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Die Macht entmachten; eine Spurensuche in zwei Teilen
Teil 1: Welche Macht?


Die Macht entmachten ... wenn das so einfach wäre. Zuerst muss man sie dingfest machen, die Macht. Auf der Suche danach, denkt man natürlich ans Geld, aber das ist immer im Fluss, geht symbiotische Verbindungen ein, die seine Schlagkraft erhöhen und dabei die Quelle der Macht verschleiern. Eine dieser Verschleierungen ging einher mit der so genannten "Finanzialisierung", die das Volumen der monetären Transaktionen erheblich anwachsen ließ. Eine nächste Verwischung der Spuren besorgte der "Hochfrequenzhandel", der seinerseits durch die Erhöhung der Transaktionsgeschwindigkeit zur weiteren Ausweitung der Umsatzvolumen beitrug. Den vorläufigen Höhepunkt der Potenziale der alten Geldmacht brachte die Verbindung mit der neu aufgekommenen digitalen Maschinerie zum "digital-finanziellen Komplex", was einem nicht mehr nur quantitativen, sondern qualitativen Sprung gleichkommt und die Ambitionen der digital aufmunitionierten Geldmacht ins Vorfeld verschiebt. Anstatt nachträglich auf Zustände und Gegebenheiten zu reagieren, ist man nun von vornherein darauf aus, dem Kommenden selbst Gestalt zu geben. Dieser fortschreitenden Selbstermächtigung der Macht wird hier nachgegangen. Und zwar in zwei Teilen. Teil 1 versucht zu ermitteln, was ist, gefolgt von dem, was möglicherweise wird.


Versagen allenthalben! Krachend verfehlen die herrschenden Mächte ihre feierlich propagierten Zwecke und damit ihre Daseinsberechtigung. Mit ihnen an der Spitze kann die Menschheit nur davon träumen, dass aus den schönen Worten, Schaden von den Völkern abzuwenden, Taten würden. Die Realität ist trist. Von Anbeginn an. Die Instanzen der Macht versagen sowohl im Sinne ihrer großen Mission als auch bezüglich ihrer Fähigkeit, sich den übernommenen Aufgaben gemäß aufzustellen und wenn nötig, sich selbst, ihre Strukturen und Prozesse zu optimieren, zu reformieren, zu säubern.

Theoretisch die einzig sichere, zugleich aber auch radikalste Lösung des Machtproblems böte ein Ansatz, der die Macht selbst als die Quelle allen Übels identifiziert und auf deren umfassender, allseitiger Abschaffung besteht.

Durch die ersatzlose Entmachtung jeglicher Macht zu Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit. Was extrem idealistisch klingt ist so weltfremd nicht. Zumindest partiell durchziehen die Macht begrenzende, sie einhegende, kontrollierende Bemühungen die gesamte Menschheitsgeschichte. Letztlich jedoch blieb alles vergebens. Sowohl was nationale als auch internationale Kontexte betrifft; überall klaffen beträchtliche Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit, neue Lücken reißen auf, unabhängig davon, wo angesetzt wurde, ob am Menschen selbst oder an den nationalen oder internationalen Institutionen. Versprochen – gebrochen; darauf lief und läuft es immer hinaus, entweder direkt oder häufiger verbrämt durch gute Absichten, beste Aussichten, die winken, wenn wir nur bereit sind, ein letztes Mal noch das Tal der Tränen zu durchschreiten. Was uns dort erfahrungsgemäß wirklich erwartet, sind weitere Tränen.

Radikale Schnitte sind unerlässlich. Die Macht muss verschwinden … doch dazu muss sie erst mal gefunden sein, diese Meisterin im Tarnen und Täuschen, die sich, verfemt und gehasst wie auch immer sie sei, über ewige Zeiten hinweg ihre Vitalität so fraglos bewahrt. Wie macht sie das bloß, diese Macht?

