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Alles bleibt Bild


Die Kosmogonie des Träumens ist der Ursprung der Existenz selber. Jene Tiefe des Geistes, jene 'Abgründe der Seele', die im Träumen auftauchen, bezeichnen ... die ursprüngliche Bewegung der Freiheit und die Geburt der Welt in der Bewegung der Existenz*
. (Michel Foucault).


Analogien zwischen den beiden literarischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, der Romantik und des Surrealismus und deren Ausläufern lassen auf synchrone Phänomene schließen. Die Gedichte Um Mitternacht (1827) von Eduard Mörike und mein Gedicht Rosetta (2007) sollen hier als Beispiele dienen für eine Art Wahlverwandtschaft und Fortführung bis heute.


Die kosmische Ordnung als poetische Struktur

UM MITTERNACHT

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
        Und kecker rauschen die Quellen hervor,
        Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
                Vom Tage,
        Vom heute gewesenen Tage

Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
        Doch immer behalten die Quellen das Wort,
        Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
                Vom Tage,
        Vom heute gewesenen Tage


Klang und Form - Traum und Existenz
Durch den Singsang ruhiger Klänge und bewegter Melodien hat sich mir dieses Gedicht leicht eingeprägt - das erste Gedicht, an das ich mich erinnere - an das Wiegende, Gleichschwingende und Vorantreibende der Vokale und an die jeweils meist einsilbig betonten Endreime: Land, Wand, nun, ruhn, hervor, Ohr und Schlummerlied, müd, noch, Joch, Wort, fort. Bilder einer Wippschaukel kommen in den Sinn. Es ist Mitternacht, die dunkelste Stunde, die an Stillstand und an einen Höhe-, wie Wendepunkt denken lässt. Gerade war es noch der gewesene Tag, jetzt kündigt sich die anbrechende Nacht an, die unheimlich wirkt, aber auch in ihrer höchsten Vollendung einen Sog ausübt und anzieht.

Der Nacht, personifiziert im Bild der Mutter, sind die Quellen beigegeben. "Keck" rauschen sie und behalten, da sie mit den Bildern des vergangenen Tages, den sogenannten Tagesresten, den Schlaf begleiten, das letzte und erste Wort. Während die Mitternacht die dunkle Realität von Vergänglichkeit und Tod darstellt, ist sie zugleich auch der Ort, an dem das "ununterbrochene Summen des tiefen anfänglichen Lebens" (Henry Bergson**) vorgeführt wird. Und dies als altes "Schlummerlied," das sich wiederholt Tag für Tag, Nacht um Nacht. Im Bild der "goldne(n) Waage" wird der Vorgang festgehalten, der dieses Geschehen zugleich enthält und bewahrt.

Das Gedicht teilt sich, wie zwei "gleiche Schalen", in zwei Strophen, in denen die zwei miteinander reimenden Zeilen gleich gebaut sind. Der Rhythmus der ersten beiden Zeilen der jeweiligen zwei Strophen, gestaltet sich als ein vierhebiger mit anschließendem fünfhebigen Jambus in den nächsten zwei Zeilen. Er betont das regelmäßige Voranschreiten, während die jeweils folgenden vier Zeilen, davon eine verkürzt eingerückt, in unregelmäßigen, unruhig schnellen Rhythmen im Fortgang zum vierhebigen Daktylus - als drei Zeilen gelesen - einen Kontrast bilden, der in den letzten beiden Zeilen der zweiten Strophe durch die Wiederholung in ruhigere Bahnen gelenkt wird.

