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Die Macht entmachten; eine Spurensuche in zwei Teilen
Teil 2: Der digital-finanzielle Komplex


Der digital-finanzielle Komplex, charakterisiert durch das Zusammenspiel der alten Macht des Geldes mit den neuen Kräften des Computerzeitalters, besitzt keine bekannte Adresse, keine Zentrale, hat keine unmittelbar sichtbare Existenz, ist summa summarum ein Nichts. Tatsächlich sind es – vorerst? – nur seine Kritiker, die dem Komplex Realität verleihen, indem sie aus beobachtbaren Entwicklungen auf etwas Bedrohliches, eben auf jenen digital-finanziellen Komplex schließen, der hinter diesem und jenem Szenario steckt. Einerseits.

Andererseits jedoch gilt: Auch wenn das Ganze nirgends erscheint, so existieren sehr wohl seine Teile, insbesondere die großen Vermögensverwalter hier, sowie die Giganten der Digitalkonzerne dort. Die gibt es natürlich, wobei jeder für sich nichts Anderes als Business as usual betreibt. So wie BlackRock zum Beispiel, der Vermögensverwalter. Er tut seinen Job, bedient seine Märkte, hilft bei der Geldanlage, berät seine Kunden, betont das Primat des Menschen, der letztlich entscheide, wobei man sich zeitgemäß von einem digitalen Analysesystem, genannt ALADDIN (Asset, Liability and Debt and Derivate Investment Network), eventuelle Risiken berechnen lasse. Dies gelte BlackRock-intern, sowie für externe Kunden. Explizite, die Marktentwicklung möglicherweise beeinflussende Empfehlungen gebe es keinesfalls. Und was die Erkenntnisse beträfe, die BlackRock dank ALADDIN aus seinem weiteren Standbein, dem Beratungsgeschäft zufallen, so wären diese strikt vom eigenen Wertpapiergeschäft getrennt; durch so genannte "Chinese Walls", innerbetriebliche Barrieren, die zuverlässig der Nutzung von Insiderinformationen widerstehen.

Wie auch immer; was da in Gestalt von Vermögensverwaltern, Big Data und diversen Stakeholdern formal unabhängig voneinander agiert, erscheint wie ein schlagkräftiger Interessenverbund, vereint in der Sorge um? … zuallererst um sich selbst, um die eigene Agenda, und gerade deshalb gilt die Aufmerksamkeit der Beteiligten ganz entschieden ihrem mit ihnen quasi zusammengewachsenen Werkzeug: dem Geldsystem. Es zeigt alarmierende Symptome, kann den Reichtum kaum mehr halten; hochgradige Inkontinenz, so lautet der Befund, noch einmal dramatisch verschlechtert durch das Krisenmanagement nach 2007, als es hieß: Verschuldung und Geldschöpfung rauf, Zinsen runter; die Austreibung des Teufels mit dem Beelzebub.

Um den parasitären Geldüberhang, einen nominalen Haufen, der mittlerweile rund das Vierfache der Realwirtschaft ausmachen soll, davon abzuhalten, sich preistreibend, zersetzend unter die Realwirtschaft zu mischen, vermittelt die Finanzindustrie den Anlegern Anreiz um Anreiz, um in ihre Produkte zu investieren und dieserart – verdächtig kettenbriefartig – diese Finanzindustrie attraktiv und am Laufen zu halten. Aber nicht nur das: während alles geboten wird, um insbesondere die Masse der kleineren Anleger mit Finanztiteln – vorzugsweise mit ETFs (Exchange Traded Funds, börsengehandelte Fonds) – abzuspeisen, geht man selbst in Produktivvermögen und Sachwerte, insbesondere auch in solche, die krisenbedingt günstig zu haben sind. Und flankierend gilt es, die Geldzufuhr durch billige Kredite zu befeuern, dazu die Zinsen niedrig zu halten, was festverzinsliche Anlagealternativen natürlich unattraktiv macht.

Niedrige Zinsen treiben dann wiederum die Verschuldung und so die Geldschöpfung in weitere, krisenverstärkende Höhen, wo die überdimensionierte Geldmenge einen substanzlosen – virtuellen – Raum bespielt. Ein riesiges Nichts, in dem zu handeln eine Luftnummer ist, ein Drahtseilakt ohne Draht, Metaverse, "das Verfügbare des Unverfügbaren" (Oliver Krüger), die Physis bleibt draußen, Einstieg nur durch die Brille … und während sich "die Klasse der Nutzlosen" (Yuval Noah Harari) mit der Zeit daran gewöhnt, wie Hans im Glück nichts zu besitzen und glücklich zu sein, folgt der kleine aber bedeutende Rest der strikten Choreographie des digital-finanziellen Komplex: am Boden bleiben, Vermögensumschichtung betreiben, immer hinan zur Poleposition … nicht um im zukünftigen Rennen bella figura zu machen. Nein, bloß nicht echauffieren; rennen kann jeder.

Ich bin schon da, tönt der borstige Igel im falschen Spiel. Und was macht der einfältige Hase? Genau: Er rennt, mag es nicht glauben, rennt hin und her. Im Märchen war beim 74-mal Schluss. Pech gehabt! Der Hase ist tot. Staub hängt über den Furchen. Vernebelt den Blick.

Auch die digital-finanzielle Revolution vernebelt den Blick. Ja, das Neue hat stattgefunden, aber sein Eintritt in den Alltag der Menschen verlief doch recht unspektakulär, unaufdringlich und ziemlich gratis dazu. Eher wie Zeitvertreib. "Gamification": Spielifizierung, will doch nur spielen, erweckte es den Anschein ... und ging subkutan. Ich bin schon da, sagt der digitale Wandel. Draußen spielen, drinnen gewinnen, Breite und Tiefe, global und strukturell.


Entwicklung gestalten

Der Zeit hinterher rennen war gestern. Der Entwicklung, den Verwicklungen gestaltend voraus sein, an den Stellschrauben drehen, bestimmen, was, wie sein soll; das hat, das ist Zukunft. In der kann, wer sie glaubhaft gemacht hat, schalten und walten, zuschlagen, heraustreten aus dem Glied, sein eigenes Ding drehen, statt mit der Masse zu trotten.

Hier sitz ich, spricht die mit dem Digitalen verbandelte Macht, (in)formiere Menschen nach meinem Bilde, mache was kommt, habe die Narrative, die Medien, die institutionelle Definitionsgewalt, die Wissenschaften gekapert, die Politik erpressbar, mir hörig gemacht. Die Meinungen, das Wollen, das Werden bin ich. Auf dass meine Macht wirke. Weltweit, simultan. Der monopolistische Traum von der Ausschaltung der Konkurrenz werde wahr … Wettbewerb ade, kein Platz mehr für kindisch trotzige Verschwendung im noch immer einfältig gelobten Gegeneinander der Konkurrenz, die den Wettbewerbsgeplagten in Wahrheit nur geistloses Geplänkel ist, sinnfreie Vergeudung.

Anders als bei vergangenen Epochenwenden üblich, erfolgte die Erfassung der Menschheit von den technoiden Strömen des Computerzeitalters radikal, umfassend und schnell. Und während frühere technische Umwälzungen schrittweise, nicht lawinenartig über die Menschen kamen, Zeit brauchten, erst in einzelnen Sektoren, Teilen der Industrie, des Militärs, des Verkehrswesens wirkten und mit ihren Folgen das normale gesellschaftliche Leben nicht gezielt, sondern eher indirekt berührten, zeigt sich diesmal: Es geht ums Ganze, um das Menschliche an sich. Nicht einfach die Wirtschaft, sondern der Mensch hat Konkurrenz bekommen. Künstliche, und in diesem Falle dann gute Konkurrenz. Von Kopf bis Fuß, an Haupt und Gliedern, individuell und kollektiv.

