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Die Näherei

Wenn man den Namen heute bei Google eingibt, kommt kein Treffer. Zerfallen, versunken, ausgelöscht. Verloren, vergessen. Und doch – wenn ich die Augen schließe, ist alles wieder da.
Die Zeit, von der ich spreche, sind die Achtzigerjahre. Ich war acht Jahre alt, meine Schwester vier, und wir durften zum ersten Mal eine Woche ohne Eltern Ferien machen – bei der Tante in Lindau. Die Tante war Schneidermeisterin und arbeitete als stellvertretende Chefin in der Firma W. in Lindau. Die Firma W. in Lindau stellte Mode her: Escada, Jil Sander. Schicke, elegante und sehr teure Kleidung. Die Ferien in der Näherei waren herrlich.

Es war ein graues, zweistöckiges, hufeisenförmiges Gebäude, das wie ein großes U um einen Parkplatz herumgebaut war. In der Mitte des U befand sich der Eingang: eine schmucklose schwere Tür, von der aus man in ein Treppenhaus kam. Eine Treppe und noch eine musste man emporsteigen, dann war man im ersten Stock. Direkt vor sich hatte man nun das Büro, zur linken die große Küche, und zur rechten erstreckte sich der große Nähsaal. Ging man nochmals zwei Treppen hoch, so war man im zweiten Stock, der ein großes Besprechungszimmer beherbergte mit einem schweren schwarzen Ledersofa drin sowie einer kleinen Küchenzeile. Hier oben roch es geheimnisvoll nach Zigarren und Espresso. Aber hier durfte man nur rein, wenn es der "Chef", Herr W., erlaubte.

Herrn W., einen gutaussehenden, elegant gekleideten Mann mit sehr tiefer Stimme, sah ich selten. Manchmal sah ich ihn im Büro im ersten Stock. Heidi, die Sekretärin, war da auch; sie saß meist vor der elektrischen Schreibmaschine.

Links, in der Küche, befanden sich ein Kaffee- und ein Cola-Automat, ein Herd, zwei Kühlschränke, eine Spüle und mehrere lange, mit Wachstuch bezogene Tische. Hier kamen die Näherinnen, die Zuschneiderinnen und die Büglerinnen in der Mittagspause rein. Dann zogen sie sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten, packten ihr Vesper aus und quatschten miteinander.

Aber das Spannendste war doch der Nähsaal. Eine Glastür musste man öffnen, und dann drang einem eine Geräuschkulisse an die Ohren, die ich nie wieder vergessen werde. Ratternde Nähmaschinen; knarrende Holzdielen; Geklapper von Holzclogs und Pantoletten, die darübergingen; das Rasseln der fahrbaren Kleiderständer, die hin- und hergeschoben wurden; das Kreischen der Bügel an den Kleiderstangen; darüber noch ein undefinierbares Rauschen, Pfeifen und Klingeln sowie laute Stimmen, denn wenn man im Nähsaal etwas sagen wollte, musste man schon schreien, um verstanden zu werden. In drei Reihen standen die Nähmaschinenplätze hintereinander; ich schätze, dass etwa vierzig Näherinnen in diesem Raum arbeiteten.

Im hinteren Teil des Nähsaals war die "Knopf-Ecke". Da standen Schränke mit Schubladen, und in jeder Schublade war eine andere Sorte Knöpfe drin. Die Knöpfe waren nach Farben, nach Material, nach Größe und Form sortiert, und ich war baß erstaunt, wie viele unterschiedliche Knopfsorten es gab. Auch buntschillernde Glasknöpfe waren darunter.

Ganz hinten im Nähsaal war erneut eine Tür. Von dort kam man zu den Spinden. Jede Näherin und jede Zuschneiderin und Büglerin hatte ihren Spind. Einige waren verschlossen, einige waren offen, und man sah darin die Straßenschuhe und die Jacken und Mäntel der Arbeiterinnen, denn im Betrieb liefen sie alle nur in Clogs oder Espandrillos herum und trugen oft Kittelschürzen.

Hinter den Spinden war wieder eine Tür. Von dort kam man über ein anderes Treppenhaus in einen Verkaufsraum und von dort wieder auf den Parkplatz.

