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Menschenrechtlerinnen

Am Totensonntag denken die meisten Menschen unserer Zeit an das Ende und an Verlust.

Vier Frauen machten sich auf den Weg zum Dahlemer Waldfriedhof, um das Grab einer verstorbenen Freundin zu besuchen. Sie waren warm angezogen und hatten Blumen dabei- große duftige Chrysanthemen.

Sie gehörten einer älteren Generation an und hießen Ute, Elisabeth, Inez und Ruth. Ein Mann, der ihnen auf einer der beiden Fichtenalleen des Friedhofs entgegenkam, wich hastig aus. Die vier Frauen wirkten einschüchternd mit ihren halblangen weißen Haaren und ihren leichten, schnellen Schritten.

Waren sie alt? Dieses Wort hätte ihre Wirkung nicht beschreiben können. Sie schienen der Zeit zu trotzen und nicht nur der Zeit.

Sie unterhielten sich über den vergangenen Sommer und das Fest, das ihr Amnesty International-Bezirk da gegeben hatte.

"Damals hat Dietlind noch gelebt!" sagte Ute. "Ach, es ging dann alles so schnell."
"Ja, diese Thrombosen!" erwiderte ihr Elisabeth. "Was für eine Heimtücke!"
"Seitdem mache ich mir auch manchmal Sorgen!" fuhr Ute fort. "Ich sollte das Rauchen aufgeben."
"Das hast du schon oft gesagt!" erinnerte sie Inez.
"Und ich bin immer noch gesund."
"Dietlind hat nicht geraucht und gesund gelebt. Es ist alles nicht so einfach."

Darin waren sich die vier Frauen einig. Sie sprachen wieder über das Fest. Sie hatten sich an den Vorbereitungen beteiligt und ärgerten sich über die geringe Zahl der Besucher.

"Wir müssen lauter werden!" meinte Ute. "Unsere letzte Aktion ist schon lange her."
"Wir sollten uns mehr um die Schulen kümmern. Denkt nur an den Rassismus dort, über den immer wieder geklagt wird. Wir sollten den Kindern besser erklären, was Menschenrechte sind."
"Wir sollten uns vor allem um die Kinder kümmern, die ein Asylverfahren erlebt haben. Wir sollten über Abschiebungen sprechen und Mitgefühl fordern."
"Ja!" warf Ruth ein. Sie blies eine Haarsträhne zurück, die ihr der Wind ins Gesicht geweht hatte. "Die meisten Menschen sind gleichgültig, weil sie sich diese Not nicht vorstellen können. Und wir können ja auch nur zuhören."
"Planen wir unsere nächste Aktion!" schlug Elisabeth vor. "Etwas Weihnachtliches, was meint ihr?"
"Einen Workshop? Vielleicht Basteln mit Flüchtlingskindern? Wie wäre das?"

Sie blieben vor einem Urnengrab stehen, auf dessen Gedenkstein "Dietlind Maurer" zu lesen war. Sie waren minutenlang still und betrachteten den Stein und das auf dem Grab liegende Tannengesteck mit Kerze.
Ute hatte plötzlich Tränen in den Augen. Sie wischte sie nicht weg, sondern beugte sich vor und legte ihren Chrysanthemenstrauß auf das Grab.

"Ruhe sanft!" sagte sie.
"Es war eine schöne Bestattung," erinnerte sich Elisabeth, "der halbe Bezirk war da. Dietlind hätte sich bestimmt gefreut."

Es war ein milder und freundlicher Tag. Die Frauen setzten sich auf eine nahe Bank. Sie sagten erst einmal nichts. Sie blickten um sich und auf ihre Schuhe. Die von Ute waren flach und gelb, die von Elisabeth reichten über die Knöchel und waren erdbeerrot. Und alle vier hatten im Licht der Nachmittagssonne den gleichen silbernen Schimmer auf den Haaren.

Eine junge Frau mit einem Kind im Tragetuch und einem größeren Kind an der Hand kam an ihnen vorbei. Das größere Kind schrie und zappelte.

Ute und Elisabeth und Inez und Ruth sahen zu. Sie übten sich sichtlich in Geduld. Aber als die Dreiergruppe sich einige Meter von ihnen entfernt hatte und weiter geschrien wurde, standen sie auf und gingen zum Ausgang. Besinnlichkeit schien an diesem Ort nicht länger möglich zu sein.

Sie machten sich auf den Weg zur Bushaltestelle- noch immer still. Auf dem Hüttenweg war viel Verkehr, so dass ihr Schweigen nicht peinlich wurde. Und was gab es zum Tod ihrer Mitstreiterin noch zu sagen?

Sie blieben an der Bushaltestelle stehen und sahen den Bus herankommen. Als sich seine Türen öffneten, traten die vier Frauen auf den Radweg und wollten einsteigen.

Gerade da, als sie ihr Geld und ihre Karten zur Hand nahmen und für eine sehr kurze Zeit abgelenkt waren, raste ein Radfahrer auf dem schmalen Weg auf sie zu und mit verspätetem Klingeln in ihre kleine Gruppe hinein. Sie stürzten alle vier.

Mona [Ullrich]


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