[zurück] | blättern | [weiter]


Die vorläufig letzte soziale Großplastik
des Prof. Doktor Joseph Beuys, sel.


"Gratuliere, Beuys, das hätte ich Ihnen echt nicht zugetraut. Ich meine, menschliche Pläne gehen in der Regel ebenso in die nicht vorhandene Hose wie die meinigen auch. Deswegen lasse ich seit je die Finger davon, Pläne zu entwerfen; irgendwelche Pläne, die nur irgendwie Sinn stiften sollen; nein, lieber überlasse ich mein Schöpfungswirken dem Spiel des Zufalls. Es ist ein manchmal schönes, manchmal hässliches, aber stets als Tragikomödie verlaufendes Zufallsspiel. Deswegen, Beuys, das gestehe ich offen, bin ich umso mehr überrascht, dass Ihr Plan aufging, falls dies nicht der Plan eines Teufels, der vom Judenhass geritten wird, sondern in der Tat Ihr eigener Plan gewesen sein sollte, Beuys?"

Keine Antwort, kein Nicken, kein Schulterzucken, nichts.

"Ich gestatte mir Ihr Schweigen als Zustimmung zu interpretieren und drücke Ihnen hiermit meinen Respekt, meinen allergrößten Respekt aus, Herr Professor Doktor Beuys."

Endlich scheint der Angesprochene zu reagieren. Keineswegs er nur noch Haut und Knochen, wie man ihn unten auf Erden kannte, sondern sich repräsentiert sehend lediglich durch seinen legendären, wenngleich nicht vorhandenen Filzhut, lüftet er denselben, streicht mit seiner nicht vorhandenen, linken Innenhandfläche sich seinen nicht vorhandenen Schweiß über seine nicht vorhandene Stirn. Zwei-, dreimal verfährt er so. Oder zumindest so ähnlich.

"Danke für die nicht vorhandenen Blumen, Chef", erwidert er endlich. "Und Sie, Sie trauten mir dies nicht zu. Ich meine, alle Welt fährt endlich wieder voll ab nach Kassel, fährt ab auf dieses Provinznest und guckt mit freudigem Entsetzen auf diese Kunstaustellung. Aber hätte Petrus nicht zusammen mit Ihrem ungehörigen Lümmel von einem Sohnemann ein paar gute Worte bei Ihnen für mich eingelegt, so wäre daraus nicht nur nichts geworden, sondern ich müsste auch diesen lieben, langen Sommer über immerzu nur Halleluja, Halleluja singen und in die nicht vorhandenen Saiten meiner nicht vorhandenen Zither greifen."

"Harfe, Beuys, Harfe", verbessert ihn der Chef und fährt fort.

"Na ja", fährt er fort, "spätestens, wenn diese Documenta Fifteen – sagen Sie mal, Beuys", flechtet er kurz ein "können Ihre Landsleute dort unten eigentlich kein Deutsch mehr?" – "Na ja", fährt er also fort, "spätestens, wenn diese wievielte Documenta auch immer im Herbst abgefeiert ist, sofern Sie, Beuys, sich nicht erdreisten, weiterhin fettig verfilztes Öl in das jetzt nur noch leicht glimmende Kunstkitschfeuer eines paranoiden Antisemitismus zu gießen, so dass sich Ihre soziale Großplastik noch vor deren offiziellem Ende in ein nichtiges Brandloch auflöst, spätestens dann, …"

Ein Räuspern, ein bescheiden kehlloses Räuspern unterbricht die Rede des Chefs.

"Wenn ich Sie, Chef, auf etwas aufmerksam machen darf, was Ihnen offenbar entgangen ist?"

"Von mir aus, Beuys. Auch wenn ich es nicht gerne habe, wenn man mir ins Wort fällt."

"Chef, selbst die zumeist seriösen Pressefritzen vom Feuilleton halten jedes Jahr nach einem Sommerlochthema Ausschau, das die saisonale Flaute beheben und die Verkaufszahlen ihrer Blätter steigern könnte. Deswegen spricht meiner Ansicht nichts, absolut nichts dagegen, dass das mediale Bohei um die Documenta Quindici…"

"Quindici? Beuys, ich glaube, ich höre nicht recht. Seit wann sprechen Sie denn Italienisch?"

Beuys zuckt seine nicht vorhandenen Achseln. "Ihr Stellvertreter dort unten kann es doch auch, oder?"

"Stellvertreter? Dass ich nicht lache. Und er mit mir."

