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Auf einmal da
Sie wissen nicht, wie ihnen geschah, was auf der Welt vor sich gegangen war. Sie waren aus ihren Verstecken gekrochen. Nach langem Ausharren, als keine Geräusche mehr, die sie nicht einordnen konnten, zu ihnen durchgedrungen waren, laufen sie nun in freier Luft mit frischen Farben und sehen, sie sind sie selbst und sie haben überlebt.
Wie lange sie dort unten in einer Höhle oder war es ein Atombunker gehaust hatten, wussten sie nicht. Beim Hausen, so lange, wie es ihnen allen schien, waren sie unten in der Erde geblieben und hatten die Neuheit der Welt verschlafen. Ein Erwachen? Woraus? Der Welt? Jetzt laufen sie und beim Laufen erinnern sie sich langsam. Ab und zu taucht Vertrautes auf. Eine Farbe zum Beispiel. Aber es gab doch mehr, dumpf klopft es in ihren Köpfen. Das hört der, der Experte der Kulturgeschichte der Menschheit ist – sagen wir besser war. Wann? Und auf welcher Ebene der menschlichen Entwicklungsgeschichte er sich jetzt befindet, weiß er nicht. Er erinnert sich unbestimmt an ein Früheres. Er weiß, das sagt er sich, um sich und die anderen um ihn zu beruhigen, dass es ein Früheres gab. Er versucht mit den anderen, jetzt in Licht Luft, zu sprechen, die aber verstehen ihn nicht. Die Sechs hüpfen umher, einer sogar tanzt.
Sie laufen aufrecht. Es sind Menschen. Der Experte der Kulturgeschichte wähnt sich als ihr Beobachter. Er ist dabei. Er glaubt, er sei er selbst. Aus ferner, früherer Zeit. Und er glaubt, er wisse mehr über jeden anderen als dieser selbst. Aus dieser fernen, früheren Zeit, der Zeit seiner Arbeit als Psychoanalytischer Psychotherapeut weiß er, dass vor ihm ein Depressiver schleicht. Hinter ihm agiert ausladend ein Extrovertierter, der, obwohl auch ihn niemand zu verstehen scheint, Anweisungen gibt. Die Anweisungen betreffen das Verhalten bei Gefahren, er mahnt, ohne eine Gefährliches zu benennen, rechtzeitig zu fliehen. Hinter diesem wiederum schreitet munter ein Selbstsicherer, den nichts irritiert, der sich auf seinen Verstand verlässt, der immer zu wissen scheint, was Sache ist. Was aber diese Sache, diese seltsame neue Umgebung ist, ist sicherlich auch ihm nicht ganz klar. Die Erde in neuem Kleid? Solange es Licht, Farben und Luft, es keine übermäßige Hitze oder Kälte gibt, ist dieses hier wenigstens so wie die Erde. Erdfähig. Vor unserem selbsternannten Beobachter tanzt ein Wesen durch die Landschaft. Es scheint sich um nichts zu bekümmern. Leicht schwingt es sich wallend von einem Tragstein zu einem nächsten. Wo wollen sie alle hin? Ziellos gehen sie umher, sind froh für den Moment, dass die Erde sie trägt. Sie sehen so viel verschiedenes. Einen Krater, auf dessen Umlauf man gut gehen kann, dann eine Schlucht, die sich weit ausspannt zwischen zwei Erhöhungen. Auf der einen, auf der sie gehen, ist viel Grün. Fruchtbar, wie sie erfreut feststellen. Sie versuchen miteinander zu reden. Bemerken erst langsam, dass jeder eine andere Sprache spricht. Aber im Lauf der Zeit, im Laufe wahrscheinlich von Monaten finden sie eine Verständigung. Der Autor lauscht ihnen, manchmal schwingt er sich über ihre Köpfe, unsichtbar für alle. Er entdeckt, dass unser selbsternannter Beobachter eine Sprache spricht, die er gut versteht. Deutsch.
Die Erde speit. Es ist knallrot.