Beide Strophen haben acht Zeilen, gleichsam zweier entgegengesetzt liegender Figuren einer Acht, die sich wie ein Möbiusband*** entlang einer sich drehenden Schleife bewegen. So als würden sie einer archetypischen Grundform entsprechen, die ein Unendlichkeitsbild darstellt: das Bild eines immerwährenden Zyklus. Ein Spiel der Natur, an dem der Mensch Anteil hat, weil er ein Teil von ihr ist. Diese Verwobenheit von Mensch und Natur wird im Gedicht einerseits durch Bilder einer menschlich beseelten Natur hervorgehoben: der träumenden Nacht und der singenden Quellen und andererseits durch die Schaffung von Synästhesien, wie in der Zeile "... klingt des Himmels Bläue", dem Verschmelzen von Sinneseindrücken. Alles bleibt im Bild, das hier in einem Traumbild als "dem ersten Bild der Poesie" als der "erste(n) Form des Sprechens", der "Muttersprache des menschlichen Geschlechts’" zum Ausdruck kommt. So umschreibt Michel Foucault diesen Vorgang in seiner Einleitung zu Ludwig Binswangers, 'Traum und Existenz' und fährt fort: "Die Kosmogonie des Träumens ist der Ursprung der Existenz selber. Jene Tiefe des Geistes, jene 'Abgründe der Seele', die im Träumen auftauchen, bezeichnen ... die ursprüngliche Bewegung der Freiheit und die Geburt der Welt in der Bewegung der Existenz".*


Urbilder und das Prinzip der Schöpfung
Viele der Gedichte von Eduard Mörike, der mit dreiundzwanzig Jahren vor fast zweihundert Jahren Um Mitternacht schrieb, enthalten anthropomorphe Vorstellungen: hier die mütterlichen Eigenschaften verbunden mit denen der Nacht und dem Grundelement des Wassers. Und es ist die Nacht selbst als Personifikation des menschlichen Unbewussten und damit als antreibende Kraft, die die Tageswirklichkeit in das kosmische Gleichmaß transformiert. Diese Urbilder wie auch Tag, Berg, Zeit, Himmel, Stunde, Schlaf, Lied und Wort werden zur Anschauung gebracht, Bilder, die nicht unberührt neben einander stehen, vielmehr sich im Gegenüber aufeinander beziehen, verschränken und in einem umfassenderen Sinn ergänzen.

Ordnen wir diesen scheinbaren Gegensätzen das Prinzip der Schöpfung im Bild des erwähnten Möbiusbandes zu, kann man sie als eine dreidimensionale geometrische Gestalt beschreiben. Eine Gestalt, die in der Struktur im vorliegenden Gedicht auf drei Ebenen erkennbar ist. Innerhalb der ersten Ebene der menschlichen Erfahrung von Raum und Zeit erscheint diese zugleich auf einer zweiten Ebene in unserer Wahrnehmung als Tag und Nacht mit ihren vierundzwanzig Stunden, in denen wiederum auf einer dritten Ebene in unserer Vorstellung Naturbilder ihren Ausdruck finden. Teilen wir die vierundzwanzig Stunden des Tag- und Nachtzyklus durch drei (analog zu den drei Ebenen) ergibt dies die Zahl Acht, die in den je zwei Strophen mit je acht Zeilen sich verdoppelt. Nicht von ungefähr weisen die Begriffe acht, achtgeben, Achtsamkeit auf vielfältige naturphilosophische und kulturelle Bedeutungszusammenhänge hin. Hinsichtlich der lebendigen Natur wirkt die dynamisch bewegte Form des Gedichts spiegelbildlich in Variation und Wiederholung wie ein organisches System der Anpassung an den Wechsel der Zeiten.

In ihm ist ein Sich-Bewahren, eine Beständigkeit innerhalb der sich bedingenden und ergänzenden Beziehungen nach dem Grundsatz der entgegengesetzten Verdoppelung möglich. So entsprechen Inhalt und Struktur des Gedichts Um Mitternacht der Idee einer Natur und Mensch umfassenden Kosmologie. Hier spiegeln sich Natur - und Selbsterkenntnis. Und vielleicht ist diese vielfältige und wechselseitige Durchdringung von Bild und Form, Klang und Melodie, Mensch und Natur der Grund, warum die zwei Strophen Um Mitternacht so einprägsam und leicht dem Gedächtnis eingeschrieben bleiben. Auf bewegende und zugleich beruhigende Weise wird das Vergehen von Zeit, deren Umkehr und Dauer im Wechsel vergegenwärtigt: vom Präteritum Gelassen stieg die Nacht an Land über das Präsens Es singen die Wasser im Schlafe noch fort ins zweifach wiederholte Perfekt Vom heute gewesenen Tage. Kunstvoll aus dem Bildreservoir schöpfend regen die Verse an, eine kosmologische Ordnung wahrzunehmen und sich auszutauschen darüber, was Sinne und Vorstellungskraft zu erfassen vermögen. Wo blieben sonst Bild, Rhythmus und Klang?


