[zurück] | blättern | [weiter] |
Amazon ist ein Deckname, denke ich mir Heute nur fünf Briefe im Fach. Die Sortierer lassen sich Zeit, wie immer. Und ich kann dann wieder Überstunden machen. So, den ersten Brief habe ich geöffnet. Sieht nicht gerade nach operativ-interessantem Inhalt aus. Eine Frau Hampel schreibt über ihre Knieschmerzen und mit den Nieren hat sie’ s auch. Da kann sie sich nicht mehr um den Garten kümmern, schreibt sie. Und ihr Sohn lässt sich natürlich nicht blicken. Ihrer Nichte schreibt sie das. HA! Der nächste Brief ist von der Nichte. Mein liebes Tantchen, schreibt die. Ist aber nicht die Nichte von der Hampel. Das erkenne ich am Absender. Manche geben ja bewusst einen falschen Absender an. Ich finde das raus. Ich finde alles raus. Die Nichte schimpft eine ganze Seite lang über ihren Mann. Der treibt sich rum. Trinken tut er auch, obwohl die Nichte schwanger ist. Das sind echte Probleme, denke ich mir. Nicht wie bei der Hampel, Knieschmerzen und Unkraut im Garten. Ich würde der Nichte ja raten, den Kerl zu verlassen. Das Kind kriegt sie schon alleine groß. Aber ich darf ja nicht, der was raten meine ich. Die darf das schließlich nicht wissen, dass ich ihren Brief lesen musste. Ich führe die dem Postverkehr wieder zu, die Brief meine ich. Ich bin ja Mensch, auch wenn die da draußen über uns was anderes behaupten, denke ich mir jedenfalls. Ich habe im Suff mal einen Kerl zusammen geschlagen. Richtig zurecht gemacht fürs Krankenhaus habe ich den. Er war nur der Falsche, leider. War Genosse, sogar Offizier. Verdient hatte er’s. Hat meine Schöne angebaggert. Ausgerechnet, als ich ihr einen Antrag machte und auf ihre Antwort wartete. Die ist dann wirklich mit dem losgezogen. Hat aber auch nicht lange gehalten. Die haben mich dann geworben, für die Postkontrolle. Was sollte ich machen, besser als Knast. Anfangs war ich nur in der Technik. Das hieß öffnen und schließen. War langweilig. Ich durfte da nichts lesen geschweige denn, was rausnehmen, aus den Briefen meine ich. Aber dann habe ich Lehrgänge besucht. Schriftenuntersuchung gefiel mir am besten. Röntgen darf ich auch, Briefe und Pakete durchleuchten meine ich. Ist aber nicht mehr so spannend wie früher. Verschickt kaum noch jemand Geld im Brief oder andere schöne Sachen, Plattgold zum Beispiel. Wir dürfen das ja nicht nehmen, das Geld meine ich. Unsere Kittel haben keine Taschen. Das kontrollieren die regelmäßig, dass unsere Kittel keine Taschen haben. „Ich ziehe mein letztes Hemd an“, sagt der Alex manchmal und wir lachen, obwohl’s makaber ist. Aber man sagt das ja so, das letzte Hemd hat keine Taschen. Die da oben stecken sich das Geld dann ein. Devisenbeschaffung. Ab und zu gelingt es mir schon mal, was einzuschieben, so unters Oberhemd. Dann muss ich schnell aufs Klo. Die Verstecke kennt der Alex auch, aber wir verpfeifen uns ja nicht, bei den Obrigkeiten meine ich. Die machen das doch auch, im großen Stil sogar. Aber heutzutage ist nix mehr drin in den Briefen. Gut, ab und zu schickt schon mal einer ein Foto. Sind meist alte Leute drauf, älter als ich. Die Fotos von den alten Leuten hänge ich mir nicht an die Wandzeitung. Regt ja nicht gerade den Appetit an, wenn man beim Essen auf so runzlige Gesichter schaut. Da stecke ich lieber