Da geschieht etwas. Die Erde grummelt. Sie faucht von unten und dann nach einer Weile speit sie etwas aus. Es ist knallrot und gelb und wechselnd heiß und kalt. Dazwischen rollt Gestein. Sie fliehen, sie laufen so schnell sie können, niemand achtet mehr auf einen Anderen, den nächsten hinter, neben oder vor ihm. Sie laufen, die Erde bewegt sich unter ihren Füßen, und manchmal ist da so viel Dampf, da sieht man gar nichts mehr, nicht nur nicht einen anderen, auch nicht sich selbst, etwas von sich zum Beispiel ein Bein, ein Fuß, eine Hand. Bald weiß keiner von ihnen mehr, wie lange er oder sie oder es schon läuft, aber irgendwann ist die Kraft vorbei, man kann nicht mehr, wird langsamer, unkontrolliert. Als ob die Erde etwas bemerkt haben würde von der schwindenden Kraft, scheint sie Rücksicht zu nehmen auf dieses Kräfteschwinden und beruhigt sich wieder. Vorübergehend. Der Qualm, der Rauch verzieht sich, fetzenhaft. Langsam kann man wieder aus den Augen gucken. Und was sieht man? Arme, die verzweifelt hochschwingen, Beine, die versuchen sich zu halten. An Felsvorsprüngen, über Schluchten, an deren Rändern. Vorbei scheint das muntere, fast unbeschwerte Dahinlaufen und Staunen über die Farbenprächtigkeit der – wie sich alle sechs Personen glaubten zu erinnern und wiederzuerkennen - der Erde. Auf ihrem ihnen bekannten Planeten. Das konnten sie nach ihrem Auftauchen aus einem Inneren, in dem sie wer weiß wie lange verschanzt hatten, mit einer Art Gewissheit, langsam Vertrauen schöpfend, erkennen. Sie sahen also um sich, der Dampf verzog sich bald gänzlich in eine Art Himmel, den man jetzt wieder ausmachen konnte. Und als sie um sich sahen, sahen jeder für sich nur noch zwei andere Gestalten. Mehr nicht. Der Psychotherapeut wusste nun gar nicht mehr, wer er war, woran er sich bis vor kurzem doch wieder erinnert hatte, konnte nicht fassen, was er sah, oder anders ausgedrückt, was er eben nicht mehr sah, und wieder war er nicht nur darin erschüttert, wer er nun sei, nein, und schlimmer noch, wen er nun um sich hatte. Es hatte ihn schon immer sehr beunruhigt, nicht einschätzen zu können, wer ihm gegenüber saß. Meist saßen ja die Leute, die Patienten, wie man sagt. Das Gespräch kam oft nur schleppend in Gang. Oft hatte er daran gedacht, seine Methode zu ändern. Die Leute, die Patienten aus ihrer Reserve zu holen. Was war es doch gleich? Sein Gehirn schwamm wie unter Wasser, unklar, schemenhaft blieben seine Erinnerungen. Nun gut, jetzt versuchte er erst einmal, das war vielleicht der neuen Situation gegenüber angemessener, sich an das jüngst Vergangene nach dem ersten großen Auftauchen zu erinnern.
Da war dieses tänzelnde Wesen, er erinnert sich, jetzt sah er es aus der Ferne deutlich auf sich zukommen, also war es da, existent. Und noch eine andere Gestalt mit einem großen Federschmuck kroch aus einem Verschlag heraus. Sie kamen zusammen, sie berieten sich, auf einmal in einer Sprache. Bei allem Unglück war das ein Glück. Wie somnambul, geleitet aus einem fernen Wissen begannen sie, sich gegenseitig zu beschreiben und gaben der Hoffnung Ausdruck, sich nie wieder aus den Augen zu verlieren. Getragen von diesem Wunsch und demjenigen gegen den Unbill dieser Welt zusammenzuhalten, ließen sie ihrem Bedürfnis freien Lauf. Sie suchten eine Höhle, und wenn sie keine fänden, dann würden sie eine bauen. Nach Menschenart ein Grundbedürfnis Schutz zu suchen. Sie liefen jetzt gemeinsam auf einen augenscheinlichen Eingang mitten im Bauch eines riesigen Berges zu, ein guter Platz für eine Höhle und richteten sich dort ein. So gut es ging.