In einer überrealen Realität
Im Gegensatz dazu führt das Gedicht Rosetta weg von dem ruhig bewegten Gleichklang hin zu den Takten tanzender Worte und Blicke.


ROSETTA

Eine Drehung genug
        Um nur ein klein wenig
Und meine liebe Liebe
Zählte die Kalenderuhr
Und höbe die singenden Gläser
Dass aus dem Wasser wieder Fische würden
Und aus der Erde lebendige Blumen
Und die Steine wieder steinern

Da die Lampen gelöscht werden
Unter den Kristallglocken

Und Rosetta voranging dem Tod zu erzählen

Dass die Woche sieben Tage hat aber acht Nächte
Dass wir unsterblich sind solange wir leben

Bis wir dem Schatten im Licht stehen

Dass wir aufwachen wenn wir träumen
Dass wir träumen
Dass in Rede und Zahl
Die Sprache der sichtbaren Welt entspräche
Da die Landschaften von allen Seiten
Auf die Bühne wachsen
        Nur um ein klein wenig
            Eine Drehung genug


Die gesellschaftliche Maskerade
Die Faszination über Robert Wilsons visuelle Bühnensprache war der Anlass für dieses Gedicht. Der Regisseur, Theaterautor und Architekt hatte mich bereits mit seiner Oper "Einstein on the Beach" und Schönbergs "Erwartung" beeindruckt. Am Berliner Ensemble folgte dann 2003 die Inszenierung von Georg Büchners tiefsinnig verspieltem Märchen "Leonce und Lena". Es präsentierte sich als eine Politsatire auf die deutsche Kleinstaaterei im 19. Jahrhundert. Im engeren Sinn führt das Stück anhand einer Liebesgeschichte und des Zusammenspiels von Bühnenbild, Maske, Musik und Dialog eine Parodie vor auf die sozialpolitischen Missstände einer ihre Macht missbrauchenden Oberschicht.

Nach der Premiere gab es im Publikum Unmut darüber, dass das Werk des Dramatikers Georg Büchner auf manieristische Weise vorgeführt würde. Andere Stimmen dagegen betonten, dass die poetische Sprache Georg Büchners unzerstörbar sei und andere wiederum, dass gerade diese Inszenierung die dialogischen Wortspiele in genialer Weise mit einer Maskerade verbinde, die die Gleichförmigkeit einer kostümierten unnatürlichen Lebenswelt zeige. Einer Lebenswelt bestimmt von einem selbst geschaffenen System, das Langeweile und Furcht vor Selbstzerstörung hervorbringt. In jedem Fall vermittelten die Revuecharaktere mit ihren stakkatohaften Bewegungen, die an die Automatenmenschen von E.T.A. Hoffmann erinnern, bewusst überspitzt in ständigen Variationen einen beklemmenden Gegenwartsbezug.


Poetische Spiegelbilder
Die Protagonistin Rosetta im Gedicht verweist auf die gleichnamige Figur im Drama, auf die unglückliche, schöne Tänzerin. Sie geht dem Tod voraus, zählt die Stunden und Tage, erzählt von dem Wunderbaren, dem Gefühl des Lebendigseins, das als ein Verlorenes erlebt wird. Indem sie in Wort und Gestik den schönen Schein verkörpert, entwirft ihre Figur eine Hommage an die Kunst selbst. Am Anfang stehen die Zeilen Eine Drehung genug / Um nur ein klein wenig und am Ende leicht abgewandelt Nur um ein klein wenig / Eine Drehung genug. Diese unterschiedlichen Wendungen legen nahe, dass, wo immer und wie groß oder klein, die Bewegung des Einzelnen ist, dieser sich Ausdruck verschaffen kann.

