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Sommer, und ich träum nur von Schnee

Es ist Sommer und ich träum' nur von Schnee. Ich befürchte, dass es der schlimmste Sommer meines Lebens wird.

Dreiundvierzig Grad. Sagt jedenfalls das Außenthermometer.

Ich befürchte, dass es der schlimmste Sommer meines Lebens wird. Und irgendwie zeichnet es sich ab. Meine Depression funktioniert wieder so gut. Alle Zahnräder in mir werkeln an meinem Verderben, drehen sich auf Hochtouren, kurbeln meinen Pessimismus an, und während mein Inneres rast, komme ich nicht vom Fleck. Ich habe Angst vor der Haustür. Ich traue mich nicht nach draußen, weder in die pralle Sonne, noch in den Schatten. Auch nicht zum Rauchen, obwohl ich doch eigentlich nikotinsüchtig bin. Ich will nur in meinem kühlen Keller sitzen oder liegen und mich einsam und verlassen fühlen und dazu träumen. Am besten auf der weichen Matratze, unter der Sommerdecke, liegen, und wenn es mir mal möglich ist, schlafen und träumen von süßen, gewaltigen Schneelawinen.

Ich irre stundenlang umher auf der Suche nach Beschäftigung. Ich will etwas lesen und verliere nach einer Seite das Interesse. Ich will etwas schreiben, nach einem Satz ist alles aufgebraucht, was irgendwie an Kreativität da war. Jeder erzwungene Satz danach klingt, wie ein Fertigprodukt von Nestle riecht – künstlich und ekelhaft. Ich lösche alles. Alle fünf Erzählungsanfänge. Dann will ich mich mit einer besonders rostigen Klinge eines Cutters schneiden, die ich beim verwirrten Pilgern durch meinen Keller fand, nur trägt man im Sommer ja zwangsweise kurze Klamotten. Man würde es direkt sehen, die Longsleeves nerven mich eh schon, und für die Pulsadern ist die Klinge zu stumpf. Dann will ich schlafen, nur habe ich bereits nachtmittags schon ewig gepennt und dabei einem Hörbuch von Hemingway gelauscht, von dem ich alles wieder vergessen habe. Und schließlich will ich sterben, doch bin zu müde und willensschwach dafür. Wie bedauerlich. Wie pathetisch.

Ich befürchte, dass es der schlimmste Sommer meines Lebens wird. Stark zitternd boxe ich meinen Punchingball und höre dazu Lana Del Rey mit "Summertime Sadness". Ansonsten hätte ich die Küche auseinandergenommen. Die übergroße Glasschüssel befand sich bereits verheißungsvoll in meiner Hand. Ich sah sie schon auf den Fliesen zerschellen und ich könnte schließlich "den Avicii machen", also mit der Scherbe die Adern entleeren. Warum siegt nur so häufig die Vernunft?

"I'm feeling electric tonight/ crusin' down the coast goin' 'bout 99/", singt Lana.

Ob ich der erste bin, der zu der schönsten Frauenstimme der Welt boxt und schlägt?

Vielleicht. Aber die Art und Weise, wie meine schmächtigen Arme das Polyurethan bearbeiten, kann man auch nicht boxen nennen. Allerhöchstens kräftiges Stupsen. Die Wut steht mir auch nicht. Was kann ich mickriges Geschöpf schon zertrümmern? Der Selbsthass dagegen steht mir besser. All die Narben passen zu meinem bleichen Spaghetti-Armen. All das Blut, das aus den Wunden floss, sah so schön aus, so schön und funkelnd bei Nachttisch-Lampen-Licht, dass ich es immer wieder tun könnte und vielleicht werde. Ich will mich da nicht festlegen. Das ist meine vielleicht letzte Freiheit.

Ich wische mir den Schweiß von der verpickelten Stirn und dresche wieder verzweifelt auf den Punchingball ein. Es ist ein Gegner, den man nie besiegt, er kommt stets wieder, egal wie sehr man ihn wegstößt, wie der Zweifel, wie die Angst, als wäre es eine dumme Parabel für das dumme Leben…

Vor einer Woche wusste und ahnte ich noch nichts von diesem Sommer. Es war tagsüber angenehm warm und nachts ein wenig kalt, doch nicht zu kalt. Ich blinzelte benommen auf das Display. Vier Uhr morgens. Eine magische Zeit, nicht mehr Nacht, noch nicht Tag, doch die Ansätze des Sonnenaufgangs erkennbar. Meine Nachbarn, die Kühe und Kälber schauten mir bei meiner "Gute-Nacht-Zigarette" zu. Ich versuchte dabei möglichst, nicht auf meinem Anzug zu aschen. Jeder auf dem Abiball wollte mit mir koksen. Warum? Alle zu viel Geld. Von irgendwelchen Mami-Lieblingen lasse ich mir liebend gern viel zu teuren Schnee legen, den ich nicht bezahlen muss, sondern halt die Mamis und Papis. Koks würde ich mir nie selber kaufen, aber wenn mich jemand fragt, immer, immer, immer nur her damit.