Mit dem Wissen um Vergangenheit, dem Fehlen der anderen, die zunehmend ahndungsvolle Gewissheit, dass sie weit und breit niemandem begegnen werden, verschwindet auch die Sehnsucht, dem Vergangenen eine Bedeutung zu geben. Um sie herum dehnte sich alles, in die Länge und in die Breite, alles war Dehnung und das löste sie aus ihrer erstarrten Anschauung einer Dreidimensionalität, befreiend zwar auf eine beängstigende Art, das Dreidimensionale aber, an das sich zur hilflosen Orientierung erinnerten und noch häufig genug klammerten, war das letztlich unbegründbare Vertraute. Aber damit ging es nicht mehr. Nicht, dass sie unbeschriebene Blätter sozusagen geworden sind in einer Art Neugeburt ihrer selbst, nein, das war es nicht, nur hatte dieses Wissen und die Erinnerung an das Wissen, das sie durch ihr Leben orientierte, keinen Halt mehr, keine Resonanz. Das einmal-wirkliche, die prompte Erfahrung der Landschaft und das Herumspazieren in ihr ohne ein Ziel, außer demjenigen, etwas wiedererkennen, und sich zu erhalten, wich dem Beständig-Möglichen immer aus, es ließ sich nicht mehr einordnen. Waren die anderen tot, nicht mehr zu finden? Hatten Schluchten und Geröll sie verschluckt? Sie waren jetzt tatsächlich fremd, waren zu einer ihnen gänzlich fremden Zeit hier gelandet, und das, was sie sahen, war nur wie ein Widerhall ihres Wissens darum, was wir als Menschheitsgeschichte bezeichnen. Sie konnten sich nun vorstellen, Menschen aus der Steinzeit zu sein. Vielleicht der Jungsteinzeit. Auf jeden Fall wussten sie schon und taten das einfach, ohne darüber nachzudenken, wie Feuer zu machen geht. Und so machten sie sich zur jeden Nacht ein Feuer. Sie fanden eine Höhle, wie von irgendetwas gesteuert, ohne ihr Zutun zog es sie hinein. In diese Höhle. Sie wussten, sie sind nur noch zu Dritt und die anderen drei sind verloren, aus ihrem Blick. Sind sie wirklich verloren? In dieser Höhle. Das Tote, rot, fand darin Platz. Ein Symbol.
Übrig waren jetzt der selbsternannte Beobachter, umsichtig und doch in seinem Urteil bestimmt, das seltsam anmutende Federschmuckvieh, das um Abgründe schwebend und tänzelnde Wesen, das oft um ihn herumsauste. Ihn aber wohl nicht meinte. Vielleicht ein Wesen, unbestimmt in Geschlecht, das den Wahnsinn schon hinter sich hat und vom venezianischen Karneval noch den Blütenstaub auf sich trägt. Es war doch sie oder es, das zuvor so forsch auf ihn zugeschritten war, so schien es ihm, nachdem sich die Erde in ihrer Erschütterung beruhigt hatte. Hoffen wir das Beste diesbezüglich für die drei Überlebenden und nun in die Höhle Schreitenden. Von der Gattung her als Menschen bestimmt, verdanken sich ihre äußeren Unterschiede wohl ihrer verschiedenen Herkunft. Aber wie der Beobachter ja schon feststellen konnte, dies zu seinem Glück, ist Verständigung möglich.
Er fiel und fiel und fiel. Er fiel zwischen die Splitter hindurch und zerfiel mit dem unablässigen Fallen selbst nach und nach in Teile, zuerst größere, dann wurden sie kleiner und zuletzt war er zersplittert und fiel weiter zwischen den fallenden Mikrofunken und wurde zu einem Haufen von vereinzelten Molekülen, die ihre Richtung permanent änderten und nicht mehr zueinander fanden. Er sah dem zu, er musste dem zusehen. Musste seiner Zerbröckelung zusehen und konnte nicht eingreifen. Dann überließ er sich diesem Prozess. Das war das Beste. Alles andere wäre auch ohne Wirkung geblieben. Er hätte auch gar nicht mehr zu sagen gewusst, ob er nach oben oder nach unten fiel. Vielleicht war es ein seitliches Fallen. Gut, nach allem was ihm schon widerfahren war, war ihm das fast eine leichte Übung. Sich fallen zu lassen, gehen zu lassen und abwarten, was geschieht, was weiter geschehen würde. Wir warten ab und leben auf die Zukunft hin. Wir halten daran fest, dass sie es gibt. Nachdem er seine Einstellung geändert hatte, er erinnerte sich jetzt wieder, wie hilflos und verzweifelt er sich an die anderen gewandt hatte, wie sie am Ende verschwunden waren, vielleicht auch zerfallen, vielleicht nur ein Abbild aus vergangenen Tagen, als Splitter. Vielleicht ein Spiegelreflex, die letzten Zuckungen längst nicht mehr existenter Wesen. Und was bin ich jetzt?, fragte er sich. Ein Haufen Moleküle. Vielleicht auch das eine Täuschung, nur ein er Klärungsversuch, er konnte sie nicht sehen, er konnte sich nicht sehen. Er sah, er fühlte und er dachte sogar noch. Das glaubte er. Auch dies zu seinem Glück. Und zu unserem Glück, denn jetzt endlich kann die Geschichte weitergehen. Jetzt schwebte er in einem Raum, vielleicht in einem galaktischen Raum, alles um ihn herum glitzerte und war in schneller Bewegung, dazwischen schwarz. Vielleicht Abgründe, vielleicht aber auch Erhöhungen. Unabschätzbar. Es hatte keinen Sinn, Vermutungen anzustellen, noch dazu in seiner Lage, ohne festen Körper. Also hörte er damit auf und erholte sich im Flug, in seinem Flug durch die Galaxis. Unsinniger Gedanke, den Flug steuern zu wollen. Also ließ er auch das. Und flog und flog. So lange würde er fliegen, bis sich seine Lage verdeutlichen würde. Wer und wo war er? Alles zwischen dem Funkeln, dem weißen und bunten Kugeln, sind das Sterne?, war schwarz um ihn herum. Nun gut, wie gesagt, hatte er schon einiges hinter sich, was seinen Blick unvoreingenommen geöffnet hatte. So begann er sich auf einmal für das hier zu interessieren. Er überließ sich der Bewegung, einer Bewegung, die mit ihm gemacht wurde. Galaktisch war das. Es war gut. Nach einer Zeit, er hätte natürlich nicht zu sagen gewusst, wie viel Zeit vergangen war, wurde es heller. Er flog, das glaubt er, dass er das tat, wenn auch nicht selbst, aus eigenem Antrieb und Willen, in das Helle hinein. Es wurde heller und heller und auf einmal war es weiß um ihn herum. In diesem Weißen ließ die Energie nach, die ihn angetrieben hatte, und er fand darin Platz, zerbröckelt wie er war. Erstaunt sah er aus dem Haufen, der er war, heraus herum in das Weiß, fassungslos, wie schön es war. Lange schaute er ungläubig in dieses Weiß und vergaß dabei ganz darüber nachzudenken, ob es seine Augen waren, mit denen er dies sah. Grau flatterten Teile, Fetzen von was um ihm umher. Sie kamen ihm näher, aber er achtete nicht weiter auf sie und so zogen sie an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren. Er tastete mit den Fingern, Finger hatte er auch plötzlich wieder, zehn an der Zahl, ein Wunder, dass keiner verloren gegangen war, so in Stücke gerissen und unübersichtlich in Moleküle sie und offenbar alles andere von ihm aufgesplittert war. Also gab es Finger und sogar konnte er mit ihnen tasten, abtasten. Die Augen, die Lider der Augen, er drückte sie mit seinen Fingern zu, das Weiß verschwand, er zog sie sehr schnell wieder auf, und das Weiß war wieder da. Eine Schönheit. Er verlor sich in dieser Schönheit, in der nichts zu sehen war. Außer die Schönheit des Nichts.
Seltsame, ungekannte Dinge gingen in ihm vor. Bewegungen, die ohne sein Zutun verliefen. Rotes brach unter ihm hervor, was ist das, in schwärzlicher dicker Brühe floss es wie aus ihm heraus. Etwas zerrte an ihm herum, etwas zog lang in die Länge, zuerst unter ihm, dann ging es weiter über ihm, und auf einmal hatte er an seinen Fingern eine Hand, an seiner Hand einen Unterarm, an seinem Unterarm etwas darüber, und krönend zum Abschluss eine Kugel, eine Schulter. Das Ganze vollzog sich zu zwei Seiten gleichzeitig. Oben in der Luft hingen seine Finger, heftig jeder einzelne in Bewegung, sie versicherten sich ihrer Verbindung über Hand und Arm nach unten. Freudig das Spiel, sie winkten sich selbst zu. Dann in größerer Höhe, das Gefühl zu stehen. Ein lang entbehrtes Gefühl. Aber da war es nun wieder. Also stand er und stellte sich zum Selbstbeweis des Stehenkönnens gerade hin. Aus größerer Höhe schaute er auf seine Füße herunter. Das waren sogar Zehen dran, und auch hier zehn an der Zahl. Er riss seine Arme herunter, das ging so wie er es wollte, und befühlte und zählte seine Zehen. Glücklich. Glücklich, dass auch sie da waren. Dann konnte es ja weitergehen. Und er machte sich genau daran, an das Gehen.
Noch etwas wackelig auf den Beinen, aber Beine waren es, vielleicht sogar seine Beine, lief er eine Art Landstraße geradeaus. Immer geradeaus. Irgendwann musste er ja auf Unterschiedliches stoßen.
