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Gegen die innere Leere.
Literatur als Waffe zu Zeiten der Pandemie


Die Freiheit zur Sozialisierung und Selbstverwirklichung innerhalb gesellschaftlicher Strukturen ist für den Menschen als zoon politikon unerlässlich. Jedes Individuum benötigt ein interaktives Netzwerk, in dem es sich entfalten kann. Zwangsläufige Isolation aufgrund der aktuellen Pandemie reduziert die interaktiven Bestandteile der gesellschaftlich orientierten Realität und raubt sie in manchen Fällen gänzlich. Diese Umstände führen weltweit zu einer steigenden Vorkommnis depressiver und resignativer Gemütslagen.

Die gegenwärtigen Tendenzen resonieren mit kulturhistorisch bekannten Begriffen wie Schwermut, Ennui oder Melancholie, die in respektiven Diskursen als Formen der inneren Leere definiert werden. Innere Leere wird durch ein Verlustereignis, eine Trennung oder schwerwiegende Veränderung ausgelöst und kann im unbehandelten Fall zur Depression führen. Den Konsequenzen der als innere Leere erzeugendes Ereignis zu definierenden Pandemie gilt es, als Individuum entgegenzuwirken.

Aus der Begriffsgeschichte der drei eben erwähnten Termini sind diverse Indizien zur Therapierung durch Reflexion hervorzuheben. Der Humanist Marsilio Ficino riet zur Pflege des Verstandes zur regelmäßigen Meditation und Reflexion, in gleichem Sinne wie zu sportlichen Übungen zur Pflege des Körpers. Eine bewusste Steuerung der Kreativität und des Verstandes ließe den Menschen seine Emotionen lenken und prägen. Der Schweizer Arzt Johann Zimmermann empfahl für die Balance des Gemüts ein Gleichgewicht von Einsamkeit und Geselligkeit.

Diese aus dem 15.–17. Jahrhundert bekannten Methoden sind für das zeitgenössische Individuum in gleichem Maße günstig und gesund. Parallel zur Sozialisierung in der Gesellschaft ist eine gleichwertige Selbstkenntnis zu erstreben. Aktive Selbstreflexion hilft dabei, den eigenen Charakter samt Vorlieben, Interessen und Prinzipien zu erkennen. Je entwickelter die Fähigkeit zur Selbstreflexion, desto einfacher die Reduktion emotionaler Reaktionen auf unerwartete Verlustereignisse. Durch ein pragmatisches Denkvermögen wird die Stabilität des Gemüts verfestigt und der Entwicklung depressiver Zustände vorgebeugt.

Die unveränderbare Realität der Isolation gilt es zur bestmöglichen Bewältigung mit produktiven und positiven Impulsen zu füllen. Hierfür ist zunächst ein Rückzug von virtuellen Netzwerken notwendig, um dem Gehirn die Möglichkeit für eine Ruhepause zu bieten. Kritisch betrachtet sind viele soziale Interaktionen aufgrund ihrer situativen Bedingtheit ohnehin als redundant einzustufen – sie besitzen keinen emotionalen oder ideologischen Mehrwert über die respektiven Orte und Momente hinaus, an die sie gebunden sind.

Zeitgleich wird das isolierte Individuum in der virtuellen Realität durch Reizüberflutung überfordert. Ein ständiger Schwall an neuen Impulsen verdrängt den Wunsch zum Innehalten, zur qualitativen Reflexion und Kontemplation. Soziale Medien drängen dem Nutzer ein exponentielles Input auf, ohne die Option einer Pause oder Bearbeitung der Informationen zu genehmigen. Dringend zu empfehlen ist das Erforschen des eigenen Innenraumes und eine strenge Desillusionierung bezüglich des Unwerts oberflächlicher parasozialer Beziehungen. Die Abkehr aus der virtuellen Realität zugunsten der fiktiven Romanwelt bringt weitestgehend Vorteile mit sich.