Vorne im Nähsaal befand sich eine knarrende Holztreppe, und die führte in die Zuschneiderei hinunter. Dort war es fast genauso spannend wie oben. Statt Nähmaschinen standen hier lange Tische, an denen die Zuschneiderinnen mit Maßband um den Hals und Schneiderkreide und riesigen Scheren in den Händen arbeiteten. Auch Schneidemaschinen gab es hier, und, was noch viel herrlicher war: Stoffe. Eine ganze Wand wurde von Stoffrollen eingenommen, einfarbige und gemusterte, Kleider-, Blusen-, Hosen-, Jackenstoffe aus allen Materialien fand man hier.

Ganz hinten in der Zuschneiderei war eine Pendeltür, und von dort kam man in die Bügelei. Hier war es den ganzen Tag über schwül und dampfig; die drei Büglerinnen, die hier arbeiteten, trugen meist nur Kittelschürzen und schwitzten dennoch. Neben den Bügelplätzen befanden sich Kleiderstangen mit Bügeln drauf, auf die die gebügelten neuen Teile dann gehängt werden mussten. Aber bevor sie auf die Bügel kamen, mussten die Bügel mit Schaumstoff überzogen werden. Dazu standen riesige Kartons voller Schaumstoffüberzüge bereit und andere voller Plastikbügel mit "Esca¬da"- oder "Jil Sander"-Emblem.

Von der Bügelei aus führte eine Tür ins zweite Treppenhaus, und von dort kam man in den Verkaufsraum und durch eine Außentür wieder auf den Parkplatz.

Das also war das Geheimschloss, in dem meine Schwester und ich den schönsten Teil unserer Sommerferien verbrachten, Jahr für Jahr.

Meine Tante wohnte in Lindau in einer winzigen Einzimmer-Kellerwohnung, die nur aus einer Küche, einer Toilette mit Waschbecken und einem Wohnzimmer bestand. Im Wohnzimmer wurde, während wir da waren, die Couch ausgezogen; das weiche Bett, das dadurch entstand, bedeckte fast den gesamten Fußboden des Wohnzimmers. Die Tante selbst schlief nebenan, wo sie sich mit einer spanischen Wand eine Art Schlafkoje neben der Küche gebaut hatte. Die ganze Wohnung war provi¬sorisch: die Tante schlief auf einem Feldbett, in der Küche standen ein Klapptisch und Klappstühle, und im Wohnzimmer befand sich ein selbstgebautes Regal. Es gab keine Dusche, keine Badewanne, auch keine Waschmaschine und kein Telefon – die Tante lebte nur hier zum Essen und Schlafen. Die ganze restliche Zeit war sie "im Gschäft", und am Wochenende fuhr sie zu meiner Oma nach Meckenbeuren, wo sie ihren Hauptwohnsitz hatte.

Morgens um sechs stand die Tante auf und ging "ins Gschäft". Wir pennten weiter bis neun oder halb zehn, dann kam sie uns mit dem Auto abholen; Frühstück gab es dann "im Gschäft", meistens frische Brezeln mit Butter, die die Tante gekauft hatte. Manchmal kam es auch vor, dass wir noch schliefen, als sie kam, um uns abzuholen. Dann weckte sie uns unsanft und sagte: "Ja, schlofet ihr immer no! Des gibt’s ja ned! Los jetzt, hopp, i hab ned ewig Zeit, i muss ins Gschäft!"

Die Tante war unverheiratet und kinderlos, aber sie hatte eine Menge Nichten und Neffen, die sie nach ihrem Herkunftsort bezeichnete. Es gab "die Wangener", "die Würzburger", "die Meckaler" – aus Meckenbeuren – und "die Raveschburger Mädle", das waren wir. Wenn wir "im Gschäft" ankamen, führte uns die Tante mit dem Ruf "sooo – die Raveschburger Mädle sind jetzt do!" bei den Nä¬herinnen ein, die alle wohlwollend lächelten. Heidi, die Sekretärin, und Herr W. kamen uns begrü¬ßen, und dann mussten wir runter in die Zuschneiderei und in die Bügelei, um auch dort hallo zu sa¬gen. Frau Müller, die in der Bügelei arbeitete, freute sich besonders und nahm uns jedesmal, wenn wir kamen, ganz fest in die Arme und drückte uns an ihre Kittelschürze.