Welche Macht? Die der andern natürlich, die Macht der Feinde, der Mörderbanden, heißt es üblicherweise; ein Argument, das regelmäßig auf Gegenseitigkeit beruht: A deutet auf B, wenn er vom Bösen spricht … und umgekehrt B auf A, wobei beide danach trachten, die Macht des jeweils andern zu eliminieren. Allerdings: als nachhaltige Grundlage für eine friedliche Z ukunft dient das Denken in Kategorien der Auslöschung – wie der gesunde Menschenverstand weiß, sowie die Empirie zeigt – nicht, und als Ausdruck von Zivilisiertheit taugt die bornierte Einteilung in eigene Macht, GUT, fremde Macht, SCHLECHT, ebenfalls nicht.

Fakt ist aber auch: Nicht jeder, der seine Hosenträger spannt, der großer Mann markiert, ist gefährlich. Nicht jegliche Macht ist verwerflich. Hinzu kommt, dass vieles sich im Zeitablauf anpasst, modernisiert; die typischen Eigenschaften und persönlichen Hintergründe von Herrschaft unterliegen dem Wandel, ebenso wie die zur Machtausübung gehörenden Mittel. Die Mächtigen, und dann auch die dazu passenden/nötigen Ohnmächtigen, sind Ausdruck ihrer Zeit. Machtlose, die man anno dazumal womöglich zu Tode quälte, mögen in modernen Zeiten aufs Angenehmste betreut abserviert, aussortiert werden. Und auf Seiten der Macht wiederum kommt es vor, dass jemand/etwas sich beim Näherkommen als Scheinriese entpuppt, über, hinter dem ganz andere, Personen und/oder Sachzwänge die Fäden ziehen.

Machthaber können zu Befehlsempfängern verkommen oder gar von Anfang an nichts anderes gewesen sein als vorgeschobene Figuren. Dass dem demokratischen Schein nicht zu trauen sei, belegen die Forschungen, die Sheldon S. Wolin über Jahrzehnte betrieb und die ihn bewogen, bezogen auf die Entwicklungen in den USA, vom "umgekehrten Totalitarismus" zu sprechen. Die von Wolin 2008 so bezeichnete Umkehrung bescheinigt der westlichen Führungsmacht zunehmend totalitäre Verhältnisse, die sich allerdings anders als in den vergangenen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, hinter einer äußerlich intakt gerierenden demokratischen Fassade verschanzten.

"Der Führer ist nicht der Architekt des Systems, sondern sein Produkt." Mit dieser Aussage rückt Wolin die USA in ein von Marionetten regiertes Land. Das eigentliche Kommando, demokratisch nicht legitimiert, führten insbesondere mächtige Wirtschaftskreise, verschiedene Interessengruppen, Geldeliten. In zeitgemäßer Ergänzung zu deren Interessen sei hier auf eine weitere Machtquelle, die sich ebenfalls keiner demokratischen Abstimmung stellt verwiesen: die fortgeschrittene Digitalisierung.

In Anlehnung an das Sprichwort, wonach Gelegenheit Diebe macht, stecken in der Computertechnologie Machtpotenziale, die sich rein technokratisch gebärden, dabei aber politisch beileibe nicht ambitionslos bleiben müssen. Es ist die massenhafte Erfassung, Verarbeitung, Nutzung von Daten, die zusammengenommen Machtvarianten eröffnen, die einer "händisch" organisierten Datenkrake à la Stasi weitaus überlegen sind und dazu verführen, sich ihrer zu bemächtigen. Und noch tiefer, gründlicher kann der Zugriff im Zusammenspiel mit einer weiteren Entwicklung erfolgen, die als solche unabhängig von der Computerisierung um sich griff: mit der "Finanzialisierung" der Weltwirtschaft. Beide Entwicklungen – Computerisierung und Finanzialisierung – adäquat kombiniert, ebnen möglichem Machtmissbrauch den Vorstoß in völlig neue Dimensionen.


Finanzialisierung und Hochfrequenzhandel

Zunächst aber zurück zur "Finanzialisierung", die nicht von Anfang an, dann jedoch zunehmend danach trachtete die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft unabhängiger zu machen. Während ursprünglich die wesentliche Aufgabe des Finanzwesens darin bestand, die realwirtschaftliche Wertbildung insbesondere durch Kredite zu dynamisieren, so tritt dieser Wirtschaftszweig längst eigenständig als "Finanzindustrie" auf. Als eine Industrie, die in vermeintlich paradiesischer Unbeschwertheit, in Wahrheit aber mehr und mehr mit hütchenspielerischer Trickserei Produkte aus sich selbst heraus kreiert und vermarktet. Produkte, die Fülle mimen, die euphemistisch vorgeben, das lästige Diktat materieller Knappheit und menschlicher Irrungen hinter sich gelassen zu haben.

Ein wichtiger Treiber, der die Inbesitznahme – Ausplünderung – dieses vorgegaukelten Schlaraffenlandes beflügelte, bildete der so genannte "Hochfrequenzhandel" auf den Wertpapiermärkten. Einige innovative Pioniere hatten sich dazu ein leistungsfähiges Instrumentarium aus Hard- und Software geschaffen, mit dem sie schlicht schneller als die Konkurrenz agieren konnten. Die Nase vorn haben; so lässt sich deren letztlich banales ökonomisches Prinzip beschreiben. Bei Kurs- beziehungsweise Preisschwankungen hier, die alsbald auch auf den Monitoren dort erscheinen, geht es dann darum, den Konkurrenten zuvorzukommen, Differenzen abzuschöpfen, Arbitragegewinne einzufahren.

Bei ansonsten vergleichbarem Informationsstand der Beteiligten wurde so die technische Beherrschung des Faktors Zeit die wesentliche Voraussetzung für Erfolg. Ein Wettlauf um unfassbar winzige Bruchteile von Sekunden, gegen die ein Wimpernschlag fast eine Ewigkeit währt zwingt dazu, den Algorithmus so zu programmieren, dass er auf minimalste Veränderungen reagiert. Handeln, bevor die andern es tun. Entsprechend gering sind die erzielbaren Margen; zur Kompensation werden die einzelnen Umsatzvolumen, sowie die Transaktionsgeschwindigkeit höher und höher getrieben, was zur Aufblähung der Märkte – einschließlich der Kreditmärkte und somit zur wachsenden Verschuldung der Spekulanten – führt. Und das immer mehr, denn nach den Pionieren fluten, wie üblich, Imitatoren die Märkte, was die Margen neuerlich senkt und folgerichtig – in Kettenbriefmanier – zusätzlich zur Aufblähung der Finanzindustrie führt.

Weiteren Zulauf erhielten die Finanzmärkte nach verschiedenen Deregulierungen des Bankensektors, der, von restriktiven Fesseln befreit, ebenfalls in die spekulativen Märkte drängte. Erneut stieg der Wachstumsdruck und erhöhte den Bedarf nach zusätzlich handelbaren Finanzprodukten. Die beileibe nicht neue, wohl aber in vielerlei neuen Gewändern präsentierte Lösung brachten Derivate, die man sich je nach Gesinnung wie das Schweißtuch der Veronika oder profaner einfach als den Aufguss oder Abklatsch von wirtschaftlichen Bemühungen, Vorgängen, Verpflichtungen, Erwartungen vorstellen kann. Abgeleitet aus bereits vorhandenen Basiswerten bieten Derivate hier den Vorteil, Wachstum im Finanzsektors zu ermöglichen, ohne zuvor auf zusätzliches reales Wirtschaftswachstum angewiesen zu sein. Darüber hinaus eröffnen Derivate den Spielraum für immer komplexere Abstraktionsstufen: für die Schaffung von Finanzprodukten, deren Rohstoffe ihrerseits aus Derivaten bestehen. Und solche Mehrfachderivate, Derivate von Derivaten, erinnern nur noch als Schatten von Schatten an die alten Mühen und Knappheiten der Realökonomie, sind Schattenspiele, die durch geschickte Ausleuchtung – Marketing im weitesten Sinne, sprich durch Ausstattung, Zusammensetzung und Image der Produkte – einen höchst soliden Eindruck von den die Schatten werfenden imaginären Gegenständen vermitteln. Berühmt geworden in diesem Zusammenhang sind die so genannten "Credit Default Swaps" (CDS), die, insbesondere zusammengepackt in Indizes oder Körben, ein wesentlicher Auslöser der Finanzkrise ab 2007 wurden.