Hinsichtlich der individuellen Reflexion ist die Literatur, insbesondere der komplexe Roman, ein wertvoller Partner. Zunächst ermöglichen die haptische Wahrnehmung sowie das Ausbleiben von App-Benachrichtigungen und visuellen Impulsen dem Gehirn den Raum zur Konzentration und Fokussierung. Die Narrative des Romans transportiert den Leser in eine andere Realität und bietet je nach Inhalt kulturelle, historische und psychologische Informationen zur Kontemplation an. Als Begleiter des Protagonisten hat auch der Leser die Option, sich als Suchender zu sehen und eine Entwicklung seines Charakters am Vorbild des Protagonisten zu bestreben.

Sobald das Individuum die Narrative emphatisch betrachtet, fördert dieser Prozess die Entwicklung emotionaler Intelligenz. Die Kontemplation in der Einsamkeit wird nun dank der Lektüre in einer fiktiven Realität zur produktiven Reflexion in der eigenen Realität. Die daran gebundenen positiven Impressionen lehren das Individuum, die Innerlichkeit als Zustand zu schätzen und zu suchen. Zerstreuung im reflexiven Sinne und im längeren Format bieten Erholung für das neuronale Netz.

Durch die Lektüre ist es für den Leser ebenso möglich, über zwischenmenschliche Verhaltensweisen über die eigene Person hinaus zu reflektieren. Die Ambivalenz eines Protagonisten demonstriert alternative Prinzipien und Ideologien, die von den eigenen Idealen abweichen, durch die Reflexion der Lektüre dennoch nachvollziehbar dargestellt werden. Der Kulturwissenschaftler der Budapester Schule Ferenc Fehér betonte, dass individuelle Erfahrungswelten dem modernen Roman zugrunde liegen und der Romanheld durch seine Offenheit zur Entwicklung bestimmt wird. So trägt das Leseerlebnis zum Konsum neuer Denkmuster und Erfahrungswelten bei, welche wiederum die Neuroplastizität des reflektierenden Individuums erhöhen. Kreative Impulse vermeiden das Entstehen von emotionalen Leerräumen, die aufgrund einer depressiven oder resignativen Neigung mit negativen Assoziationen aufgefüllt werden würden.

Denker der Antike, des Mittelalters, Humanismus und der Frühen Neuzeit betonten die Rolle der Reflexion und Kontemplation für die Erhaltung psychologischer Balance und geistiger Gesundheit. Die Theoretiker des 20. Jahrhunderts knüpften an diese Gedanken an: Beispielsweise Walter Benjamin und Arnold Gehlen bezeichneten Einsamkeit und Kontemplation als hauptsächliche Funktionen des Romans.

Hervorzuheben ist zu guter Letzt die Allgemeingültigkeit des Obigen: Im Gegensatz zu vormodernen Philosophen und Humanisten, deren Zielgruppe stets aus Herrschern und Denkern bestand, ist die Fähigkeit eines jeden Individuums zur Reflexion, Kontemplation und Kreativität für das gegenwärtige Jahrhundert unwiderlegbar – egal, ob diese Kreativität in Form von eigenem künstlerischen Schaffen oder in der bloßen Fähigkeit, über angelernte Verhaltensmuster hinauszuwachsen, auftritt.

Im Kampf gegen die innere Leere in der Zwangsisolation gelten die Fertigkeit zur individuellen Kontemplation und Reflexion als unschlagbare Waffen. Literatur als hochwirksames Mittel zur Bekämpfung der psychischen Konsequenzen der Pandemie prävaliert.

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Bibliografie
Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a. M., 1963. Elsing, Sara: Kreativ bleiben im Stillstand. „Begegnungen sind das Einzige, was bleibt“. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/kreativ-bleiben-im-stillstand-begegnungen-sind-das-einzige.3991.de.html?dram:article_id=493913, Stand: 14.03.2021)
Fehér, Ferenc: Ist der Roman eine problematische Gattung? Ein Beitrag zur Theorie des Romans. In: Individuum und Praxis. Positionen der ‚Budapester Schule‘. Frankfurt a. M., 1975. S. 148–190.
Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.): Arnold Gehlen. Gesamtausgabe. Bd. 3.1. Frankfurt am Main, 1993.
Klibansky, Raymond / Panofsky, Erwin / Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie – Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt a. M., 1992.
Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt a. M., 1969. Stäheli, Andrea: Materie und Melancholie: die Postmoderne zwischen Adorno, Lyotard und dem pictorial turn. Wien, 2004.
Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart, 1997.

Sandra [Falke]


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