Später, als wir älter waren, liefen wir morgens zu Fuß von Tantes Miniwohnung "ins Gschäft". Die Tante hatte uns den Weg gezeigt, wir waren ihn mehrmals langsam mit dem Auto abgefahren und hatten ihn uns eingeprägt: eine große Straße entlang, bei der ersten Kreuzung gradeaus weiter, bei der zweiten Kreuzung nach rechts. An der zweiten Kreuzung befand sich ein Biergarten mit einem HB-Männchen, und das war unser Wegweiser – mit Straßennamen hielten wir uns nicht auf. Am HB-Männchen vorbei, dann noch etwa zweihundert Meter, dann links, und da war schon das große hufeisenförmige Gebäude, und wir marschierten hinein und wurden begrüßt.

Und dann spielten wir den ganzen Tag in der Näherei. Meine Tante war dort sozusagen der "anwesende Chef", während Herr W. der "abwesende Chef" war, das heißt: meine Tante hatte keinen festen Arbeitsplatz, sondern war immer überall und hatte sich um alles zu kümmern. Es gab auf der Holztreppe, die vom Nähsaal in die Zuschneiderei führte, an der Wand ein Telefon, darunter befand sich ein Notizzettelblock und ein paar Kugelschreiber. Ich sah meine Tante oft, wie sie, im weißen Kittel und das Maßband um den Hals, dort telefonierte und sich Notizen machte, und hatte größten Respekt, wie sie in dem Lärmpegel überhaupt telefonieren und sich konzentrieren konnte. Jeden¬falls hatte sie den ganzen Tag sehr viel zu tun und keine Zeit, uns zu unterhalten oder zu bespaßen. Wir waren uns selbst überlassen, und gerade das war das Tolle.

Es gab dort einen dreirädrigen Karren, auf dem man Stoffrollen transportierte. Wenn keine Stoffrollen zu transportieren waren, stand der Karren rum. Und es gab dort riesenhafte Magnete, mit denen man die vielen Näh- und Stecknadeln aufsammelte, die auf den Boden und zwischen die Dielenritzen fielen. Ich und meine Schwester kombinierten nun Karren und Magnet zum "Nadel-Taxi". Eine von uns setzte sich auf den Karren, nahm den Magnet in die Hand und hielt ihn knapp über dem Bo¬den, und die andere zog den Karren langsam die Gänge entlang. Schon nach kurzer Zeit war der Magnet voll mit Nadeln, die wir dann bei einem der Tische abluden.

"Nadel-Taxi" spielten wir meist in der Zuschneiderei; oben, im Nähsaal, war es dazu während der Arbeit zu eng. Aber nach Feierabend, wenn die Näherinnen ihre Plätze aufgeräumt hatten und gegangen waren, fuhren wir mit unserem Karren oft noch dort oben herum und sammelten die Nadeln auf, während meine Tante die Stoffreste zusammenkehrte, die überall herumlagen.

Überhaupt Stoffreste. Wie sich Pumuckl in der Hobelspäne wohlfühlte, so liebte ich die Stoffreste aus der Näherei. Es war ja auch herrlich: da lagen etwa zehn Stoffbahnen aufeinander, dann kam die Schneidemaschine, und ratsch! fiel das Abgeschnittene auf die Dielen. Zehn identische handtellergroße Stoffstückchen! Die schönsten Reste – Samt, Leder, interessante Muster – nahm ich mit und benutzte sie, wieder zuhause, zum Basteln. Oder auch andere Kostbarkeiten, die abfielen: Bordürenreste. Fransen, Kordeln, Litzen- oder Spitzeschnipsel, manchmal auch einen geheimnisvoll glitzernden Knopf. Im Nähsaal standen immer große Kartons mit Schulterpolstern herum, doch die interessierten mich weniger als die vielen bunten Stoffschnipsel und Bortenreste.

Es gab in dem Betrieb natürlich auch den einen oder anderen Ausschuss: fertige Teile mit Fehlern, die nicht verkauft werden konnten. Einmal bekam ich ein solches Ausschuss-Ensemble geschenkt: eine blaue Sommerhose und ein dazu passendes blaues Top mit großen weißen Knöpfen vorne und einem "Jil Sander"-Schild hinten. Irgendein Fehler war da unterlaufen, den man aber kaum sah. Ich fand das Ensemble sehr schick und trug es oft, bis es meine Mutter in den Müll warf.

