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Selbst die Vögel fliegen nicht mehr in den Süden | Rezension

Jahreszahlen auf Buchcovern lösen im Lesegedächtnis unverschlüsselte Reaktionen aus. Wenn die seltsame Zahl 2020 aufblitzt, erweckt sie ähnlich wie seinerzeit 1914 ein mulmiges Gefühl, geht es doch bei beiden Jahren um große Katastrophen.

Raimund Bahr hat das pandemische Jahr mit einem trockenen Satz überschrieben: „Selbst die Vögel fliegen nicht mehr in den Süden.“ Die evozierten Vögel tauchen normalerweise in jeder Gedichtsammlung auf, um durch die Konnotationen Flug, Bewegung, Nest und Gesang das Wesen der Lyrik zum Klingen zu bringen. Die Zeit wird dabei zum Vogel, der nach gelungenem Nestbau in den Süden fliegt, um der Wärme zu folgen. Jetzt freilich sind die Vögel entweder schon ausgestorben und durch Drohnen ersetzt, oder aber sie sind im Lockdown und vergessen auf das Fortfliegen.

Das Journal ist eine Sammlung aus Kurzessays, Notizen, Lektüre-Mitschriften und Abklopfen der Zeit auf verdächtig stille Themen. Mittendrin ist der Autor selbst erstaunt, dass es ihm gelungen ist, das Schreiben so tapfer durchzuhalten. (110)

Der Leser wird gleich zweifach verführt, tiefer in die einzelnen Prosazellen vorzudringen. Einmal sind alle Teile mit einem seltsamen Zifferncode überschrieben, der eine Chronik verspricht, die voller Geheimnisse ist. Der Leser soll ruhig raten, was diese Zahlen bedeuten, so könne die Neugier wenigstens durch Zahlen belegt werden. Zum anderen beginnen die Abschnitte stets mit fett gedruckten Schlüsselwörtern, die mit einem Ruck die Botschaft freigeben. Begriffe wie, Flanieren (18), Lesung (72), ISBN (78), Herbst (82) oder Anhöhe (86) setzen das Schwungrad der Lektüre mit Leichtigkeit in Gang.

Im Hintergrund der Einträge zieht das Jahr mit seinem apokalyptischen Vokabular vorbei. Die Jahreszeiten heißen jetzt Welle und Lockdown, die Innenperspektive zeigt in der Hauptsache digitalisierte Hilferufe, wenn über das Netz Lesungen, Schule oder einfach nur Überlebensinformation abgeglichen werden sollen. Der Literaturbetrieb ist entgleist, und alle Versuche, ihm wieder ein Fundament zu verpassen, scheitern naturgemäß, weil die alten Begriffe nicht mehr passen und die Emotionen mit keinem gängigen Netzformat kompatibel sind.

Aus dieser Schräglage heraus wirken die Aufsätze seltsam offen, denn sie tasten sich in Felder vor, die rundum von Abgründen begrenzt sind.

"Schreiben wir so gerne über unseren alltäglichen Wahnsinn und verfassen wir immer peniblere und offenherzigere Autobiographien und schamlosere Literatur, weil wir uns und unseren Lesern glaubhaft versichern wollen, dass der Mensch eben nicht irrelevant sei?" (7) "Die zeitgenössische Literatur schließt aus Expertensicht zu viele Menschen aus, habe ich in einem Artikel gelesen." (87)

"Die Misere der heutigen Literatur ist, dass sie dem Markt nichts mehr entgegensetzt, sondern den Markt, die Gesellschaft, unser Leben nur noch abbildet." (91)

Alle diese Thesen gleichen einem Loch in der Wand, worin man einmal ein Bild an einem Dübel befestigen wollte, aber die Bilder sind während des Bohrens verlorengegangen. Neben diesen Analysen zu einem tot gepflegten Literaturbetrieb tauchen bemerkenswerte Pfade auf, die in das gesellschaftliche Dickicht hineinführen. Mit diesen Ideen könnte man später einmal, wenn wieder Licht ins Gestrüpp kommt, Veranstaltungen, Bücher oder Projekte machen.

Zum Beispiel sollte man sich um die Generation der Babyboomer (27) kümmern. Als die dicksten Jahrgänge auf der Bevölkerungspyramide rücken diese Kohorten jetzt gerade ab von der Arbeitswelt und versickern im verrenteten Nirwana. Welcher Autor aus dieser Szene der um 1960 Geborenen hat überhaupt seine literarische Gegenwart überlebt? An anderer Stelle taucht der Begriff vom "deutschen Geschlecht" auf. Ähnlich wie der deutsche Humor oder der deutsche Gedankengang bei Hegel bietet das deutsche Geschlecht für Beobachter jenseits des Kontinents allerhand Platz für Gelächter. Während die User der deutschen Sprache pandemiebedingt keinen Sex und keine Berührung haben, gendern sie die Geschlechter, bis auch der letzte Satz schon im Ansatz verstümmelt ist.

Der Autor klammert sich an den Glauben ans Schreiben, was aber mangels einer "Schreibunterlage" sehr zerbrechlich ausfällt. "Und alle Tage verwandeln sich in jeden." (49) Zwischen Beliebigkeit und Diffusion gibt es keine Gewissheit.

Als Überlebensprogramm bietet sich ein paar Tage lang die Digitalisierung des eigenen Nachlasses an. (59) Aber alle diese gespeicherten Files können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie genauso wertlos und eigenbrötlerisch sind, wie die ehemals auf Papier geschriebenen Notizen. Gegen die Zeit hilft auch das Digitalisieren nicht.

"Das wahre Unglück dieser Pandemie besteht darin, dass wir unsere eigene Irrelevanz und die unserer bisherigen Lebensweise zu erkennen beginnen." (137)

Der Ausblick ist je nach investiertem Gefühl hoffnungsvoll bis hoffnungslos. "Sie fragt: Gehen wir? / Er antwortet: Nein. / Sie fragt: Bleiben wir? / Er sagt: Nein. / Sie fragt: Was bleibt uns dann noch zu tun? / Er antwortet: Hoffen." (145)

Raimund Bahrs Journal aus dem Jahr 2020 gehört sicher zu den melancholischsten Zeugnissen dieser Epoche, in der plötzlich jeder Schreibende seine eigenen pandemischen Turbo gezündet hat. Allein schon der Titel lässt dieses Buch aus allen Übersichten hervorstechen, und beim Schreiben hat endlich einmal jemand die Gedanken so verfasst, dass Augenhöhe auftreten könnte zwischen dem Leser und dem Autor. Es sind Vorschläge, wie man aus dem Jahr herauskommt mit schmerzhafter Erinnerung. Dann könnte man es auch den Vögeln nachsehen, dass sie nicht mehr in den Süden fliegen.

Helmuth [Schönauer] | Zum [Buch]



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