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wortgeburt

'geht dir das auch manchmal so', fragt leonie, 'dass ein wort sich ankündigt und schneller als du es aussprechen kannst, ja noch bevor es fertig gedacht ist, tauchen stammverwandte begriffe auf, paronyme quasi, ich nenne sie prae-verbi.'
'prae-was?' emil zieht die augenbrauen hoch.
'prae-verbi, vor-wörter. sie bereiten den boden für das eigentliche wort, von dem du nicht weißt, woher und weshalb und warum gerade dieses nie gedachte, fremde, vergessene, überflüssige oder zukunftswort. der große unterschied zu einer normalen wortankunft, wie sie täglich tausendfach passiert, das herausragende daran, sind diese vor-wörter, noch keine richtigen wörter, eher reize, stimmungen, unleserliche buchstabenfolgen, nicht zu benennen und doch nicht zu negieren.'
'das musst du mir erklären.'
'hör zu. gerade vorhin wollte ich dir sagen, du hast ja eine neue Hose gekauft, da spüre ich die wehen der beginnenden wortgeburt, ein erwartungsvolles flattern im solar plexus, das ist spannend, aber nicht nur, es verunsichert auch, weil nicht zu beeinflussen, kontrollverlust hat immer eine bedrohliche komponente. auf dem komplizierten weg ins bewusstsein schickt das wort ein blitzlichtgewitter voraus, spots irrlichtern in alle richtungen, oder aus allen, so genau weiß ich das nicht, jedes nur ein nanomomentchen lang, die lösen sinneseindrücke aus, bild, ton, geruch, haptik, geschmack und alles, zu grell und gleichzeitig zu diffus, um fassbar zu sein, keine ahnung, wohin diese schlaglichter führen sollen.'
'was willst du mir damit beweisen?'
'also pass auf, wie ich sagen will, du hast ja eine neue hose gekauft, sind da die vor-wörter warm und wolle und grün und tracht und brauch und tradition und heimat, und erst dann denkt sich das wort, loden.'
'loden?', fragt er und zieht die augenbrauen hoch.
'loden', bestätigt sie. 'jahrzehnte habe ich nicht mehr loden gedacht. ein seltenes wort, eins von den vergessenen, es hat keine große bedeutung, um nicht zu sagen gar keine, außer die augenblickliche, wo seine geburt den vor-wörtern den weg frei macht und mir erlaubt, sie nach-zudenken.'
'das ist mir zu hoch.'
'nimm warm. warm ohne das bezugswort ist undifferenziert, aber jetzt, nachdem loden geboren ist, dämmern mir weitere zu diesem spezifischen warm gehörende eigenschaften, weich, dick, wasserabweisend, samtig, aber nicht seidig, eher grobpelzig und so weiter. oder nimm wolle. wolle ist in loden gewebt, gewalkt, verfilzt, geraut, geschoren, die skala von handwerksberufen führt zu wintermantel, steireranzug, jägerwams. deswegen grün. loden ist immer grün, höchstens noch grau für janker mit hirschhornknöpfen, kniebundhosen und bauernjoppen. alle anderen farben sind falsch, taugen nur für touristischen trachtenlook und heimatverbundenheit vortäuschende lokalpolitiker.'
'und das soll alles schon in diesen vor-wörtern gesteckt haben?'
'jetzt, wo du das fragst', sagt leonie und gerät ins grübeln, 'bin ich mir da nicht mehr so sicher, die nach-gedachten vor-wörter gehen möglicherweise nahtlos über in anknüpfende überlegungen, wer weiß schon, was zuerst war, die henne oder das ei. nimm tracht. tracht bringt mich sowohl direkt als auch auf umwegen zu trachtenlook, und von da ist es nicht weit zu brauch, der begriff kommt wohl ursprünglich von brauchen, notwendige abläufe, gewohnheiten. heute nicht mehr zwangsläufig, sondern brauch wird zum event, wie der alemannische brauch des winteraustreibens, funken abbrennen mit musikberieselung, bratwürsten und glühwein, und da gibt es noch eine steigerung, das event wird in die großstadt exportiert und von der vorarlberger funkenzunft in wien als sensation verkauft. es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, ob ich auf grund des vor-wortes oder als folge des nach-denkens jetzt zum beispiel auf heimat komme und über minderheiten resümiere, bekanntermaßen gebärden sich minderheiten besonders selbst-bewusst, um genau das gegenteil, nämlich ihr minderwertigkeitsgefühl zu überwinden. sicher ist nur, eins führt zum anderen und weiter und weiter lotsen mich diese aneinandergereihten gedanken, und ich kann froh sein, wenn ich die kurve kriege und einen bogen schlage und zurück finde zu mir.'
'und wie findest du meine hose?'
leonie greift nach dem hosenbein und reibt den stoff zwischen den fingern.
'ganz schön, aber loden ist es nicht.'

Margit [Heumann]


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