Die Fähigkeit der bisherigen "Krone der Schöpfung" sich aus sich selbst heraus entwickeln, verbessern, sich verantwortungsvoll, einsichtig verhalten zu können, ist in Abrede gestellt. Mängelbehaftet, ungenügend gerüstet sei das menschliche Wesen, attestiert ihm die Digitalkultur und dekretiert: Schluss damit Mensch, Schluss mit deiner Hybris; vulnerabel bist du und Vulnerabilität säht dein Sein, deine Nähe, dein Atem, deine Berührung, dein Tun und Unterlassen. Schuldig, wenngleich unschuldig schuldig lautet das gerechte, zugleich – Glück gehabt – milde Urteil und verordnet betreute Optimierung.

Teil eins der Optimierung des Menschen zielt auf geistige Befreiung. Befreiung aus den Klauen einer kruden, in Unwissenschaftlichkeit gefangenen Unmittelbarkeit, sowie aus den Niederungen des menschelnden Empfindens, das verstrickt ist in Ichzentriertheit, Gefühligkeit und sich schlimmstenfalls auch in dreist verschwörerischen Blasen suhlt.

Teil zwei der Optimierung dient der physischen Gesundung. Gesundung, um die vom chaotischen Diktat des evolutionären Zufalls angekränkelte Körperlichkeit auf eine höhere Stufe zu hieven. Weg mit Gebrechen und Schwächen, hin zu gestalteter, ergänzender Perfektion. Auf zur Vollendung der Evolution – aber ohne lästig verschwenderische Umwege über zeit- und kräfteraubende Interventionen der unverlässlich launischen Natur.

Betreut, optimiert reibt Mensch sich geläutert die Augen … ist eins geworden mit dem Ziel, mit wahrer, sauberer – mathematischer – Harmonie. Wie rundum klar ist plötzlich das Sein. Oben ist oben, unten unten. Statt Meinungen, Ansichten, Gefühlen herrscht Zweck. Der Zweck ist der Sinn. Jeder ist (scheinbar) jeder. Zeitlose Zeit. Weggefegt sind Sorge und Furcht, Sünde und Schuld. In allen Sprachen erklingt ein einziger Chor: "Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke." Und so oder so ähnlich geht es einstimmig fort: Aus Dystopie ward Utopie. Orwell vom Kopf auf die Füße gestellt. Ozeanien ist schön. Ozeanien ist überall. Ozeanien ist Einheit.

Noch ist der unisono jubelnde Chor Phantasie. Noch, wenn man herumblickt, funktioniert die Welt nach altem Muster. Noch lassen sich die Völker im Inneren mit äußeren Feinden/Gefahren einen. Noch nützen Scheitern und Leiden der Einen zur Disziplinierung und Abschreckung der Andern. Noch taugt das Pochen auf Individualismus und Selbstbestimmung als Beweis der unsolidarischen Kälte seiner Protagonisten. Noch lässt sich das Unwissen der Vielen mit deren Glauben an Kompetenz und Integrität ihrer Führung beruhigen. Noch gilt Krieg als legitimer Erzeuger von Frieden.


Übergang. Hoffnung vermeiden

Noch herrscht Übergang. Noch ist unentschieden wohin die Reise geht. Noch haben sie viel zu tun bei ALADDIN. Und deren Risikoanalysen wären keine, wiesen sie nicht auf Gefahren hin. Dumm nur, dass der Überbringer, sollte das ruinöse Ereignis eintreffen, selbst in Gefahr gerät. "Don’t kill the messenger", ruft er dann beleidigt, dabei war er es, der Prophet, der, wenn es passiert ist, versagt hat, weil er es nicht schaffte, seine Klienten angesichts des nahenden Desasters zu aktivieren, sie zu bewegen, ihrer trügerischen Hoffnung – wird schon gut gehen – zu entsagen.
Der erfolgreiche Warner ist demnach der, der nicht recht behält, sondern auf Problemlösung setzt. Nicht warnen, um zu warnen ist sein Ziel, kein rechthaberisches l’art pour l’art, sondern Aktivierung. Die prognostizierte Gefahr dient als Mittel zum großen Zweck. Zum Sieg. Schreckensszenarien ja, aber produktiv, aufzeigen, dass und wie etwas geht, wie man ins Handeln kommt, statt in lähmender Hoffnung zu verharren.