"Okay, Chef, dass Sie Humor haben, wurde mir schon als Kind erzählt. Aber was ich in aller ernsthafter Bescheidenheit anmerken wollte, ist, dass der ferienbedingte Mangel an Sommerlochthemen dagegenspricht, die Documenta Quinze vorzeitig abzublasen…"

"Ach, Beuys", fährt der Chef ihm in die Parade, "jetzt kokettieren Sie aber enorm mit Ihren Sprachfertigkeiten. Doch wenn jemand polyglott ist, wirklich polyglott, dann bin ich es, Beuys. Und wollen Sie wissen, wie meiner Ansicht nach die nächste Documenta heißen sollte?"

Beuys schweigt beleidigt.

"Na gut, ich sage es Ihnen trotzdem. Documenta Scheschesre sollte Sie heißen, wenn Sie verstehen, was ich meine."

"Ich verstehe nur Bahnhof", erwidert Beuys brummig. Er scheint immer noch beleidigt.

"Das denke ich mir, Sie, Sprachtrottel, dass Sie wieder mal nichts, aber auch gar nichts verstehen. Scheschesre heißt Sechzehn auf Hebräisch, die Sprache, auf der unsere Welt beruht."

"Das mag sein", lenkt Beuys ein, der sich offenbar wieder gefangen hat. "Aber was ich Ihnen sagen wollte, Chef, ist eben dies: Die da unten und ich mit ihnen werden alles dafür tun, das Kunstobjekt schon der Presse wegen skandalträchtig genug den Sommer über weiter durchzuziehen. "

"Tja, bis zum bitteren Ende…", ergänzt sein Chef. "Aber immerhin wird nun endlich darüber gesprochen, was kaum jemand wahrhaben wollte im Vorfeld der Documenta. Das rechne ich Ihnen hoch an, Beuys. Doch sobald Sie oder wer immer den nicht vorhandenen Documenta-Vorhang Ende September zuziehen und die Besucherzahlen dort ob der negativen Publicity Rekordhöhen erreicht haben werden, dann müssen Sie sich darauf gefasst machen, dass es auch für Sie wieder heißt, was allen hier oben verheißen ist: Halleluja singen, Beuys, Halleluja singen bei Tag und bei Nacht; Zeiten, die hier zwar ebenso wenig vorhanden sind wie der liturgische, auf der hebräischen Sprache beruhende Freudengesang zu meinem Lob. Aber was soll's. Sie werden es trotzdem wieder tun, tun müssen Beuys, weil Sie keine andere Wahl haben. Sie werden immerzu Ihr nicht vorhandenes Halleluja singen und in Ihre nicht vorhandene Zither, äh, in Ihre Harfe, in Ihre nicht vorhandene Harfe greifen müssen, Beuys, so nämlich lautet das zeitlose Musikgebot aller zeitlosen, weil nicht vorhandenen Stunden hier oben bei uns."

"Ach, Gott", stöhnt Beuys leise auf, "muss das denn wirklich sein, Chef? Ich meine, wo ich so gut wie keine Stimme, wenn nicht gar überhaupt keine Stimme mehr habe. Von meinem nicht vorhandenen Fingern ganz zu schweigen."

"Mensch, Beuys, Sie alter Jammerlappen aber auch. Wäre es Ihnen denn lieber, Sie müssten unten in der nicht vorhandenen Hölle auf irgendeiner nicht vorhandenen Elektrogitarre Hard-Rock-Töne anschlagen und mit Ihrem nicht vorhandenen Gekreische den öden, ewig langen, weil nicht vorhandenen Highway als eine nur scheinbare Einbahnstraße besingen; als eine nur scheinbare Sackgasse, die nur scheinbar zwangsläufig in den nicht vorhandenen Orkus zu führen scheint? Wäre Ihnen dies wirklich lieber, Beuys? Nun reden Sie schon, Beuys?"

Professor Doktor Joseph Beuys schnieft in seine nicht vorhandene Nase, lüftet neuerlich seinen nicht vorhandenen Filzhut und wischt sich seinen nicht vorhandenen Schweiß von seiner nicht vorhandenen Glatze.
"Tja, Chef", sagt er schließlich. "offenbar behalten Sie nicht nur immer und ewig Recht, sondern am Ende auch noch das letzte Wort."

"Wer denn sonst, Beuys? Wer, außer meiner Wenigkeit", flüstert der greise Chef ihm zu und fügt mit seiner nicht vorhandenen Stimme nun schon etwas polternd an, dass er schließlich auch derjenige gewesen sei, der einst im Anfang, als dort unter auf der Erde noch ein Tohuwabohu herrschte, jenes Wort erhob, das als allererstes Wort verbürgt sei. "Und dies, Beuys, war natürlich ein hebräisches Wort gewesen, was sonst."

Franz J. [Herrmann]


[zurück] | blättern | [weiter]


startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum