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Flaschenpost


Hier, während die Datencluster gnadenlos an uns vorüberrauschen, haben wir einen Standort der Literatur neu zu (er-)finden.
Kurt Drawert

Schreiben geht von einem hinfälligen Subjekt aus, während der internetvernetzte Rechner aufs perfekte Objekt abzielt. Dies schreibe ich, Subjekt an einem Computer, der mich drängt: Jederzeit könnte (und sollte?) ich Mails checken, auf Facebook gehen, Nachrichtenseiten anklicken oder – sicherheitshalber – recherchieren, was das überhaupt ist, so ein Essay. Der Versuchung widerstehe ich, aber ich muss auch widerstehen. Analog zu "draußen" nötigt mich das digitale "Drinnen" auf Schritt und Tritt, "Nein" zu sagen – ohne dass ich bemerke, welche Bilder und Botschaften mein Gehirn gegen meinen Willen konditionieren: Nein zum schlankmachenden Eis, Nein zum üppigen Busen, der in die Augen fällt, Nein zum Coffee to go, Nein zum Ja-ich-kaufe. Seit das Internet in allen Lebensbereichen die Macht übernommen hat, gibt es keinen werbefreien Ort mehr: Es zappelt, zuckt, lockt, ruft ohne Unterlass, fordert meine flüchtige doch ununterbrochene Aufmerksamkeit: Ich soll klicken, kaufen, nicken, (mich) anbieten, weiterleiten, soll mich schicken. Und bin gehalten, mein Innen nach außen zu kehren. Täte ich es nicht, so die in der steten Wiederholung der Aufforderung mitschwingende Mahnung, existierte ich nicht. Weil mich niemand sähe. Als Beweis meiner Existenz soll ich meine privaten Verrichtungen fotografieren, kommentieren – zur Bewertung freizugeben – soll mein eigener Bauchladen sein. Stets zum Aufmerksamkeits-Tausch bereit. Kaufkräftig. Unterwegs. Da ich aber am Rechner nicht nur Kundin, Facebook-Freundin und Erwerbstätige bin, "sondern auch Schreiberin anderer, eigener Texte, durchwirkt der digitale Raum, seit ich ihn betreten habe, meinen Schreibprozess – als Vereinfachungsmaschine und Störrauschen, das wegzudrücken ermüdet – und vergeblich ist.

Der Soziologe Harmut Rosa vermutet, dass es nicht folgenlos bleibt, wenn "der größte Teil unserer Weltbeziehungen bildschirmvermittelt und (...) unser Weltverständnis als ganzes bildschirm-symbolvermittelt geprägt ist"(1). Dass die Digitalisierung an meinem Schreiben nicht spurlos vorbeigeht, begann ich vor Jahren zu spüren im Zuge der Erwerbsarbeit als Texterin einer Agentur für Politische Kommunikation. Es gehörte zum Job, sehr viel im Netz unterwegs zu sein. Ich glitt von Klick zu Klick, von Kürzest-Aufmerksamkeit zu Turbo-Information, von Suchmaschinenhäppchen zu Online-Textbausteinchen. Fühlte mich am Rechner immerzu getrieben, Informationen und Texte nicht etwa lesend zu erfassen, sondern so schnell wie möglich zu scannen. Und ich meinte – und fürchte das auch jetzt – das Geschriebene müsse eigentlich schon darstellbar sein, bevor es begonnen ist – eine latente Überforderung, die mich krank machte. Das geschah nicht auf einen Schlag, doch irgendwann konnte ich die schleichende Vergiftung durch tägliche Gaben von digitalis(2) nicht mehr ignorieren: Eine lange Weile konnte ich nicht am Computer arbeiten. Es war ein stiller Zusammenbruch, ähnlich existenzbedrohend wie eine Mehlstauballergie für einen Bäcker. Auf dem Nachbeben dieser Erfahrung balanciere ich seither.

