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Der Ozean auf der Nadelspitze

Sie sah auf ein Fenster ohne Licht. Das Flüstern der Vogelstimmen hing wie zerbrochenes Glas in den Bäumen. Ihre Hände zitterten. Manchmal fuhr ein Auto vorüber und ließ Streiflichter über ihr blasses Gesicht wandern. Von ihrem Platz auf der Bank sah sie die ganze Welt. Es fehlte etwas darin. Der Junge hatte ihr die Sprache und das Schweigen genommen. Den Augenblick und alles was noch kommen würde. Sie hielt das Nadelkissen in ihrer Manteltasche umklammert. Die Nadelköpfe pressten helle Druckstellen in ihre Haut. Mit den Fingerspitzen ihrer anderen Hand tastete sie nach der Stofftasche, die sie immer bei sich trug. Ein Mann kam näher. Er blieb vor ihr stehen. Sein Schatten verdunkelte ihren frierenden Blick.

Als sie vier Jahre alt war, schenkte ihr Vater ihr eine vergoldete Nadel. Er war Schneider und es gab nie einen Zweifel daran, dass sie, die einzige Tochter, eines Tages seine Werkstatt in Goddelau übernehmen würde. Doch es kam anders. Ihr Vater wurde krank. Er starb. Ihre Mutter verkaufte alles, was er besaß und träumte sich in eine Welt, aus der sie niemals mehr hinaus fand. Man gab sie in ein Waisenhaus in Darmstadt. Wenn sie dort an dem vergitterten Fenster ihres Zimmers saß, konnte sie durch das Fallen der Regentropfen und das Flüstern des Windes die Stimme ihres Vaters hören. Es gab nichts, das sie zum Schweigen brachte. Die Nadel, die ihr Vater ihr geschenkt hatte, lag auf einem blauen Samtkissen in einer Glashülle, durch die das Licht wie die Wellen auf der See atmete. Das flüchtige Glitzern der kurzen Nadelspitze erinnerte sie an die Nachmittage in der Werkstatt. Die Luft war erfüllt vom leisen Knistern der Stoffe. Die Bewegungen der Nadel blieben lautlos. Nur wenn ihr Vater an der alten Singer- Nähmaschine saß, schrumpfte der große und helle Raum unter der Sinfonie der Geräusche zu einer winzigen Kammer, in der ihr Vater wie ein Zauberer zwischen den Näherinnen, den Kleiderständern und den Regalen mit Stoffballen hockte.

Der Mann leuchtete ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht, dann schwenkte er auf ihre Stofftasche. Er trug die Uniform eines Wachdienstes. Für einen kurzen Augenblick lang sahen sie sich in die Augen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Also schwieg sie.

Der Mann ging weiter. Es begann zu regnen. Sie stand auf und ging auf das Haus mit den dunklen Fenstern zu. Seit dem Morgen fürchtete sie sich davor, in ihre Wohnung zurückzukehren. Dort gab es nichts, was sie trösten konnte. Der Regen wurde stärker. Sie flüchtete sich in einen Hauseingang. Nachtlichter durchschienen die Regenluft. Luft, die nach dem Haar, dem Atem, der Stimme des Jungen roch, dem sie heute Morgen begegnet war. Eine Geschichte, hätten das ihre Arbeitskolleginnen genannt. Es war ihre einzige Geschichte.

Am Morgen hatte man sie entlassen. Der Prokurist überbrachte ihr das Schreiben, als sie über eine aufwändige Näharbeit gebeugt an der Maschine saß. Dort stand etwas vom Niedergang der Textilindustrie in Hessen, der Billigkonkurrenz in Asien und Osteuropa und dem notwendigen Abbau von Stellen. Sie konnte sofort gehen. Man überreichte ihr ein Dankschreiben der Firmenleitung und eine Auswahl feinsten Nähgarns in einer Präsentschachtel aus Plastik. Mit ihr gingen sieben andere Näherinnen. Eine Weile standen die Frauen unschlüssig vor dem Fabriktor. Sie murmelten etwas davon, dass Menschen wie sie immer und überall zu kurz kommen würden. Der graue Himmel hatte die Schatten aus ihren Körpern gesaugt Als die anderen gegangen waren, stand sie noch immer dort.

