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Die Mäzenin Tschaikowskis.
Obsession und Leidenschaft | Rezension


Tatjana Kuschtewskaja, 1947 in einer turkmenischen Wüstenoase geboren, und in der Ukraine aufgewachsen lebt seit 1991 in Deutschland, derzeit in Velbert, einer Stadt zwischen Düsseldorf und Essen gelegen. Die Autorin, die Mitglied im Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen Wien und im Exil-PEN ist, verfasste mehr als zwanzig Bücher und veröffentlichte 2022 einen Roman, in dem sie die platonischen und mäzenatischen Beziehungen zwischen Nadeschka von Meck (1831-1894) und Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893) literarisch aufarbeitete und zum Thema machte. In der ehemaligen Sowjetunion wurde diese Beziehung langjährig ignoriert und verschwiegen, aber es blieben mehr als 1200 Briefe erhalten, die von der Autorin gesichtet wurden und die das Material für den Roman abgaben, der in der Edition Noack & Block in Berlin erschienen ist.

Kuschtewskaja ist nicht die einzige, die den Briefwechsel durchforstete, der zumeist der literarischen Legendenbildung diente. Auch wenn die Autorin von Obsession und Leidenschaft spricht, beteiligt sie sich an dieser Legendenbildung nicht. Sie gewichtet das mäzenatische Handeln der Baronin Nadeschda Filaretowna von Meck, die als Gegenleistung auf einem Briefwechsel mit Tschaikowski bestand, in dem Gedanken über Musik, Leben, Freundschaft … ausgetauscht wurden. Kuschtewskajas Roman entwirft eine dokumentarische Szenerie, aber nach jedem Kapitel hält sie die eigenen Impressionen in ihren Aufzeichnungen "Aus dem blauen Heft" fest, so dass sich Dokumentation und Poesie ergänzen.

Die Beziehung zwischen von Meck und Tschaikowski ist eine besondere; es kann über alles geschrieben werden, aber die persönliche Begegnung, das Private, wird ausgeschlossen. Die Anbahnung des denk- und merkwürdigen Kontakts geht auf Nikolai Rubinstein, den Direktor des Moskauer Konservatoriums, zurück. Von Meck förderte Musiker, warum nicht auch Tschaikowski? Dieser von Krisen geschüttelte Komponist, wurde ihr großer Favorit. In Moskau über einen längeren Zeitraum fast nur der Kritik ausgesetzt, erkannte von Meck davon unbeeindruckt die Genialität des großartigen Komponisten und Musikers, ohne sich an dessen Homosexualität zu stören. Sie akzeptierte den um einige Jahre jüngeren Mann in seiner Eigenart und Eigenwilligkeit, vor allem jedoch als ein musikalisches Genie.

Platonisch, eine platonische Beziehung …, die hatten Nadeschka von Meck und Tschaikowski miteinander vereinbart. Kann man unter diesen Voraussetzungen überhaupt von Obsession und Leidenschaft sprechen? Man kann, Dramatik inklusive, obschon die Akzeptanz einer solchen Beziehung heutzutage schwerfällt. Man führt eine Beziehung, in der man/frau sich aus dem Weg geht, und landet beim Paradoxon einer "Beziehung der Nichtbeziehung", die alle Höhen und Tiefen durchmisst. Das wäre etwas für die psychoanalytische Forschung im Sinne eines Paul Watzlawick, der in einer These davon ausging, dass man "nicht nicht kommunizieren" könne. Die Ehe, seit Michel de Montaigne wird sie hinterfragt. "Eine glückliche Ehe schmäht die Liebe", schreibt Montaigne, "sie strebt danach, sie durch Freundschaft zu ersetzen." Das liegt ganz auf der Linie der Baronin, welche die Ehe als ein notwendiges Übel betrachtet: Dann "bleibt einem nichts anderes übrig, als eine glückliche Wahl zu treffen."

Nadeschda Filaretowna von Meck, die eine vermögende Witwe geworden war, stiftete Tschaikowski ab Ende 1877 eine jährliche Apanage, welche ein Ministergehalt in Russland bei Weitem überstieg. Tschaikowski revanchierte sich umgehend mit seiner "Vierten Symphonie" an die Gönnerin, deren Namen er nicht nennen durfte. Auf das Deckblatt der Partitur schrieb er daher: "Für meinen besten Freund." Diese mehr oder minder geheime geistige und mäzenatische Beziehung dauerte vierzehn Jahre, dann wurde sie von der als menschenscheu geltenden Baronin ohne Angabe eines Grundes abgebrochen. Ein Grund mag die kränkelnde Gesundheit der Mäzenin gewesen sein.

Woher kamen Geld und Vermögen der eigenwilligen Witwe? Von ihrem Ehemann Karl Georg Otto von Meck (1821-1876), der aus einer deutschbaltischen Adelsfamilie stammte, aber erst in Russland als höchst erfolgreicher Unternehmer ‒ führend in der Leitung des russischen Eisenbahnbaus ‒ das Vermögen erwirtschaftete. Aufgrund seiner Verdienste wurde er im Zarenreich als Baron Karl Fjodorowitsch von Meck "russifiziert". Diese besondere Sozial- und Aufstiegsgeschichte erweist sich ihrerseits als Roman, zumal das Leben ohnehin die besten Romane und Novellen selbst schreibt. Kuschtewskaja ist mit viel psychologischem und aufklärerischem Gespür den Entwicklungen nachgegangen. Die ausgebildete Musikpädagogin und Drehbuchautorin, dem Piano zugetan, hat ihren Roman nach dem Stilprinzip der Fuge aufgebaut, in der es zu vielen Variationen und unterschiedlichen Stimmen kommt. Psychologie und Erzählstil machen das Werk lesenswert.

Mäzenin, eine solche wollte die Autorin ebenfalls gerne werden. Zusammen mit Dieter Karrenberg hat sie seit 1998 in der Ukraine den ersten privaten Literaturpreis "Oles Gontschar" gestiftet. Seit 25 Jahren zeichnen Tatjana Kuschtewskaja und Karrenberg in Kiew Dichter, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Kritiker aus, die durch diese Gönnerschaft zumeist zu ihrer ersten Publikation gelangen.

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Tatjana Kuschtewskaja. Die Mäzenin Tschaikowskis. Obsession und Leidenschaft. Roman. 240 Seiten. Berlin: Edition Noack & Block, 2022, ISBN 978-3-86813-150-5

Wulf [Noll]


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