Zunächst schob ich alles auf mich, auf meinen eigenen Perfektionismus, meine mangelnde Selbstdisziplin angesichts des "digitale[n] Dauerfeuer[s]der Handys, Smartphones und Tablet-Computer"(3) – und nicht etwa auf "eine ungesunde Arbeitsethik (...), die uns dazu anhält, allzeit bereite und flexible Subjekte zu sein."(4) Ich dachte, ich müsse damit klarkommen, in einer "Darstellungsgesellschaft"(5) zu arbeiten – und zu schreiben, denn ein Zurück ins vordigitale Zeitalter wird es kaum geben. Texte werden fast ausschließlich an vernetzten Rechnern verfasst. Die Internet-Technologie stellt die Bedingungen von Kommunikation, Produktion, Verbrauch und Verkauf weltweit unter die Gesetzmäßigkeiten der Vernetzung – erzeugt "fraglos eine neue Qualität der Flüchtigkeit"(6). Auch das Schreiben wird fluide, auf den Monitor verschoben, entkörperlicht und potenziell öffentlich zugänglich – für alle Welt. In den Perfektionszwängen dieser Fluidität könnte es zugrunde gehen.

Schreiben braucht die Erlaubnis zur Langsamkeit. einen Ort, an dem die Zeit nicht Gegnerin ist, sondern Freundin. Es muss gerade nicht effektiv sein müssen, sondern innehalten, noch nicht wissen, tasten, nicht fertig sein. "In der Unschlüssigkeit, der verweilenden, unabgeschlossenen Geste, in der Trägheit sogar tun sich Zustände der Sammlung auf", pointierte der 2016 verstorbene Publizist Roger Willemsen. "Dieses nicht effiziente, abirrende, irgendwie ausgesetzte Verhalten zur Welt, eines, dem keine App zur Hilfe eilt, dieses desorientierte, sich selbst überlassene Treiben ist im Kern poetisch."(7)

Indes: Anhalten, Zurückblicken, Zeit geben und nehmen – so etwas sieht die digitale Arbeits- und Freizeitmarktlogik nicht vor. Angehalten wird der digitalisierte Mensch nur zur Beschleunigung und dazu, möglichst viele Informationen gleichzeitig zur Kenntnis zu nehmen. Verharren heißt Zurückfallen, Wert verlieren. Der Imperativ der Geschwindigkeit dröhnt mir in den Ohren. Natürlich bin ich zu langsam! Gegen den Rechner habe ich keine Chance! Ist die "Geste des Schreibens im Begriff, eine archaische Geste zu werden, durch die sich eine Seinsweise äußert, die durch die technische Entwicklung überholt ist"(8)? Fällt es aus der Zeit? Wohin fällt es?

Unter den herrschenden digitalen Produktionsbedingungen der Schnelligkeit, Selbstoptimierung, Entgrenzung und Zerstreuung steht die Poesie, steht die Literatur zur Disposition.

Seit das weltweite Computernetzwerk in den 1990er Jahren begann, die Kultur der Textproduktion und -konsumption (bzw. Rezeption) ein drittes Mal – nach der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks (9) – umzuwälzen, steht kein Buchstabe mehr auf dem andern. Tatsächlich steht gar kein Buchstabe mehr: Alles fließt – außer der Text. Der Text stockt, ununterbrochen unterbrochen vom "rasenden Stillstand" (Paul Virilio) des technologischen Fortschreitens.

Literarisch Tätige indes neigen dazu, den Text als solchen, unabhängig von dessen (Produktions-, Kommunikations- und Speicher-) Medium zu imaginieren. "Ein Wort ist ein Wort", behauptet auch der Wissenschaftsjournalist Nicholas Carr. Zwar ändere sich das Leseverhalten, aber die Wörter als solche blieben "dieselben (...), ob sie nun auf Papier gedruckt oder aus Pixel oder elektronischer Tinte auf einem Bildschirm geformt werden"(10). Diese Haltung erinnert an die drei Affen, die nicht sehen, nicht hören und nicht sagen wollen, was sie bedroht.. In der digital determinierten Darstellungsgesellschaft ist "Leistung nur das (...), was gerade 'auf dem Schirm' ist"(11), was also ein anderer mehr oder weniger anerkennend zur Kenntnis nehmen kann. "Das Medium selbst trägt eine Botschaft in sich und erzielt mit dieser eine Wirkung", schreibt der Mediziner und Mediensuchtforscher Bert te Wildt. "Es wird jedem einleuchten, dass es ein Unterschied ist, ob ich einen Text mit der Hand, an einer Schreibmaschine oder an einem Computer schreibe."(12)

Leuchtet es?

Es schimmert bläulich. Der Rechner flimmert mir zu: Reagiere! Geh! Bleib nicht da! Sei überall! Kaufe! Verkaufe! vor allem: Funktioniere! Schreiben funktioniert aber nicht, wenn ich funktioniere. Zum Schreiben möchte ich wie ein Gefäß sein, in dem Erde mit Samen liegt, die Zeit brauchen. Schreibsamen. Textsamen. Regen. Sonne. Licht. Empfangen. Im Internet bin ich auf Empfang. Dort gilt es, nur ja keine Chance zu verpassen, keinen Trend zu übersehen, als Teil des Dienstleistungsmarkts funktionieren. Um effektiv zu schreiben, müsste ich aufhören, effizient zu funktionieren, müsste verletzlicher, angreifbarer Mensch sein anstatt mit allen Wassern gewaschener Kunde und Anbieter, müsste ganz ineffizientes, auch passives Subjekt sein statt Objekt "effektiver Selbstausbeutung"(13). Der Rechner weckt jedoch andere Bedürfnisse. Er fordert mich heraus. Sein darf ich nicht – nur werden. Stets bietet er mir neue Waren an zur Selbstoptimierung, damit ich mit ihm mithalten kann. Er ist leistungsfähiger als ich, seine "Seiten" sind unendlich wie seine Potenz, er erschöpft sich nie, geht höchstes kaputt – und dann tauscht man ihn aus. Der Computer, "ein Vorbild, das nicht nach der wichtigsten Information fragt, sondern nach der ersten, und diese ist bezeichnenderweise meist an den Verkauf gebunden"(14), formt den Alltag. Er potenziert die beständige Belästigung der Sinne und Gedanken durch Werbung und Anforderungen von außen. Seine Zumutung scheint alternativlos. Und so sitze ich am internetvernetzten Rechner, um diese Zeilen übers Schreiben am internetvernetzten Rechner zu schreiben. Er macht es mir nicht nur teuflisch leicht, mich zu zerstreuen – er erleichtert auch die Schreibarbeit, flippt meine Buchstaben wie von Zauberhand auf den Bildschirm, unmerklich zeitversetzt, als hätte sich ein meinem verwandter Geist dort häuslich eingerichtet und würde sie gewandt auffangen Ich habe mich an den Luxus von copy und paste gewöhnt. Die geniale Maschine gibt mir auf fast alle Fragen in Windeseile eine Antwort –ich nutze ihre Möglichkeiten und verhalte mich der Maschine gemäß. Auf ihr richte ich eine Seite ein, die nicht aus Papier besteht, die es auf dem Bildschirm nurmehr als Fiktion gibt, als Hilfs-Vorstellung für mein hinfälliges Gehirn, als Metapher. Diese Seite ist mit einem Programm gestalt- und darstellbar, das unsichtbar im Hintergrund abläuft, dessen Funktionsweise im Grunde undurchschaubar bleibt und nur dann ins Bewusstsein rückt, wenn es nicht funktioniert. Der Text ist "kein Ort der Stille mehr"(15), sondern im virtuellen Nicht-Ort Teil des Rauschens. Wie lässt sich in diesem Fließen verhindern, dass er mir unter den Pixeln zerrinnt, ehe er geschrieben ist? Und: Wie frei ist mein Kopf wirklich?

Ist es tatsächlich "schlichter Unfug, von einer Freiheit des users zu sprechen, wenn dieser schon präfiguriert ist, noch ehe er eingeschaltet hat", wie der Schriftsteller und Internet-Pessimist Kurt Drawert in einem jener sich selbst widersprechenden Sätze behauptet (denn wer schriebe ihn, wenn nicht ein sich als frei behauptender Schriftsteller)?(16). Er – der User, also auch der Schriftsteller – sei "wie eine Ratte, die unter Reizstrom steht, die subtile Forderung der Maschine sich hineinziehen und die Texte entreißen zu lassen". Bin ich eine marktmaschinengesteuerte Ratte? Oder kann ich als Schreibende gegensteuern, mich widersetzen und als Subjekt behaupten, indem ich mich weigere, ein perfekt funktionierendes Rädchen zu sein? Jedenfalls muss ich die Worte, die ich benutze – einstellen, eingeben, etc. im Griff haben statt mich von ihnen gängeln zu lassen. Meine Sprache zu nutzen, die zerstörerischen Bedingungen, unter denen ich in maschineller Leicht(fert)igkeit schreibe, offen zu legen. Je schwieriger es scheint, die These der Konditionierung zu widerlegen, desto nötiger ist es, immer wieder zu er-innern, keine Maschine zu sein.