"Hoffnung hat man zu vermeiden", sagt Günther Anders, der große Abrechner mit den Technikverharmlosern seiner Zeit, denen er vorwirft, ihre Ignoranz gegenüber dem (Atom)Risiko mit geradezu verbrecherischer Hoffnung zu übertünchen. "Mehr herstellen als (sich) vorstellen können" führe ins Verderben … bei ALADDIN nun könnte Günther Anders – wenn auch spät und in einem unerwartet anderen Metier – auf offene Ohren gestoßen sein, könnten seine Warnungen Wirkung gezeigt und dazu geführt haben, der leidigen Risikolaxheit durch strikte Risikobekämpfung zu begegnen. Und umso naheliegender wäre es gerade für die Betreiber von ALADDIN, sich auf einen wie Anders einzulassen, denn hier arbeitet man weiß Gott keiner Gurkentruppe zu, sondern einer relevanten Klientel, der es wann immer möglich darum geht, Nägel mit Köpfen zu machen.

Nägel mit Köpfen machen; welche sozioökonomischen, gesellschaftspolitischen Konzepte könnten sich hinter dieser populären Metapher verbergen? Geht es um Großes oder vielleicht doch nur um ein schlichtes Maximierungsproblem? Und falls tatsächlich komplexe Eingriffe in den gesellschaftlichen Wandel auf der Agenda stehen, auf welchem Menschenbild mag das wohl fußen, auf welche Faktoren meint man rechnen zu können, worauf wird gezielt, zugunsten von wem oder was?

Wäre es angesichts solch fundamentaler Fragen nicht einfach nur reizvoll, sondern gattungsspezifisch sogar von existenzieller Bedeutung, die damit verbundene Thematik umfassend sowohl – trotz notorischer Drittmitteluntauglichkeit – wissenschaftlich zu behandeln, als auch in der breiten Öffentlichkeit, in den Medien, in der politischen Auseinandersetzung zu diskutieren? Und zwar kontrovers, transparent, um Ausgewogenheit bemüht!

In der Realität findet das Gegenteil statt: Geheimniskrämerei, Vermutungen, Abwiegelung, Unterstellungen, Ausgrenzung und natürlich, kein Wunder, Verschwörungstheorien.

Nichts Genaues weiß man nicht; immerhin aber, um den erforderlichen Aufwand für alle möglichen Problemlösungen annähernd abzuschätzen, könnte ALADDIN einen alten Bekannten zurate ziehen: das Pareto-Prinzip, auch 80-zu-20-Regel genannt. Gäbe man sich, das besagt diese Regel, mit einem nur zu 80% erreichten Ergebnis zufrieden, käme man mit durchschnittlich 20% des gesamten Aufwands ans unvollständige Ziel, während der Aufwand, um die letzten 20% zu erreichen, bei 80% läge. 16-mal mehr.

Perfektion, so viel ist sicher, käme ihre Betreiber geradezu prohibitiv teuer zu stehen. Es sei denn … es sei denn, man schlägt Pareto ein Schnippchen und rät, beziehungsweise rät nicht, sondern präsentiert die Option: Aufwand sozialisieren, Ertrag privatisieren!

Cool, geniale Option, anstatt sich von 80/20 ins Bockshorn jagen zu lassen, könnte der überproportionale Aufwand für einen Wirkungsgrad in Richtung der Hundertermarke schlicht abgewälzt werden, umverteilt zugunsten der Ertragsmaximierer.

