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Francois Mitterand in Dachau
Ich habe Ende der 70er Geschichte studiert. Die kompetentesten Vertreter des Faches haben sich damals von der erzählenden Geschichte verabschiedet. Struktur- und Sozialgeschichte ersetzte weitgehend die Erzählung.
Doch nicht die Thesen der Sozialgeschichte machen mich betroffen und berühren mich, sondern eine kleine Episode aus der Nachkriegsgeschichte, die so unwahrscheinlich klingt, daß man meinen könnte, sie wäre erfunden...
Paris wird in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts vom deutschfreundlichen Vichy-Regime regiert. Francois Mitterand ist Mitglied der deutschfreundlichen Vichy-Regierung, arbeitet aber heimlich unter dem Pseudonym Jacques Francois Morland genauso wie sein Freund Robert Antelme für die Résistance (gegen die deutsche Besatzung). Francois Mitterand, Robert Antelme, dessen Frau Marguerite und dessen Schwester Marie-Louise sind gute Freunde.
Paris im Juni 1944. Die Gestapo fängt Robert Antelme und seine Schwester Marie-Louise Antelme. Robert Antelme wird nach Buchenwald, einem der schlimmsten Konzentrationslager, und Marie-Louise Antelme nach Ravensbrück, einem KZ für Frauen, deportiert.
Dauchau 1945. Die SS transport Robert Antelme mit tausend anderen Häftlingen in Viehwaggons aus Auschwitz nach Dachau in Bayern. Francois Mitterand wird von einem US-General zum Inspektor der Konzentrationslager Landsberg und Dachau ernannt.
Francois Mitterand berichtet in seinen Memoiren über das KZ Landsberg: „Was wir sahen, war schlimmer als alles andere, unvorstellbar, überwältigend [...]. In Landsberg kein einziger Überlebender. Leichen zu Tausenden mit Flammenwerfern verbrannt [...]."
Mitterand schreibt über das KZ Dachau: „In Dachau, überall der Tod, die Gehängten, die Vergasten, die Krematoriumsöfen, die Erschossenen [...]. Eine Typhusepidemie verstärkte die Qual der Überlebenden [...].“
Francois Mitterand erzählt, was in Dachau passiert, als er Leichenhaufen nach Überlebenden durchsucht.
„In Dachau fand ich durch einen glücklichen Zufall Robert Antelme, der am 1. Juni 1944 mit anderen Kameraden unserer Bewegung verhaftet und dann deportiert worden war. Es ging ihm so schlecht, dass man ihn schon in den Kreis der Toten werfen ließ. Als wir über die Leichen stiegen und er mich vorbeigehen sah, flüsterte er meinen Namen, eher meinen Vornamen. Pierre Bugeaud, der bei mir war, hörte es und beugte sich zu mir, um zu sagen: Ich glaube, jemand ruft dich."
Francois und sein Freund Pierre retten Robert Antelme vor den Toten und vor dem Tod. Da Francois Mitterand sehr gut informiert ist, wer die Frau von Robert Antelme ist, ruft er Marguerite Antelme telefonisch an, um ihr mitzuteilen, dass ihr Mann am Leben sei, aber keine großen Überlebenschancen habe.
Francois Mitterand fährt fort: „Ich konnte General Lewis wegen der Typhusepidemie nicht dazu bringen, ihn an diesem Abend zu unserem Flugzeug zurückzubringen. In der Nacht nach Paris zurückgekehrt, schickte ich sofort Dionys Mascolo, Jacques Bénet und Georges Beauchamp ab, die in ein Auto sprangen und Dachau im Gewaltmarsch erreichten. Sie fanden Antelme an der angegebenen Stelle. Er war noch am Leben. Sie verkleideten ihn als GI und trugen ihn wie einen Betrunkenen [...]. In Straßburg hielt man ihn für tot [...]. Er war wie eine kaputte Marionette, als sie die Tür der Rue Saint-Benoit 5 betraten, wo seine Frau Marguerite und ich auf sie warteten. Die Ärzte, die schon dort waren, hielten es für aussichtslos, ihn zu retten [...]. Er erholte sich und wir verdanken ihm eines der besten Bücher über Deportation: Das Menschengeschlecht."
Marguerite Antelme erinnert sich : "Ich weiß nicht, welcher Tag es war, es war definitiv ein Tag im April, es war kein Tag im Mai. Um elf klingelte das Telefon. Es kam aus Deutschland, es war François Morlond. Er sagte nicht 'Hallo', er war fast schon brutal, aber klar wie immer."
Marguerite Antelme erzählt über das Telefonat von François Mitterand: "Hör mir zu. Robert lebt. Beruhige Dich. Ja. Er ist in Dachau. Nimm Dich zusammen. Robert ist sehr schwach bis zu einem Niveau, dass Du Dir nicht vorstellen kannst. Ich muss Dir sagen, es geht um Stunden. Er kann vielleicht drei Tage leben, aber nicht länger."
Wie sich herausstellte, kommt die Befreiung Dachaus gerade noch rechtzeitig für den schwerkranken Robert Antelme. Er überlebt und kehrt am 13. Mai 1945 nach Paris zurück. Seine Schwester Marie-Louise Antelme, die nach Ravensbrück deportiert wurde, starb nach der Befreiung des Konzentrationslages beim Transport aus Deutschland durch ein Flugzeugunglück bei Kopenhagen.
François Mitterand wird später Präsident von Frankreich, Marguerite Antelme wird unter dem Namen Marguerite Duras zur berühmten Autorin und Robert Antelme wird einer der berühmtesten Schriftsteller Frankreichs.
Hans-Peter [Oswald]
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