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Blau

Eines Tages war die Sonne nicht mehr rot und orange und gelb als sie aufging. Nein. Eines Tages war sie blau.
Das ist unsere Chance, sagten die Moose und entwickelten seltsame Blüten, die nur in grellem blauen Licht gedeihen. Es war nämlich nicht so, dass das Licht dunkel gewesen wäre. Es war genau so hell und grell wie an jedem anderen Tag. Nur eben blau. Grelles Blau. Es war, als wäre die Welt in silberblaues Wasser getaucht, und alles hatte einen schimmernden Glanz.

Die Moose, jedenfalls, brachten Blüten von einer Farbe hervor, die die Welt noch nicht gesehen, noch keines Menschen Auge erblickt hatte. Eine solche Farbe lässt sich schwer beschreiben. Ein bisschen wie Heimweh war sie, ein bisschen wie Demut und ein bisschen wie pures Glück. Ja, gerade diese Kombination von Farbe machte diese Blüten so besonders, die im Übrigen aussahen wie einfache kleine Fünfblättrige. Moose hatten ja bislang gar keine Blüten.

Auch die andere Fauna veränderte sich. Bäume starben ab, stattdessen wuchsen neue, riesige Türme mit langen, weiten Armen, in denen Wesen wohnten, die die Luft mit ihrem immerwährenden Atem reinigten; Wesen, die nur aus Lungen bestanden, die sich mit der Zeit dunkel und dann schwarz färbten und abstarben, um neuen Bewohnerinnen in den Türmen Raum zu geben. Man nannte sie dann die Dunklen.

Es gab auch kein Gras mehr. Stattdessen breitete sich ein Teppich aus leuchtenden lebenden Steinen aus, die so glänzten und funkelten, dass man sie bei Nacht ausschalten musste, damit der Mond nicht geblendet wurde. Denn in diesem wachte ein Kind über die Erde, Tag und Nacht; und mit seinen Augen spürte es jedem Tag und jeder Nacht nach, weinte eine Träne, wenn es regnen sollte, lachte laut, wenn es donnern sollte und blies mit vollen Backen, wenn der Sturm die Dunklen von den Türmen wehen oder im Frühjahr die letzten weichen Flusen der Winterbüsche vertilgen sollte.

Auch die Büsche hatten sich natürlich verändert. Sie waren fedrige Knäuel, in denen alles Nahrung und Wärme fand, was krabbeln, fliegen und kriechen konnte. Sie trieben täglich neue Kiele, aus denen sich lange rote Daunen herausschoben, die im blauen Licht der Sonne zu einem sanften Lila wurden, das die Büsche wie eine geheimnisvolle Aura umgab.

Auch die Tiere waren nicht mehr dieselben. Sie standen auf, sie gingen aufrecht. Sie waren dem Menschen ebenbürtig, eins mit allen Geschöpfen der Erde, und es gab keine Hierarchien mehr. Sie aßen sich nicht mehr gegenseitig – die Menschen nicht die Tiere, die Tiere nicht die Menschen. Obwohl es wirklich sehr, sehr große Tiere gab, viel größere als man sie je gesehen hatte, damals, bevor die Sonne zum ersten Mal blau aufgegangen war.

Alle konnten sich gut ernähren aufgrund der üppigen Vegetation. Auf den Sträuchern wuchsen große Früchte aus knusprigen Samen und süßem, knackigen Fleisch, das sich beim Lagern über den Winter in verschiedene Geschmacksnuancen entwickelte. Direkt gepflückt schmeckten sie nach Himbeeren und frischen Feigen. Nach einigen Wochen waren sie nussig und rochen nach Marzipan. Und am Ende des Jahres, kurz bevor es wieder neue Früchte gab, schmeckten sie nach Caramel und Honig. Und auf den reichen Böden gediehen salzige, aromatische Wurzeln und wohl schmeckende Schösslinge, deren Verzehr roh und gegart ein Genuss war. Es gab von allem so viel, dass es für alle reichte. Und wenn Ungleichgewicht drohte, hörten sie auf, sich zu vermehren.

Auch der Mensch hatte sich verändert. Die Leidenschaften waren unter dem grellen blauen Licht gewichen, unter dem weichen blauen abendlichen Schimmer und im warmen, satten Mittagslicht. Es gab keine Gier mehr, keine Missgunst, keine Besessenheit und keine Süchte, keinen Geiz und keine Mordlust, weder Krankheit noch Not. Auch die Eifersucht war verschwunden. Vielleicht war auch der Grund, dass die Vermehrung der Lebewesen nicht mehr körperlich vor sich ging, sondern über den Geist. Dort, wo Verständnis ist und Wohlwollen, Toleranz und Güte. Manche schmunzelten noch über ihre Vor-Vorfahren, denen der Sex so wichtig war, dass sie leiden mussten, mit und ohne ihn. Manche wunderten sich auch über die Zustände, als die Sonne noch gelb war, überhaupt jene, die sie nur noch aus den Erzählungen der Hochbetagten kannten, die von fahrenden, stinkenden Vehikeln berichteten und von tödlichen Wunden, wegen Rechthaberei oder Landbesitz.

All dies war Geschichte. Jetzt bewegte man sich in Gedanken fort und war in Sekundenschnelle an jedem denkbaren Ort, sogar auf dem Mond; dann zum Beispiel, wenn man das Kind befragen wollte, in dem man immer nur das eigene Kind erkannte, das eine klare Antwort auf jede Frage hatte. Auf jede einzelne.

Dieser eine Morgen, damals, als die Sonne zum ersten Mal blau strahlte, veränderte alles.

Helena [Pachs]


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