Der Himmel über ihm wölbte sich, wenn es der Himmel war. Er ging davon aus, denn eine andere Idee hatte er nicht zu einem unterschiedslosen Rosa über ihm, in das er sah und wieder sehen konnte mit Augen, die vielleicht nicht die seinen waren, und er versuchte sich vorzustellen, jetzt auf einem anderen Planeten angekommen zu sein. Nach dieser Reise, einer Reise, die er zuvor noch niemals angetreten hatte, mit festem Willen und festem Schritt, war etwas anderes kaum vorstellbar. Ein Glück, auch dieses wieder, dass sich die Moleküle wieder zusammengefunden hatten und so etwas wie Gehen und Atmen möglich war. Er bekam ungewöhnlich gut Luft, vielleicht war das ein Luftkurort hier auf dem neuen Planeten, wenn es ein Ort war, wenn ein Ort hoffentlich bald auftauchen würde. Er ging weiter und war sich sicher, dass sich alles ändern würde. Das Rosa würde verschwinden, mit dem Verschwinden kannte er sich gut aus, seine Begleiter waren plötzlich verschwunden, auf die er so vieles, ja in seiner Situation eigentlich alles gesetzt hatte, waren verschwunden vor seinen Augen, hatten sich in Luft oder wie auch er in Splitter aufgelöst, vielleicht würde er sie in veränderter Form irgendwann hier auf diesem neuen Planeten wieder treffen und sie könnten sich über das Geschehene austauschen. Darauf hoffte er, auf eine ihm verwandte Seele. Sein Leib sehnte sich nach einer Seele in einem Leib. Auch in veränderter Form. So nah glaubte er sich schon am Ziel zu sein. In einer dem Menschen gemäßen Stadt, mit anderen Menschen, mit Infrastruktur, mit Kultur und verschiedenen Kulturangeboten, mit einem großen Bedarf an Therapeuten. Nun wieder weit weg von allem, oder vielleicht gerade um die Ecke, aber in einer nie sichtbaren und daher nie gesehenen Krümmung des Universums.
So stand er in einem wässrigen sonnenähnlichen Abglanzlicht herum, natürlich ist Stehen nicht die richtige Beschreibung, nicht das richtige Wort, das für seinen Zustand treffend ist. Zu sehen aber in dieses Licht hinein, das schien ihm möglich zu sein. Und so sah er ratlos, so können wir es sagen, in die Luft, die wässrig angefüllt war. Er erinnert sich an sich selbst – wie er aussah, wie er sprach, wie er wirkte, das als ein Gesamtbild, Wirkungsweise als Gesprächstherapeut auf Menschen, die Patienten und dann die Nicht-Patienten, das berufliche und das private Leben. Wie wirkte er?
Niemand hatte es ihm gesagt. Die Patienten sagten natürlich nichts darüber, wie er auf sie wirkte, denn sie gingen davon aus, dass dies, wenn schon ein solchen Thema aufkommen würde, umgekehrt sein müsste, dergestalt dass der zum Therapeuten Berufene die Aufgabe habe, die Wirkungsweise des Gegenübers zu durchleuchten und wenn gewünscht zu korrigieren, falls dieses Ziel realistisch wäre. Und Menschen, die ihn in seinem Privatleben umgaben, verschonten ihn mit Bemerkungen solcherart oder ausufernden Gesprächen, weil sie mit ihm fühlen wollten und mit ganzer Sicherheit davon ausgingen, dass er solche Themen über seine psychische Verfasstheit nicht wünsche. Wie oft hatte er sich einen richtigen Freund gewünscht. Einen, der für ihn da ist. Eine enge Beziehung zu einem Anderen. Aber es ging nicht. Wohl ist ihm Freundschaft, die Erfahrung, nicht unbekannt, aber weit schlimmer als keine Freundschaft zu haben, war die Erfahrung, dass Freundschaften gingen, nicht zu halten waren. Zerrissen im Streit, im Zermürben verloren, nicht zurückdrehbar, auf nichts mehr fußend, alles an ihm verübelnd, oder Fallengelassen auf einmal. Abtrünnig geworden. Kein Zurück mehr. Oder Ansätze von freundschaftlichen Gefühlen in einem vorübergehenden Missmut oder aus Unverständnis aufgeweicht, nicht weiter gedüngt.