In beiden Gedichten geht es um die Stellung des Menschen in der Welt. Während Um Mitternacht die menschliche Natur in Traumbildern des Anfänglichen und Endlichen zur Anschauung bringt, wird im Gedicht Rosetta in Anlehnung an Büchners romantisches Märchen dies erweitert und vertieft. Rosetta wünscht sich, dass aus den Wassern wieder Fische würden. Sie geht voran, dem Tod zu erzählen, dass wir aufwachen, wenn wir träumen, dass wir träumen... Das aus dem Unbewussten Auftauchende wird in eine überreale Realität überführt, in der die Landschaften von allen Seiten auf die Bühne wachsen. Es liegt nahe an die Traumauslegung des Psychiaters und Analytikers Medard Boss anzuknüpfen, der dem "Ich träume..." die phänomenologische Sicht "Es träumte mir..."**** vorgezogen hat. Dennoch: nicht alles ist menschengemacht, nicht alles ist biologistisch-evolutionär erklärbar. Das, was in den Träumen als das Unvollendete und Zusammenhanglose sich darstellt, folgt gewissermaßen einem Chaos-Prinzip. Meist übersteigt der Zusammenhang von Traumbildern unsere Vorstellung von Logik. Aber das bedeutet nicht, dass ihr Auftauchen und ihre Abfolge keinem Gesetz folgt. Es sind die Muster, nach denen wir als Traumdeuter wie als Verfasser und Leser von Gedichten Ausschau halten.

Die Bilder sind nicht mehr nur Bilder von etwas, vielmehr verdichten sich in sich selber und erlangen so Sinn und Bedeutung in der Bewegung der Imagination, die die Lebendigkeit des Austauschs annimmt. Auf diese Weise zeugen - einer quasi irrationalen Logik folgend - die locker gehaltenen Zeilen des Gedichts Rosetta von einer Emphase, die mit der Stimme der Protagonistin uns - inbegriffen im sechsmal wiederholten 'wir' - als Gegengewicht dient zu Selbstentfremdung und Einsamkeit des modernen Menschen. Anknüpfend an die Melodie des sanften Schlummerliedes Um Mitternacht und deren romantische Vorstellung einer gesetzten Naturordnung öffnet sich in Rosetta ein Echoraum, in dem Ausdruck und Anteilnahme an der Verletzbarkeit von Mensch und Natur, auch auf deren wechselseitig belebenden Austausch verweisen.


Anmerkungen

Um Mitternacht, in: Eduard Mörike, Sämtliche Gedichte, Hanser Verlag München 1987, S.100.
Rosetta, in: Rosemarie Zens, Eingeschrieben in Kohlenstoff. Ausgewählte Gedichte, Rimbaud Verlag Aachen 2007, S.41.

* Michel Foucault, Einleitung zu Ludwig Binswanger, Traum und Existenz, Bern 1992, S.47.
** Henry Bergson, Philosophie der Dauer, Hg. von Gilles Deleuze, Meiner, F. Verlag, Hamburg 2013.
*** Dieses Gebilde lässt sich an einem Papierstreifen veranschaulichen, der entlang der Längsachse um hundertachtzig Grad gedreht und an beiden Enden verbunden ist. Als Entdecker des Möbiusbandes gilt August Ferdinand Möbius, der im 19. Jh. als Professor für Astronomie und Mechanik in Leipzig wirkte. Er konstruierte als erster die dreidimensionale Endlosschleife, bei der man nicht zwischen Vorder- und Rückseite unterscheiden kann.
**** Medard Boss, 'Es träumte mir vergangene Nacht', Bern, Stuttgart, Wien 1975.

Rosemarie [Zens]


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