Wir halfen auch oft Frau Müller, einer der Büglerinnen, und standen dann in der schwülen Bügelei und bezogen weiße Plastikbügel mit Schaumstoffbezügen, bis Tante uns zum Essen rief.

Das Essen, meist etwas rasch Zuzubereitendes wie belegte Brote oder Leberkäs mit Spiegelei, bekamen wir anfangs im Besprechungszimmer im zweiten Stock serviert, später dann in der Küche, in der auch die Arbeiterinnen ihre Mittagspause abhielten. Da saßen wir dann inmitten von dreißig laut miteinander redenden Näherinnen und mampften unseren Leberkäs, meine Schwester hatte immer ihren Teddy Susi dabei und lächelte die Näherinnen an.

Susi war es dann auch, die einmal die Ursache für Tränen war. Wir hatten in der Zuschneiderei zwischen den Stoffrollen gespielt, meine Schwester hatte Susi in eine der Rollen hineingeschoben – und als sie sie wieder herauszog, war ihre Nase weg. Es war eine schwarze Teddybärennase gewe¬sen, aufgeklebt. Meine Schwester weinte auf, und wir suchten die Tante. Die kümmerte sich sofort darum, ging zur Knopf-Ecke, suchte einen braunen, dicken Nasen-Knopf aus und nähte Susi eine neue Nase an.

Wenn wir müde oder des Lärms überdrüssig waren, suchte die Tante Herrn W. oder rief ihn an und fragte, ob wir ins Besprechungszimmer gehen dürften. Da machten wir dann ein Schläfchen auf dem Ledersofa, oder wir sahen Zeitschriften an, die dort rumlagen, malten oder lasen.

Manchmal spielten wir auch hinten bei den Spinden, guckten in die nicht verschlossenen Spinde hinein und versuchten zu raten, wem sie gehörten. In einem fanden wir mal so kleine Schuhe, dass sie beinahe mir schon passten. Wie sich herausstellte, war das der Spind des Lehrlings, der nur ein paar Jahre älter war als ich. Die Tante sah es aber nicht gern, wenn wir bei den Spinden waren, und wenn sie uns dort antraf, scheuchte sie uns meist hinaus. "Des goht eich nix a do hinte", sagte sie, "des isch Privatsach, do guckt mer ned nei!"

An einem Tag in der Woche, die wir in Lindau verbrachten, gingen wir nach Feierabend in die Zuschneiderei runter und zu den Stoffrollen, und dann durften wir uns was wünschen – einen Rock, eine Bluse oder ein Kleid und den Stoff dazu. Die Tante nahm dann Maß und schrieb sich alles auf – Beinlänge, Armlänge, Hüftumfang, Brustumfang –, wir bekamen ein Gummiband um den Bauch, und die Tante redete mit uns, als wären wir erwachsene Modekunden. Und genauso kamen wir uns auch vor: wie vornehme Damen, die sich etwas Exquisites nach Maß leisteten.

Ich wusste, dass ich "komisch" war. "Nicht ganz richtig". Dass ich "so eine" war, für die man sich schämen musste. Und ich hatte oft eine einzige Angst: dass die Tante meinem Vater sagen würde, dass da was mit mit nicht stimmte. Dass ich sie oft akustisch nicht verstand. Dass ich oft Sachen nicht sah. Und dass mein Vater dann sagen würde, Lindau käme nicht mehr in Frage, denn eine "Komische" bräuchte man dort nicht. Aber das tat Tante nicht, und dafür liebte ich sie.

Doch langsam brach immer mehr das Nichts in mein Phantásien ein. Ich war ein Kind und verstand es nicht, aber bei jedem Besuch, den wir in der Firma W. machten, gab es eine Kleinigkeit weniger.

Zuerst war das Besprechungszimmer weg; man konnte nicht mehr in den zweiten Stock gehen, oben war die Tür verschlossen. Die Tante sagte auf Nachfragen, dass da jetzt der Dachboden sei und dass wir dort nichts mehr verloren hätten.

Dann verschwand der Verkaufsraum, den man von der Bügelei aus hatte erreichen können. Die Tür am Ende der Bügelei war jetzt verschlossen, davor stapelten sich Dutzende Kartons mit Kleidern drin. Auch vom Nähsaal aus, von der Tür hinter den Spinden kam man nicht mehr in dieses Treppenhaus. Die Tante sagte nur: "Do kannsch nimme nei. Des g’hört nimme zu uns. Baschta."