Die Blase platzte, der Steuerzahler zahlte, beziehungsweise bekam den Schuldenberg übergewälzt. Die von Privatunternehmen – charakterisiert durch "too big to fail" – aufgerissenen Löcher wurden mit Zauberei: mit öffentlichen Löchern gestopft. Die systemrelevanten Versager wurden zunächst nur buchungstechnisch zulasten der ungefragt die Versager stützenden Opfer entlastet … und schon ging es weiter. Auch mit der Symbiose aus Finanzkraft und Geschwindigkeit, dem Hochfrequenzhandel, der um 2010 in den USA bereits rund 60 % des Wertpapierhandels umtrieb.

Und genau das, was das "Parkett" der Börsensäle alt und älter aussehen ließ, die Digitalisierung, wurde deshalb nicht weniger, sondern mehr … der digital aufgerüstete Handel sägt munter an dem Ast, auf dem er sich tummelt. Der Sturm gegen das System wird zum Hurrikan; ohne die hurrikanüblichen Lehnnamen wie Katrina, Wilma, Felix oder gar Igor.


Digital-finanzieller Komplex

Mit der Namenlosigkeit ist es vorbei. "Digital-finanzieller Komplex" nennt Ernst Wolff das Phänomen, eine bereits um die Jahrtausendwende aus dem Zusammenspiel mächtiger Vermögensverwaltungen mit den Giganten der IT-Konzerne erstandene Macht.

Und das Wort ist Fleisch geworden, ein Koloss. Ein aus formal selbständig operierenden Einheiten bestehender, sich einander ergänzender Verbund, wobei BlackRock, der 1988 gegründete Vermögensverwalter, als der wesentliche Vorreiter gilt.

Wer BlackRock sagt, kommt regelmäßig auch auf ALADDIN (Asset, Liability and Debt and Derivate Investment Network) zu sprechen, ein von diesem Vermögensverwalter eingeführtes Analysesystem, das zunächst nur zur Einschätzung der firmeneigenen Anlagerisiken diente. Mit der Zeit ist ALADDIN, hinter dem mittlerweile ein gigantischer Apparat aus Hardware, Software und Manpower steht, zum Kernstück oder Bindeglied des digital-finanziellen Komplex avanciert.

Das Akronym ALADDIN erinnert unmittelbar an eine der phantastischen Geschichten aus 1001 Nacht, an Aladin, den orientalischen Glückpilz und dessen erstaunlichen Weg zum Erfolg, der sich durchaus auch eigener Tatkraft verdankt. Allerdings … ohne die von Aladin zur Schau gestellte Entschlossenheit, Kontrahenten schon mal über die Klinge springen zu lassen, wäre der nette Jüngling geblieben, was er war: ein armer Schlucker, eher Kandidat für Peitsche und Kerker, als für den Sultanspalast. Aber genau dort, angezogen von dem erlaucht verborgenen Antlitz der Sultanstochter, wollte und kam er hinein, wobei ihm noch ein wirklich unwirklicher Türöffner zur Seite stand. Der märchentypische Geist, inkorporiert in Aladins Wunderlampe.

Die Unterstützung, die Aladin aus der Wunderlampe erfährt, bezieht der digital-finanzielle Komplex von Big Data. Ganz ohne Simsalabim. Stattdessen stehen da mal eben vier enorme Rechenzentren – vorzugsweise in der Nähe von vorbildlich umweltfreundlichen Strom erzeugenden Wasserkraftwerken errichtet –, bestückt mit 5000 Großrechnern, derer sich Tausende smarter Experten annehmen, um wöchentlich, wie es heißt, rund 200 Millionen Kalkulationen aus Milliarden von Daten zu generieren.