Topp; so wird – zumindest küchenpsychologisch gewendet – Gefolgschaft gezüchtet, während man Bedenkenträger demotiviert, isoliert. Ein Übriges mag impliziter Druck leisten, der auf denjenigen lastet, deren (unsolidarische) Antihaltung den von den Überzeugten schon sicher geglaubten Gewinn gefährdet.

In solch einem Klima treiben Verschwörungstheorien Blüten, gedeihen Geschichten von Drahtziehern aus verschiedenen Lagern, etwa über Transhumanisten hier oder Vertreter aus einem Mix von global ausgerichteten Neosozialkapitalisten dort, die alle umfassende Macht anstreben … nicht aus Eigennutz, wie sie betonen, sondern angesichts von je nach dem gesundheitspolitischen, ökologischen, demographischen, geopolitischen Problemlagen, für die sie mit Lösungen aufwarten. Aber auch schlicht kriminelle Motive können dabei im Raum stehen, eventuelle Versuche dieser oder jener Gruppen, die sich skrupellos mafiaüblicher und sonstiger zerstörerischer Machenschaften bedienen, die bestechen, erpressen, manipulieren, kriminalisieren, intrigieren, diffamieren, desavouieren, zersetzen, sabotieren, zensieren, spionieren, intimidieren, liquidieren etc.

Obwohl sich im Vorfeld weder die Faktizität von verschwörerischen Absichten noch deren Nichtvorhandensein eindeutig belegen lässt, ist es für demokratische Gesellschaften, die ihr Schicksal in der Hand behalten möchten unabdingbar, die Möglichkeit solchen Tuns nicht von vornherein auszuschließen. Die kritische Debatte entsprechender Anzeichen ist ein "gesellschaftlicher Service" (Milosz Matuschek). Wie der zu bewerkstelligen sei, bleibe der Imagination der Einzelnen überlassen. Üblicherweise, mangels direktem Einblick in verschwörerische Zusammenhänge – auch deshalb, weil sie möglicherweise überhaupt nicht existieren – werden Indikatoren als Wegemarken dienen.

Indikatoren sind ein wenig wie Rauch und Colt, wenn es darum geht zu klären, woher der Schuss wohl gekommen sein mag; Indikatoren sind Anzeichen für unmittelbar nicht mess- oder sichtbare Sachverhalte. Als Belege für behauptete/vermutete Zusammenhänge haben Indikatoren, vergleichbar den Hypothesen, immer vorläufigen Charakter. Versuche ihrer Falsifizierung machen sie fruchtbar, lebendig; und die debattierende Gesellschaft gleich mit.

"Der Kunde ist König", wer kennt ihn nicht, diesen freundlichen – falls nicht doch nur schmeichelnd umwerbenden – Spruch, der hier beispielhaft für einen Indikator angeführt sei; in diesem Fall als Ausdruck der Selbstverpflichtung der Wirtschaft, ihr Handeln daran messen zu lassen, wie stark sie sich an menschlichen Bedürfnissen orientiert. Allerdings scheint Kunde König mittlerweile nicht mehr wirklich en vogue. Ein Auslaufmodell. Auf der Skala der Wertigkeiten, dürfte sich die Ausrichtung am Kunden im Vergleich zu der an anderen Stakeholdern (Aktionäre, Lieferanten, Partner, Wettbewerber, Verbände, Politik etc.) im Niedergang befinden. Zudem sind überpersönliche Werte in die Höhe geschossen. Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Wokeness und ganz allgemein die Pflicht, sich quasi als Missionar für die Zähmung der Welt einzusetzen, dominiert den nach außen getragenen Zielekanon der Unternehmen. Ihr Heilsversprechen für die Kunden verlagert sich in die Zukunft. Statt sich um krude Bedürfnisbefriedigung in der Gegenwart zu kümmern, predigt man Verzicht. Das neue In heißt nicht Kür, sondern Pflicht.