Jedes Mal, wenn wir wieder "im Gschäft" ankamen für unsere Urlaubswoche, war die Firma kleiner geworden. Mehr Nähmaschinenplätze waren jetzt unbesetzt oder ganz verschwunden.

Irgendwann, als wir mit unseren Eltern gerade die Tante besuchen wollten und das Auto geparkt hatten, kam sie uns schon entgegen, zusammen mit Heidi – in Schwarz und schluchzend. "D’r Chef isch tot", sagte sie. Herr W. wurde beerdigt, es kam ein neuer Chef in die Firma, aber das Nichts fraß Phantásien unbarmherzig auf.

Die Spinde waren bald ganz weg, und auch die Küche im ersten Stock sowie das Büro gab es nicht mehr. Die Glastür, die vom Treppenhaus in den Nähsaal geführt hatte, war jetzt verschlossen. Unten im Eingangsbereich, wenn man die schwere Eingangstür geöffnet hatte, befand sich zur Linken eine Seitentür, die direkt in die Zuschneiderei führte – diesen Weg mussten wir jetzt nehmen, wenn wir die Näherei betreten wollten. Die beiden Automaten, der Kaffee- und der Cola-Automat, standen jetzt unten in der Zuschneiderei, und oben im Nähsaal war eine Ecke mit einer spanischen Wand abgetrennt, hinter der sich eine Art Behelfs-Büro befand, in dem die Tante im Stehen telefonierte und sich Notizen machte.

Und dann war eines Tages alles weg. Ende der Neunziger gab es einen Familienurlaub, bei dem ich, meine Schwester, unsere Eltern und die Tante in die Schweiz fuhren. Ich war mittlerweile Mitte zwanzig, meine Schwester hatte gerade Abitur gemacht – wir waren schon seit Jahren nicht mehr in Lindau gewesen. Nach dem Urlaub fuhren wir meine Tante nach Hause, da sagte sie: "Fahr doch nochmal am Gschäft vorbei, i muss da no was erledige."

Das Auto meines Vaters parkte also auf jenem Parkplatz vor dem großen U. Ehemals war dieser Parkplatz voll gewesen von Autos – jetzt stand außer unserem kein einziges mehr dort. Die Tante stieg aus. Ich kam mit ihr. Sie schloss die Eingangstür auf, betrat den Flur, dann schloss sie die Seitentür auf, die zur Zuschneiderei führte. Geführt hatte. Denn es gab keine Zuschneiderei mehr. Alles war leer. Keine Zuschneidetische mehr, keine Regale mit Stoffrollen. Nichts. Nur noch ein riesengroßer leerer Saal, in dem unsere Schritte hallten. Wir standen dort, hielten uns aneinander fest, und ich merkte, wie mir die Tränen kamen.

Und von allem dem schwebt ein Erinnern / nur noch um das ungewisse Herz. / Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern, / und der neue Zustand wird ihm Schmerz. (Goethe)

Ich besitze keine Fotos von dieser Zeit. Auch im Internet gibt es keine. Die Namen der Straßen, in der "das Gschäft" und die Miniwohnung meiner Tante gelegen hatten, habe ich beide vergessen, denn zu der Zeit, als ich dort war, spielten sie keine Rolle für mich. Daher kann ich nun nicht ein¬mal auf Google-Maps mehr nachsehen, ob das HB-Männchen da noch steht und was für eine Firma heute in dem großen hufeisenförmigen Gebäude untergebracht ist.

Aber das ist nicht wichtig. Für mich ist es immer die Näherei W., die dort residiert. Und ich muss nur eine Geheimtür in meinem Kopf öffnen, dann bin ich wieder in diesem Zauberschloss drin.

Man tut heute oft so, als ob das, was nicht im Internet stehe, nicht existiere. Nie existiert habe. Was im Internet nicht vorkomme, gebe es nicht, habe es nie gegeben, und falls doch, dann sei es des Erinnerns nicht wert, denn alles, was des Erinnerns wert sei, stehe ja im Internet.

Irrtum. Alles, was des Erinnerns wert ist, steht in unseren Köpfen.

Verloren. Versunken. Aber nicht vergessen.

Ni [Gudix]


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