Erstellt und geliefert wird zeitgemäß, schlicht genau das, was Investoren im Allgemeinen, aber auch jene Institutionen brauchen, die mit dem Geld anderer Leute (mit "OPM", Other People’s Money) arbeiten: Vermögensverwalter, Pensionsfonds, Versicherungen, Banken, und neben ihnen verschiedene private und/oder öffentliche "Stakeholder", etwa das World Economic Forum (WEF), Stiftungen, Universitäten, wichtige Zentralbanken wie die FED und die EZB, die Weltgesundheitsbehörde (WHO), die Weltbank. Sie alle stützen ihre Investitionen, beziehungsweise ihre strategischen Entscheidungen auf handfeste, weltliche Daten, neutral verpackt in Risikoanalysen.


Betriebsgeheimnis

Was genau die Analysen enthalten und wie das entsteht, was sich hier so rein technisch "Kalkulationen" nennt, ist weitestgehend Betriebsgeheimnis. Nicht nur was die Herkunft vieler der in den Kalkulationen verarbeiteten Daten betrifft. Auch die Annahmen und Prämissen der durchgespielten Szenarien, der zugrunde gelegten Modellierungen bleiben verborgen. Ebenso unbekannt ist die Tiefe des jeweils angestrebten, des kalkulierten eigenen Einflusses auf die angenommenen Trends und Simulationen. Unbekannt die Erwägungen ob und eventuell wie Methoden des Social Engineering, beziehungsweise Operationen aus dem Bereich PSYOPs (Psychological Operations) dazu beitragen sollten, auf die Formation einzelner Zielgruppen oder ganzer Massen einzuwirken. Unbekannt die angestrebten Ergebnisse, der Grad der Bereitschaft zum Einsatz welcher? Mittel, um Einfluss auszuüben auf erwünschte oder im Gegenteil zu verhindernde gesellschaftliche Entwicklungen. Öffentliche Antworten auf solche und ähnliche Fragen zu geben, wäre aus privatwirtschaftlicher Sicht nachvollziehbar kontraproduktiv. Betriebsgeheimnis muss nun mal Betriebsgeheimnis bleiben. Es sei denn das Verlangen nach Transparenz läge im öffentlichen Interesse.

Liegt es? Was feststeht ist: ALADDIN besitzt bereits größte öffentliche Relevanz. Besonders nachdem BlackRock entschied, die Analyseleistungen seines Tools nicht allein und exklusiv selbst zu nutzen, sondern zusätzlich an Abonnenten zu verkaufen. Seither wuchs die Reichweite von ALADDINs Service beträchtlich auf, wie es allenthalben heißt, rund zehn Prozent aller weltweit vorhandenen Vermögen. Nicht berücksichtigt die Gestaltungsmacht, die das Zusammenspiel mit den verschiedenen, genannten und ungenannten "Stakeholdern" bringt.

ALADDIN ist das Licht im Dunkel, markiert den leuchtenden Pfad der digital-finanziellen Revolution, der nicht hinausführt aus dem Dschungel der Finanzen, sondern tiefer, mitten hinein. Eine glasklare Sache. So klar wie die dazu passenden Parolen, die auf "umlegen", "abschaffen", "nieder mit" und "es lebe" lauten könnten. Dabei betrifft das martialische Umlegen keine Personen, sondern den Hebel der Macht, um ein für alle Mal die Not abzuschaffen. Nicht irgendeine, sondern die ruinöse Not mit der Intuition, dieser Krücke, mit der die Genossen Finanzspekulanten mangels verlässlichen Wissens gezwungen sind, sich zaghaft durch die Gegend zu tasten und dennoch nicht davor gefeit sind zu stolpern. Ruin statt Reibach. Nieder mit dem Scheitern, nieder mit der Willkür des Zufalls.

