt es sich um einen Typ aus seiner Zeit. Entspannt auf dem Steinboden sitzend hat der junge Philosoph die bearbeitete Natur im Blick. Die wilde Natur scheint gebannt, der pflegende Eingriff des Menschen ist sichtbar. Giorgiones Zeit, nachträglich Hochrenaissance genannt, wird als eine optimistische Zeit ins Bild gebracht. Eine Zeit utopischer Hoffnungen? Ja, eine Zeit der Utopie, denn die Wirklichkeit, die Bedrohung durch die Pest, bleibt ausgespart. Der ›schwarze Tod‹, die unkontrollierbare Seuche, schlägt am Ende unbarmherzig zu und trifft den jungen Meister selbst …
Wulf [Noll]
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