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Schreibblockade

Kürzlich verspürte ich einen unstillbaren Drang zu schreiben. Ich wusste nur nicht worüber. In diversen Schreibratgebern habe ich gelesen, kein Leben ist banal genug, um es nicht literarisch einzupökeln.

Als mir gerade der erste Satz einfiel, rief der Chef zu einem Meeting. Er redete gefühlte zwei Stunden über die schwierige Lage der Firma. Wir sollen uns alle noch mehr anstrengen und auch mit Überstunden nicht geizen. Das Übliche.

Er redete und salbaderte, bis der letzte Speicheltropfen vertrocknet war. Seit seiner Prostata Operation onaniert er nur noch mit dem Kehlkopf.

Darüber weiß ich Bescheid, weil ich eine allwissende Erzählerin bin. Denen ist nichts fremd. Auch das stand im Schreibratgeber.

Ich kann in meinen Chef hineinkriechen und seine Gedanken lesen. Wenn ich will. Meist ist es mir zu langweilig.

Nach dem Meeting kehrte ich zu meinem Schreibtisch zurück mit dem zufriedenen Gefühl, zwei Stunden des Tages herumgebracht zu haben.
Die Zeit wird mir bezahlt, wenn der Chef Hand oder Stimme an sich selbst legt.

Vor meinem Bürofenster steht eine Birke. Es ist Ende Oktober. Ihre Blätter sind gelb und rieseln zu Boden. Es erinnert mich an den Poetry Slam, wo viele Autoren die bereits vorgelesenen Blätter zu Boden rieseln lassen in der Hoffnung, dass ihnen bald neue wachsen. Außerdem ist es cool und das Publikum liebt coole Slammer.

Ich bin nicht cool und halte meine Blätter fest. Mir wachsen so schnell keine neuen. Es könnte sogar sein, dass gar keine mehr wachsen. Sonst würde ich keine Schreibratgeber lesen, in denen sich all die verhinderten Kreativen mit Dauer – Schreibblockade austoben.

Zum Glück erscheint der Chef und will etwas von mir. Ich fühle mich gebraucht. Eigentlich ist der Mann gar nicht so übel, denke ich. Es geht abwärts mit mir. Bisher hielt ich ihn für eine Art Monstrum, in einen Anzug gequetscht mit dem Ausdruck eines unbefriedigten Eichhörnchens, dem gerade seine Frau weggelaufen ist mit einem anderen Eichhörnchen. Eines, das nicht an der Prostata operiert wurde.

Wenn ich den plötzlich sympathisch finde, kann es mir nicht gutgehen. Ich brauche einen Psychiater. Oder eine systemische Familienaufstellung. Dort werden Leute in den Raum gestellt, die wieder andere Leute darstellen, die in deinem Leben eine Rolle spielen und du kannst erkennen, was für Arschlöcher es sind und es ihnen sagen.

Vielleicht würde das helfen. Wenn ich plötzlich den Chef gut finde, wird mein Leben noch banaler. Ein netter Chef lässt sich nicht literarisch einpökeln, da können die Schreibratgeber sagen, was sie wollen. So etwas gelingt höchstens Thomas Mann. Erstens ist der tot und zweitens liest den keiner. Außer vielleicht ein oder zwei halbtote Bildungsbürger.

Zwei Stunden später – eigentlich ist schon Feierabend – sitze ich mit dem Chef unter dem Schreibtisch. Es kam einfach so über uns. Wir küssen einander. Endlich wieder Feierabend.

Cornelia [Koepsell]


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