Es lebe der Plan, der wissenschaftliche Materialismus, als Basis des einzig seligmachenden Überbaus, denn nur wo in Passform gebrachte Verhältnisse walten, sprudelt aus Investments zuverlässig Gewinn. Gewinn allenthalben, bei fallenden, wie bei steigenden Kursen und Preisen. "Bullenmarkt", "Bärenmarkt", "Long-selling", "short-selling", ob Höhenflug oder Absturz, alles hat seinen triftigen Grund, und der ist dank ALADDIN identifiziert und sodann nach Möglichkeit fabriziert, eingefädelt, abgekartet, ebenso wie die von den ahnungslosen Andern verzweifelt ersehnten oder mit Grauen befürchteten Maßnahmen zur Überwindung von drückenden Herausforderungen hier, bis hin zu überraschend getroffenen Vereinbarungen dort, wo es um bis dato ausweglos scheinende Krisen, Konflikte, Kriege geht. Anzetteln, beenden, neu starten. Alles nach Plan.

Das Unerwartete, hier wird’s Ereignis: Pharmaumsätze, Aktienkurse fallweise zum Explodieren, Implodieren, Panzer zum Rollen, zum Stehen gebracht, alles was handelbar ist, worüber Kontrakte bestehen, plötzlich teurer, weil knapp oder schädlich, beziehungsweise umgekehrt billig, weil reichlich oder substituierbar gemacht. Egal was es sei: Handfestes, Bodenschätze, Düngemittel, Weizen, Immaterielles, Antizipiertes, Verbrieftes, Devisenkurse, Risikopolicen. Wer in der Lage ist, die Gründe für Preisschwankungen (glauben) zu machen, braucht den Zufall nicht zu fürchten.

Ob koordiniert oder auch nicht; wo Intransparenz und Machtkonzentration zusammenschirren, wächst die Kritik, die im konkreten Fall zunächst auf BlackRock mit ALADDIN zielte, und zunehmend den gesamten Komplex erfasst. Je größer dessen Einflussmöglichkeiten, so lautet die grundsätzliche Befürchtung, umso realer wird die Gefahr, konformes und somit krisenverstärkendes Herdenverhalten auszulösen. Eine spezifischere, erst in den letzten Jahren aufgeworfene Problematik, für die unter anderen Martin Schmalz, Ökonomieprofessor an der Universität Oxfort starke Belege anführt, beginnt mit einem bei Vermögensverwaltern offenbar häufig zu beobachtenden Phänomen, genannt "Common Ownership". Damit gemeint ist eine Eigentümerstruktur, bei der sich im Portfolio von ein und demselben Investor Anteile von Firmen befinden, die als Konkurrenten im gleichen Produktmarkt – etwa Chemie, Fahrzeugbau, Banken – tätig sind. Schmalz‘ These nun postuliert gesamtwirtschaftlich suboptimale Ergebnisse, sofern die Überschneidungen in den Eigentumsverhältnissen das jeweilige Management der eigentlichen Konkurrenten dazu verleitet, zum Schutz der Interessen eines gemeinsamen Eigentümers darauf zu verzichten, die Wettbewerber, wie es sonst üblich wäre, herauszufordern.

Eine über das Ökonomische hinausgehende Fundamentalkritik kommt wiederum von Ernst Wolff: aus seiner Sicht sei die Menschheit dabei, von einer digitalen, mit künstlicher Intelligenz getriebenen Maschinerie entmachtet, formiert, gesteuert zu werden, ihre Selbstbestimmung zu verlieren. An den vermeintlichen Urhebern dieser Entwicklung perlt Kritik jedoch ab; die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter: der digital-monetäre Komplex setzt seine Arbeit unbeirrt fort. Die Kritik läuft hinterher. Aber noch, wie in Teil 2 geschildert, ist der Ausgang offen.

Rainer [Willert]


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