Sie hatte nichts anderes gelernt als zu nähen. Es erschien ihr sinnlos, irgendwo hinzugehen. Jemand brachte ihr die Stofftasche, die sie in der Fabrik vergessen hatte. „Gehen Sie jetzt“, sagte er. Ihre Füße setzten sich in Bewegung. Mechanisch stieg sie in den Bus. Durch die schmutzigen Scheiben sah sie auf das schweigende Gesicht der Stadt. Früher hatte sie tagsüber nicht so viele Menschen auf den Straßen gesehen. Seit der Wirtschaftskrise war alles anders. So lange sie in die Fabrik gegangen war, schien sich nichts verändert zu haben. Jetzt sah sie auf die elenden Gestalten der Vorstadt, die gittergeschützten Schaufenster der leeren Geschäfte und die Schlangen vor den Ausgabestellen der städtischen Tafel. Sie hatte Angst.

An einem Platz, der ihr so fremd erschien, wie alles was sie sah, stieg sie aus. Die Dächer der schmalgiebligen Häuser ragten wie Nadelspitzen in den bleiernen Himmel. Sie erkannte den kleinen Kiosk, das von hellen Bäumen umstandene Rondell mit den Metallbänken und das Rund der Häuserfassaden aus der Gründerzeit. Das Bürgerviertel. Hier hätte sie gerne gelebt. Aber eine Wohnung in diesem Viertel konnte sie sich nicht leisten. In dem Geschäft an der Ecke kaufte sie ein Brötchen, einen Apfel und einen winzigen Spiegel. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Leute sie anstarrten. Verstohlen hielt sie den Spiegel vor ihr Gesicht. Sie strich sich die Haare glatt. Unter ihren Augen standen dunkle Schatten. Ihre Tasche fiel zu Boden, ohne dass sie es bemerkte. Sie lief ein paar Schritte. Wohin, das wusste sie nicht Plötzlich lag eine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich erschrocken um.

„Was verloren?“ Der Junge, der vor ihr stand, mit zerzaustem Haar und in einem Trenchcoat, der ihm viel zu groß war, lächelte sie an. Die weiße Stofftasche hing über seine Schulter. Sie antwortete nicht.
„Wohnst du hier? Wir könnten was trinken gehen, so als kleines Dankeschön. Ist nämlich ziemlich kalt.“

Sein Lächeln haftete in ihrem Gesicht. Das Blau seiner Augen verbarg einen Blick, der nie zur Ruhe kam. Er gab ihr die Tasche.

„Auch noch die Sprache verloren?“ Jetzt lachte er, wobei er seine dunklen lockigen Haare schüttelte.
„Nein. Nein, so ist es nicht.“ Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte sie. Sie überlegte eine Weile. „Wir könnten zu mir gehen. Ich wohne aber in der Siedlung Akazienweg. Wir müssten mit der Tram fahren.“ Im gleichen Augenblick, wo sie das gesagt hatte, bereute sie es. Sie biss sich auf die Lippen, doch der Junge legte seine Hand auf ihren Arm.
„Worauf warten wir dann noch?“

In ihrer Wohnung war es kalt. Sie setzte den Wasserkessel auf. Ihre Hände zitterten. Sie war es nicht gewohnt, jemanden in ihrer Wohnung zu haben, schon gar nicht einen Mann. Verlegen setzte sie sich an den Tisch. Der Junge zog seinen Mantel aus.

„Ich trinke keinen Kaffee. Ich werde etwas Tee aufsetzen“, sagte sie leise. „Die meisten trinken Kaffee, nicht wahr?“

Der Junge lächelte sie an. Sie spürte seine Blicke wie ein Feuer in ihrem Herzen. Sie fror. Der Junge sah sich in ihrer Wohnung um. Er hatte einen weichen federnden Gang und seine Bewegungen hinterließen keine Spur, keinen Schatten, nichts. Plötzlich blieb er hinter ihr stehen. Mit seinen Lippen fuhr er durch ihr Haar. Er zog ihren Mantel aus. Seine Hände glitten über die Wölbung ihres Pullovers. Sie stand auf.

„Der Tee... Das Wasser muss gleich kochen... Ich werde...“

Sie spürte plötzlich den salzigen Geschmack seiner Lippen auf ihrem Mund. Die Luft um sie herum war erfüllt vom Rauschen des Meeres. Während sie plötzlich jeden Widerstand aufgab und in seiner Umarmung versank, dachte sie an den einzigen Tag, den sie zusammen mit ihrem Vater am Meer verbracht hatte. Die Wellen hatten schmale Lichtkreise in den Himmel gemalt. Das Wasser war kalt und die Schiffe verschwanden im Winternebel. Manchmal fing sich die Gischt wie eine vergessene Sprache in den Schattennetzen des Ozeans, dort wo die Bilder ihrer wiederholten Träume ihren Anfang genommen hatten. Es war das schönste, was sie je gesehen hatte.