Unabhängig davon, dass nicht eindeutig ersichtlich ist, inwiefern die propagierten Werte vielleicht doch nur Lippenbekenntnisse, etwa Greenwashing sind, dürfte feststehen: Die Wertschätzung des Kunden fällt und fällt, zuerst kam sein Sturz vom königlichen Thron, dann seine Umdeutung zu einem lediglich für Umsatz taugenden Nützling, gefolgt von seiner finalen Entwertung zum eindeutigen Schädling, einem ressourcenvernichtenden, negative Effekte produzierenden Etwas, das sich als solches auch noch gedankenlos reproduziert.

Seinen absoluten Todesstoß … bedeutet das allerdings nicht. Das Gegenteil, eigenartigerweise, ist der Fall. Ja, der Kunde wird noch gebraucht. Nicht nur in seiner Rolle als Punchingball, die er als der angeprangerte Verursacher allen neuzeitlich entdeckten Übels spielt. Zugleich taugt er bestens als Alibi für die Wirtschaft, die ja notgedrungen eine gewisse Kontinuität wahren muss, solange sie dem alten König, und mit ihm der infolge von "Industrie 4.0" unbedeutend werdenden Arbeiterklasse ein Gnadenbrot gewährt. Selbstverständlich nicht voraussetzungslos. Chaos ade. Diszipliniert, optimiert muss er sein, der Gnadenkunde, zur Demut erzogen, vom Verbraucher zum Sparer, vom Individualisten zum Kollektivisten, von der Krönung der Schöpfung über den gläsernen Menschen zum dankbar devoten Objekt. Indikatoren, die in diese Richtung deuten, lassen sich finden, benennen, debattieren, ebenso wie jene, die zeigen, dass Alltagserfahrung, menschliches Empfinden, Bauchgefühl und Intuition verlieren, zugunsten von vermitteltem, synthetischem Erkennen nach dem Motto: "follow the science".


Die Macht entwischt

Noch herrscht Übergang, noch ist unentschieden, wohin die Reise geht, hieß es oben. Allerdings scheint sich inzwischen das Spielfeld des "umgekehrten Totalitarismus" beträchtlich verändert und dabei erweitert zu haben. Umgekehrter Totalitarismus, man erinnere sich: Sheldon S. Wolin hatte den Begriff geprägt, mit dem er auf solche Regierende deutete, die sich in ausgehöhlten, demokratischen Kulissen wie richtige Herrscher bewegten und doch nur Herrscherdarsteller seien, die einem von ökonomisch mächtigen Kreisen geschriebenen Drehbuch folgten: "Der Führer ist nicht der Architekt des Systems, sondern sein Produkt."

Zur Erweiterung der Analyse Wolins um einen zeitgemäßen Faktor wurde ebenfalls schon kurz auf den Einfluss der fortgeschrittenen Computerisierung verwiesen; deren Auswirkungen betreffen die Machtdarsteller bei weitem nicht alleine. Außer den willfährigen Marionetten stehen die Strippenzieher selbst im Bannkreis der von ihnen gerufenen Geister. Es sind ebendiese Geister, Geldmacht und Digitalisierung, die ihre Nutzer dazu verleiten zu meinen, dadurch mit genügend Macht und Kontrolle ausgestattet zu sein, um die Ausprägungen des humanen Ökosystems in ihrem Sinne gestalten – einebnen – zu können. Einebnen mit der Folge einer Art menschlichen Artensterbens, das aus Vielfalt Einfalt macht, gestanzte, hin- und hergeschobene Player. Figuren ohne Eigenschaften, sehr wohl aber in verschiedenen Funktionen, Täter die einen, Opfer die andern, bevölkern sie gemeinsam die Bühne.