Ich kann das Schreiben (und das Leben)(17) nur im vollen Bewusstsein seiner (und meiner) Vergeblichkeit wagen, wenn ich dessen Vorläufigkeit, meine eigene Langsamkeit, Fehlerhaftigkeit, Bedürftigkeit – kurz: MENSCHLICHKEIT nicht nur als lebensnotwendig anerkenne, sondern gegen die perfektionistischen Zumutungen der digitalen Umgebung verteidige. Ich muss sie zur Sprache bringen.

Nur so ist es – vielleicht – noch möglich, "meine Feder in den Wind [zu] halten"(18), den unmenschlichen digitalen Imperativen den Gehorsam zu verweigern und erhobenen Hauptes zu sein und zu schreiben, was ist: als hinfälliger Mensch. Subjekt. Schreibende dieser Flaschenpost voller Denkzettel, die im Fluiden treibt.


Anmerkungen
(1) Hartmut Rosa (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp, S. 157
(2) Das Wort digital verweist nicht nur auf das lateinische Adjektiv digitalis (zum Finger gehörig), sondern auch auf den roten Fingerhut, eine tödlich giftige Pflanze.
(3) Mercedes Bunz. (2012). Die stille Revolution. Berlin: Suhrkamp, S. 64
(4) Christoph Bartmann. (2012): Selbstdarstellung im Büro: Die Performance-Falle. Süddeutsche Zeitung,26. Januar 2012, verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/karriere/selbstdarstellung-im-buero-die-performance-falle-1.1267162 [01.03.2017], o. S.
(5) "Leistung und Darstellung, Leistungsdarstellung und Darstellungsleistung gehören zusammen in einer Gesellschaft, die weit weniger Leistungs- als Darstellungs- oder Performance-Gesellschaft ist, und dies nicht nur, weil das Ökonomische die Oberhand über alle Lebensbereiche gewonnen hätte, sondern auch, weil die Gesetze der visuellen und performativen Kultur alle Lebensbereiche (…) beherrschen." (ebd.)
(6) Roger Willemsen, Wer wir waren, Frankfurt/Main: Fischer, S. 50
(7) a.a.O. S.45f.
(8) Vilém Flusser (2012): Die Geste des Schreibens. In S. Zanetti (Hrsg.), Schreiben als Kulturtechnik: Grundlagentexte. (S. 261-268). Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 267
(9) Der Literaturwissenschaftler Davide Giuriato spricht von "den drei Epochen vom handschriftlichen zum mechanisierten hin zum digitalen Schreiben". (Davide Giuriato (2012): Maschinen-Schreiben. In S. Zanetti (Hrsg.), Schreiben als Kulturtechnik: Grundlagentexte. (S. 305-317). Frankfurt / Main: Suhrkamp, S. 305)
(10) Nicholas Carr (2010): Tiefen und Untiefen. Verfügbar unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/nicholas-carr-tiefen-und-untiefen-1912436.html [01.03.3017], o.S.
(11) Bartmann a.a.O., o. S.
(12) Bert te Wildt (2012): Medialisation. Von der Medienabhängigkeit des Menschen. Göttingen/Bristol: Vandenhoek & Ruprecht, S. 70
(13) Willemsen a.a.O. S. 49
(14) ebd.
(15) Roberto Simanowski (2013):. Das Internet als Ort der Literatur. Sprache im technischen Zeitalter, Heft 208, Dezember 2013, 51. Jahrgang, S. 429-438, S. 434
(16) a.a.O., S. 75 [Hervorhebung K.K.]
(17) Nicht nur Drawert schreibt dem literarischen Schreiben eine "innere Logik des Scheiterns" zu (a.a.O. S. 95).
(18) "Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen." Max Frisch (1985): Tagebuch 1946-1949. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 19.

Katharina [Körting]


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