Die Nacht brach herein. Wenn das eine zutreffende Beschreibung ist. Etwas brach über ihn, schwarzes, vielleicht eben Nächtliches. Hoffentlich sind das nicht wieder die Löcher zwischen der Splitterwelt. Dann wäre er wieder zurückgefallen in einen Vorzustand, in seinen, eine Art Prähistorie, das er wirklich nicht mehr haben wollte. Ohne festen Körper. Und alles scheinbar erlangte, das Laufen in einer rosafarbenen Welt, ein Laufen, gespeist mit Hoffnungen auf Orte und Leben, das er kannte und das er suchte, völlig umsonst, auch das?
Führte er früher ein Leben in einem Kokon? Einem Kokon, aus dem er, ein Anderer als er, schlüpft? Niemand weiß das, woher sollte man dies wissen können? Auf einmal da. Nicht ist seine bedauerliche Lage die, dass er in einem Kokon steckt, ihm scheint die um ihn vorgestellte und vorgeführte Welt in einem Gespinst aus Seide.
Was soll weiter mit ihm geschehen? Torkelndes Gehen in Rosa, schwankendes Vorwärtstreiben in diesem Gespinst, in der Nacht, im Dunkel, das er als die Nacht deutet. Im Deuten war er schon immer gut. Ganz schwach erinnert er sich an irgendetwas mit Menschen, die ihm gegenübersitzen und erzählen. Er musste das alles deuten. Was für eine unsägliche Arbeit das war. Als er sich eingestehen musste, dass sein Zustand ein Weiterkommen unmöglich werden ließ, gab er auf und ließ sich auf etwas Weiches unter ihm sinken. Dort saß er bequem, schlief in dieser überraschenden Gemütlichkeit des Sitzens und dem schleichenden Übergang in die Liegestellung ab und zu ein und ließ zwischen diesen Kurzschläfchen seinen Gedanken den Lauf. Deuten und interpretieren, immer das. Was tat er? Was hatte er vor undenklichen Vorzeiten getan? Für ihn war das so. Schon so lange wie ihm schien hatte er nicht mehr gesprochen. Das war ihm schon zur Gewohnheit geworden, er, der immer gesprochen hatte und noch mehr zuhören musste. Jetzt fiel es ihm auf. Jetzt, wo wirklich keine Menschenseele mehr zu sehen und zu fühlen war. Schon seit langer Zeit kein Wort mehr, gesagt, gehört. Mit seinen beiden Begleitern waren das wenn auch nicht seine Gespräche, es gab aber welche. Wenn auch nur das Notwendigste, und dazwischen ihre Erzählungen. Interessant waren sie, die Erzählungen. Daran hatte er viel zu deuten. Das gab ihm wenigstens Stoff. Er hatte sich fast wie in seinem vorherigen Leben gefühlt, woraus sich seine Hoffnung auf Auflösung der Situation, dieser ihnen so unwirklich und unabänderlich geschienenen Lage, in die sie geraten waren und nicht mehr rekonstruieren konnten, wie das geschehen konnte, speiste.
Abgemüht hatte er sich schon immer. Oft, er erinnert sich. Wie mühselig alles war, wie er aber trotzdem besessen davon war, alles zu schaffen, zu erreichen, etwas zu werden. Eine Bezeichnung für sich zu wissen, mit dessen Hilfe man sich in der Welt vorstellen könne und Gelegenheiten ergreifen. Therapeia. In diesem Wort schwang etwas Aufregendes, fast Abenteuerliches immer mit. Und der Therapeutos, das ist der Wagengefährte und der Weggefährte, es ist der Seelenverwandte. Wenn wir das Wort für heute übersetzen, ist es der Dienst, die Pflege, die Begleitung. Das ist das Gegenteil von abenteuerlich. Dienen ist Putzen, Pflegen ist Waschen und Eincremen, Heilen ist Mantra. Jemandem Steine auf den Bauch legen. Jemandem Steine in den Weg legen.
Dann lieber das: Therapeutos, das ist der Wagengefährte und der Weggefährte.
Mit der gesteigerten Hoffnung, und das berechtigt, auf Auflösung oder gar Rettung aus dieser Situation sind sie, er und die anderen Beiden, auf einen Generator zugelaufen, der eine ganze Stadt, wie sich schnell herausstellte, versorgt, sind in einen Aufzug, das auch sehr schnell, gestiegen, weil ihnen der Fahrstuhlführer Zeichen gegeben hatte, die sie so deuteten, dass er sie nach oben oder nach unten, sicher aber in eine Stadt bringen würde.
Sabine[Rothemann]
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