Die Koksnase, die da neben mir lief, war abartig paranoid.

"Kein Problem", sagte ich ihm und sammelte eine leere Wodkaflasche vom Teerboden auf, "ich kenne das Gelände hier und weiß ein paar Winkel zum Ziehen."
"Okay cool… Du willst die jetzt aber nicht zerdeppern, oder?", fragte er misstrauisch.
"Nein, natürlich nicht", lachte ich ihn an.

Fünf Sekunden später lasse ich die hin und her baumelnde Flasche los und sie zerspringt auf dem Parkplatz hinter uns. Plötzlich konnte man in seinem Gesicht nur Angst und Kokszuckungen erkennen, doch niemand konnte es uns zuordnen…

Im Laufe des Abends quatschte ich meinen alten Lehrern ein oder zwei Ohren ab. Diese merkwürdigen Wortfindungsstörungen, die ich manchmal habe ("ja dieser Bahnhof für Flugzeuge äh… ach ja Flughafen"), waren wie vom Erdboden verschluckt und ich referierte zügig und klar über alles Mögliche, das mir besonders wichtig vorkam.

"Kennen sie eigentlich diesen neuen Bottle Flip? Man braucht dafür eine leere Glasflasche, am besten diese großen Drei-Liter-Dinger, und einen betonartigen Untergrund. Dann nehmen sie die die Flasche in die Hand, werfen sie und schauen, ob sie wieder auf dem Flaschenboden landet…"

Ich zerdepperte etliche Flaschen und Gläser, bestimmt um die zwanzig Stück, immerhin zehn weniger als bei meinem Abiball. Die kleine Sehnsucht nach Zerstörung. Klirr. Warum musste ich meinen alten Lehrern die Krawalllust beichten? Ich hinterlasse eindeutig zu viele Indizien. Ich wäre kein guter Verbrecher. Ich zog die Nase hoch. Verflixt. Verhext. Verflucht. Will man ziehen, hat nie jemand was dabei, nicht einmal schlechtes Speed. Will man eigentlich nicht ziehen, will jeder mit einem koksen. Es war bestimmt schon die sechste Line. Ein bisschen zu viel Herzrasen. Immer diese süße Hoffnung, dass das klopfende Ding doch platzt. Denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Doch nur reinste provokante Todessehnsucht meinerseits. Mein Oberstufenleiter schaute irritiert drein, ja fast schon traurig für sein stets fröhliches Gemüt, als ich darlegte, dass 21 das neue 27 sei und ich auf guten Weg war, diesem Club beizutreten.
"War nur ein Witz."

Es wird der schlimmste Sommer meines Lebens. Ich rieche es, ich spüre es. Es liegt in der drückenden, stickigen Luft des heutigen Tages. Es riecht einfach nach Tod, nach Verwesung. Fliegen und sonstige Viecher suchen sich ambitioniert

Kadaver nach Kadaver, die nicht genug Wasser fanden und auf der Strecke blieben. Pech gehabt. So ist das Leben. Ein bisschen Glück oder Pech, Pech, Pech. Was reizt all die Menschen an der gnadenlosen Sommersonne? Sie ist nur eklig, nichts weiter, und ich kriege mehr das Gefühl, dass meine bleiche Haut die Sonnenstrahlen und deren Vitamine nicht aufnimmt, sondern nur elendig verdurstet und austrocknet. Übermächtig strahlt dieses nervige Ding am Himmel. Mit dem Schnee oder der Kälte kann ich mich wenigstens identifizieren, die pure Sonne dagegen ist an sich nur eklig und trotzdem fliegen so viele Menschen ihr nach. Sei es Mallorca oder Italien, überall findet man diese erbärmlichen Touristen auf ihren viel zu kleinen Handtüchern am Strand, die sich grillen und bräunen lassen, und dabei sich einreden, dass sie gut gelaunt sind, weil Urlaub. Das eine Jahr arbeiten hat sich wahrlich gelohnt und als Souvenir bringst du Hautkrebs mit. Mein herzlichster Glückwünsch.

Es zieht ein Gewitter auf und ich komme zu mir. Die Fenster werden zu-, die Bücher aufgeschlagen. Der Wind pfeift, der Regen prasselt, der Donner scheppert und währenddessen lese ich gemütlich. Diese Geräuschkulisse beruhigt mich, ich bin so klar im Kopf, wie seit langem nicht mehr. Endlich bringe ich wieder die nötige Konzentration auf, vertieft zu lesen, was ich so vermisst habe. Die Buchstaben verschwimmen und verflüchtigen sich nicht mehr. Meine Oma hat jetzt gerade wahrscheinlich Todesangst. Ich dagegen nur Todessehnsucht, die aber wegen des Gewitters in den Hintergrund rückt. Paradox. Oft, wenn der Tod in der Nähe ist oder einschlägt, kann ich erst richtig leben und fühlen. Ist er das nicht, ist alles so dumpf, leer, und grau. Zufrieden schlafe ich ein. Und am nächsten Morgen ist sie wieder da. Die Hitze…

Paul [Fehlinger]


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