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Erdbeermarmeladebrot
Mutti drückt mir einen Kuss auf die Wange und schlägt die Tür hinter ihr zu. Jeden Morgen um 7:15 Uhr muss sie zur Arbeit. Jeden Morgen um 7:25 Uhr rennt sie noch hektisch durch die Wohnung, die nur aus der Küche und dem Schlafzimmer besteht.
Ich sitze da, kaue auf meinem Erdbeermarmeladebrot, und beobachte das Schauspiel. Vom Küchentisch aus habe ich unverstellten Blick auf das gesamte Drama. Die Besetzung wechselt nie. Dann ist sie weg, ich höre, wie die Stöckelschuhe am Gang immer leiser werden. Stille.
Ich öffne das Fenster und lege den Rest vom Marmeladebrot auf das Fensterbrett. Für die Tauben. In meiner Vorstellung sind die Tauben grau, weil sie graue Krümel vom grauen Asphalt picken.
Jetzt ist es auch für mich Zeit zu gehen. Ich nehme den Schlüssel mit dem Pferdeanhänger und schlüpfe in meine Sandalen. Meine braune Schultasche drückt auf meine Schultern. Meine Oma sagt, ich bin so dünn wie der Suppenkasperl. Wenn ich meinen Bauch ein bisschen einziehe, kann ich fast mit der ganzen Hand unter meine Rippen greifen. Die Tür fällt ins Schloss. Ich habe vergessen Mutti nach einer Unterschrift zu fragen.
Der Morgen ist kühl, mich fröstelt. Ein Löwenzahn zwängt sich durch eine Ritze und lässt sein Köpfchen hängen.
Frau Musil vom ersten Stock stützt sich auf ihren Gehstock und mustert mich, als ich bei ihr vorbeigehe. Ich grüße nicht und sie sieht mich strafend an. Der Bauch von ihrem Hund hängt bis auf den Gehsteig, so fett ist er. Ich hüpfe auf einem Bein. Vorne an der Ecke steht ein Mann mit schwarzem Hut. Er steht ganz reglos da. Wird er mich packen, wenn ich an ihm vorbei gehe?
In der Schule setze ich mich gleich auf meinen Platz. Ich lege mein blaues Federpennal auf den Tisch. Es ist mein ganzer Stolz, es hat drei Fächer. Niemand in der Klasse hat mehr Buntstifte als ich. Auf dem Tisch ist ein dunkler Fleck. Ich spucke darauf und schmiere herum, bis er weg ist. Die Lehrerin hat graue Haare, die wie bei einem alten Besen wegstehen.
Der Ali steht draußen vor der Tafel. Er weiß nichts und die Lehrerin schlägt ihm auf die Finger. Dann bin ich dran und sie merkt, dass die Unterschrift fehlt. Sie schreit ganz laut und ein Speicheltropfen fliegt dabei auf meinen Tisch, genau dort, wo der Fleck war.
Am Nachhauseweg gehe ich bei der U-Bahnstation vorbei. Dort sitzen Punker mit bunten Haaren am Boden. Meine Mutti sagt, die nehmen Drogen. Manchmal liegen blutige Spritzen in unserem Stiegenhaus, aber die greife ich nicht an.
Jetzt ist es heiß. Ich gehe die Striche am Asphalt entlang. Wenn ich auf eine Fläche ohne Striche steige, dann sterbe ich.
Vor dem Wollgeschäft steht eine Frau. Ich kenne sie. Sie ist die, die im Geschäft hinter der Budl steht und die Wolle aus den raschelnden Plastiksackerln hervorkramt. Sie ist schon alt und hat einen Buckel. Meine Mutti sagt, sie ist keine Hexe.
Zu Hause nehme ich mir ein hartes Ei aus dem Kühlschrank und eine Banane. Das Erdbeermarmeladebrot am Fensterbrett ist noch da.
Dann kommt Mutti nach Hause.
Wir gehen baden. Wir sagen „baden“, aber wir gehen in kein Schwimmbad, da das Geld kostet, das wir nicht haben.
Wir fahren mit der U-Bahn nach Hütteldorf. In Meidling steigt ein Mann ein, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet ist. Auf dem Kopf trägt er einen Blätterkranz und in der Hand hält er einen Apfel und einen Stock, auf dem oben eine Plastiktaube befestigt ist.
Der schon wieder, flüstert meine Mutti und verdreht die Augen.
In Hütteldorf gehen wir eine Bahnböschung entlang, bis wir zu den Überschwemmungsbecken des Wienflusses kommen. Dorthin gehen alle, die baden gehen und kein Geld für das Schwimmbad haben.
Der Wienfluss fließt in einem Betonbett, links und recht davon ist ein Streifen, gerade so breit, dass meine Mutti sich hinlegen kann. Sie schmiert sich mit Sonnencreme ein.
Wir kennen die meisten. Eine Frau mit roten Haaren hat eine ganz dunkle, runzelige Haut, die sich zwischen ihren Brüsten kräuselt.
Auch das Mädchen mit den schwarzen Haaren ist wieder da. Sie heißt Steffi. Wir beide haben bunte Badeanzüge an, so wie man sie auch am Meer trägt. Wir klettern im Tunnel der Schleusenanlage herum. Dort drin ist es dunkel und riecht modrig. Irgendwann steht dann meine Mutti draußen und ruft, dass wir herauskommen sollen. So wie sie da draußen steht, sieht sie aus wie ein zu helles Polaroid.
Wir bekommen Mannerschnitten und Himbeerwasser. Meine Mutti legt sich wieder hin und macht die Augen zu. Sie ist immer müde.
Wir klettern über eine Mauer, da ist ein Spielplatz. Die Schaukeln sind kaputt, aber man kann super auf den Stangen herumklettern.
Dann sagt Steffi, sie muss mir was zeigen und zieht mich in die Büsche, die neben dem Spielplatz sind. Das Grün schlägt über meinem Kopf zusammen und es riecht nach Erde. Steffi hält sich den Finger auf die Lippen. Ich wunder mich, dass Steffi leise sein kann. Wir biegen Äste zur Seite und achten darauf, dass nichts unter unseren Füßen knackt. Dann sind wir da und Steffi zeigt in einen Busch, der noch dichter ist, als alle anderen Büsche um uns herum. Ich weiß nicht, was da sein soll und strecke meinen Hals. Und dann sehe ich sie: Es sind drei winzig kleine nackige Vögelchen. Ihre Augen sind große blaue Kreise. Sie zucken und fiepen leise.
Voll der Wahnsinn, sagt Steffi.
Die kleinen Vögel haben Hunger. Ich muss an mein Erdbeermarmeladebrot denken, das noch immer zu Hause am Fensterbrett liegt.
Wir gehen wieder zurück auf den Spielplatz. Auf einmal packt mich Steffi am Arm und flüstert, der Kinderfänger kommt. Dann läuft sie weg und ich bin mit dem Kinderfänger alleine. Es ist ein alter Mann mit Hut. Er greift in die Tasche und streut Brösel auf den Boden. Drei Tauben kommen geflogen und beginnen eifrig zu picken.
Ulla [Unzeitig]
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