Scheinriesen sind sie alle, die Ohnmächtigen sowieso, aber auch die Macher, wobei die Rollen der Darsteller in diesem Stück, das man herkömmlich Leben nennt, nicht ausformuliert sind. Beliebig sind sie jedoch ebenfalls nicht. Die Spielschar folgt einer eindeutigen, allerdings höchst ungewöhnlichen Regie. Es sind die Requisiten, nach denen man sich reckt und streckt. Requisiten in Gestalt der genannten Artefakte – Geldmacht und Digitalisierung –, die ursprünglich für dieses Zusammenspiel nicht gemacht, sondern nachträglich entsprechend arrangiert worden sind. Arrangiert von wem? … Hier schließt sich der Kreis; die Anordnung der Teile geht zurück auf – man ahnt es – auf den digital-finanziellen Komplex.

Dance for me, Salome, denkt der Antreiber und ist doch auch nur Getriebener. Im Märchen war es noch anders: Der Mensch macht sein Glück; das hilfreiche Werkzeug fällt ins Vergessen, tritt ab, verstaubt im hintersten Eck. Nicht so unter dem neumodischen ALADDIN. Der ändert die Regeln, stochert weiter in dem Stoff, den er für seine Problemlösungen braucht: im Risiko! Erst das Gift bringt das Gegengift zum Strahlen.

Ohne Risiko – modelliert, extrapoliert, sichtbar gemacht, für relevant erklärt – keine Rettung. Und Mensch, dankbar gewarnt, sekundiert der unermüdlichen Rettermaschine. Erfolgsstory verkehrt! Jetzt schlägt das Werkzeug den Takt, zeigt, wo es langgeht, während ehemals selbstbestimmte Wesen zu beflissenen Objekten degenerieren. Würde, Freiheit, Muse, Zufall, Empathie, Besinnung, Seele und Ähnliches mehr. Alles passé. Tot und begraben. Und damit auch der Verantwortung enthoben. Übernommen vom als überlegen definierten digitalen Kalkül, das ohne Humanitätsduselei, stattdessen ausgestattet mit rational genannter, künstlicher Intelligenz, in konsequenter Singularität, das so gar nicht machtversessen scheinende Ziel verfolgt: Der Mensch, wenn er schon da ist, möge sich doch bitte bemühen, den umgekehrten Turing-Test zu bestehen.
"Bestanden" wäre nun ein recht eindeutiger Indikator für die gelungene Optimierung des Menschengeschlechts. Optimierung im Sinne einer Angleichung des Humanen an die unbestechliche Erkenntnisfähigkeit der Maschine. Denn ebenso, wie der Turing-Test im Original dem artifiziellen Denkvermögen eines Computers bescheinigt, dem eines Menschen dann gleichwertig zu sein, wenn ein Fragesteller aus Fleisch und Blut nicht unterscheiden kann, ob die Antworten, die er erhält menschlichen oder maschinellen Ursprungs sind, so würde umgekehrt gelten: Mensch hat den Turing-Test "bestanden", wenn kein Blatt mehr zwischen die digitalintelligenten Problemlösungsvorschläge und deren Implementierung passt. Test bestanden, altes Leben ade. Und die Macht? Die hätte sich mal wieder verschleiert.

Die Macht ist entwischt, offiziell allerdings nicht zugunsten einer vermeintlich höheren Intelligenz, sondern im Namen moralischer Pflicht. Hier in Form der Bekämpfung eines, wie es immer so heißt, eines überraschend ausgebrochenen Krieges. Diesmal Ukraine, ganz in der Nähe; bald waren die Dämme gebrochen, die Preise explodiert, die Absorption des Geldüberhangs gestockt, die Notenbanken mussten reagieren, die Zinsen stiegen und steigen weiter, der Geldriese hängt schlapp in den Seilen, jetzt erst – schuld sind ja die andern – darf er zeigen, dass er nicht kann, was er soll.

Krieg ist Frieden. Zum Preis immer brutalerer Gamification. Eigentlich leicht zu durchschauen.

Rainer [Willert]


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