Der Junge zog sie fort, fort aus der Küche, wo sie den Herd ausgeschaltet hatte, fort von ihrer kleinen Welt, in der ihr mit einem Mal alles zu kurz und klein geraten schien, fort von allem, auf der Suche nach dem Universum im Kleinsten, da wo für das menschliche Auge nichts mehr sichtbar war. Seine Hände streichelten die Nacht herbei. Seine Fingerspitzen rieben Mondkrater in ihre Haut. Er machte, dass sie nicht mehr war. Es war als würde sie aus unsichtbarer Höhe ins Nichts fallen. Seine Zunge malte glänzende Schatten auf ihren Körper. Atemstaub schimmerte auf ihren Brüsten. Vor dem Fenster hingen Staubfäden aus Licht. War es noch Tag? War es Nacht? Seine Bewegungen öffneten stumme Türen. Alles wonach sie sich damals nach dem Tag am Meer gesehnt hatte, lag in diesen Augenblicken verborgen. Wie ein schwimmendes Blatt trieb sie über die blaue Bahn des Ozeans. Sie fühlte sich geborgen.

Ihre Bewusstlosigkeit währte nur Sekunden. Der blasse Raum um sie herum war erfüllt vom Gesang der Wellen. Der Junge trat an ihr Bett. Er war angezogen und seine Haare waren nach hinten glatt gekämmt. Er lächelte nicht mehr.

„Muss gehen“, sagte er.
„Wann kommst du wieder?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht wieder.“ Er sah ihren bestürzten Blick. „Vielleicht. Vielleicht komme ich heute Abend wieder, heute um acht. Wenn nicht, dann komme ich nie wieder.“

Er ging. Sie hörte das leise Klacken der Haustür. Die Luft war ein blaues Labyrinth. Ein Labyrinth aus Novemberstimmen. Sie stand auf und ging. Lange Wolkensäume standen vor dem Nachmittagshimmel. Sie setzte sich auf eine Bank an der anderen Seite des Platzes. Sie wartete.

Eine Windbö trieb den Regen in den Hauseingang. Die Kirchturmuhr schlug neun. Er würde nicht mehr kommen. Auf ihrem Gesicht zerliefen Wasser und Tränen. Ihr war, als hätte sie nur diesen einen einzigen Tag gelebt. Sie hatte alles erfahren: Nähe, Schmerz, Hingabe, Einsamkeit, Sehnsucht. Als sie damals mit ihrem Vater vom Meer zurückgekehrt war, hatte sie ein ähnliches Gefühl gehabt. Es war nur noch nicht enttäuscht worden.

Ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Sie zog die Hand aus der Manteltasche. Die Nadel war aus der Schatulle gefallen und hatte sie in den Handballen gestochen. Der goldene Kopf schimmerte im Regenlicht. Vorsichtig zog sie die kurze Nadelspitze aus der Haut. Langsam rann das Blut in ihren Ärmel. Schon als Kind hatte sie aus den kleinsten Verletzungen stark geblutet. Sie sah auf die dunkle Fensterfront ihrer Wohnung. Die Nacht war noch lang. Sie hielt die Nadel gegen das Regenlicht. Ihre Lippen öffneten sich. Sie spürte die Zungenspitze des Jungen in ihrem Mund, spürte den kalten Schatten der Nadel an ihren Lippen. Sie schluckte. Mit jedem Schlucken bohrte sich die Nadel tiefer in ihren Hals. Sie musste husten. Etwas Warmes lief in öligen Wellen ihren Hals hinab. Sie hockte sich auf den kalten Asphalt. Ihr wurde schwindlig. Das Wasser des Meeres flutete ihren Körper. Sie schloss die Augen. Alles verschwand in einem großen Blau. Der Himmel legte sich auf den Meeresgrund. Wenn sie sich bewegte, fing die Nadel ihre Bewegungen ein und wie eine Sonne lenkte sie den Ozean, den Mond und die Sterne in ihre Bahn. Der Saum der Wellen hielt fest, was längst verschwunden war. Was sie sah, war wie ein Spiegel ihrer wiederholten Träume. Niemand würde ihr folgen können. Sie atmete noch einmal tief ein. Und aus.

Daniel [Mylow]


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