Bilder von Frauen dran. Nee, keine Aktfotos. So einer bin ich nicht. Am besten gefallen mir die im Arztkittel, wo man ahnt, die haben da nix drunter. Ich habe da eine in Großformat, hängt an der Tür. Der hatte Geschmack, der Wessi, der das Foto von der Katrin gemacht hat. Ich nenne sie jedenfalls Katrin. So hieß meine Braut. Die sieht ihr sogar ein bisschen ähnlich. Ich denke mir, die Katrin studiert was großes, was für die Wissenschaft, oder sie wird Ärztin. Neulich hat mich die Schneider gefragt, was für eine Ärztin. „Nervenärztin“, habe ich spontan gesagt. Trotzdem hat sie den Kopf geschüttelt und gesagt: „In Ihrem Alter!“ Da habe ich sie stehen lassen, die Schneider. Ist mir sowieso zu neugierig. Die ist bloß neidisch. Die hatte beim Abhören noch nie einen Treffer. Das wissen alle. Kann froh sein, dass sie noch da ist. Da fällt mir ein, die muss ich ja auch noch anrufen, die Ärztin meine ich. Brauche ein neues Rezept. Hilft sowieso nicht, der Kram, den die mir verschreibt. Ich muss schon wieder pinkeln, obwohl ich den zweiten Kaffee weggelassen habe. Wo sind eigentlich die Rollcontainer. Die standen doch immer hier. Seit Jahr und Tag stehen die im Gang, von der Toilette aus gesehen rechts. Nicht viel los heute. Bei der Reinhold im Fach liegt eine Zeitschrift, schon seit gestern. Die nehme ich mir. Die Reinhold hat drei Kinder. Da hat die gar keine Zeit, Überstunden zu machen. Und so eine Zeitschrift muss man genau durchsehen. Ist eine Zeitung von der Bausparkasse. Fotos von Häusern und Möbeln. So ködern die von drüben unsere Leute. Weil’ s keine Baustoffe gibt, bei uns. Aber nicht mit mir. Die Zeitung ist beschlagnahmt. Offiziell ist sie verloren gegangen. Die taugt sowieso nichts, die Zeitung. Da ist nicht mal ein Kreuzworträtsel drin. Die hätte die Reinhold bestimmt auch rüber geschickt, zu den Asservaten. Es klingelt. „Die Zwölf“, sage ich. „Paket“, sagt ein Kerl. Ich reiße die Tür auf. Ich höre jemanden die Treppe hochsteigen. Der Bote hat ein großes Paket und ein kleines. In mir jubelt was. Aber dann frage ich mich trotzdem, warum der nicht mehr liefert. Da hat die Bezirksleitung bestimmt noch eine M einberufen. Zwischengeschaltet, meine ich. Die misstrauen uns. Der Alex darf nicht soviel Zeug aus den Paketen nehmen. Das merken die. Die kriegen alles mit. „Eins ist für Fichtler, das andere für Schneider. Ist keiner da. Würden sie das annehmen?“ Neuerdings muss man da auf so einem Plasteding unterschreiben. Haben die uns noch gar nicht durchgestellt. Meine Unterschrift da drauf, sieht nicht aus wie meine Unterschrift. Ist besser so, meine ich. Sicher ist sicher. Der Bote sagt, er lege eine Benachrichtigung in die Briefkästen. Will der mich testen oder was? Na gut, zwei Pakete, sind zwei Pakete. Aber erstmal muss ich aufs Klo. Die Rollcontainer sind immer noch weg. Wir sind wieder mal die Letzten, die erfahren wenn’s anders läuft. Ich lese die Absender auf den Paketen. Das Große ist von Amazon. Ist bestimmt ein Deckname. Amazon, was soll das sonst sein. Die halten uns aber wirklich für blöd, da drüben. Da kann ja alles Mögliche drin sein. Ich hatte mal ein Paket, das war ungefähr genauso groß. Da war ein Heizstrahler drin. Der funktioniert heute noch. Ich hebe das Paket an. Ist kein Heizstrahler, bestimmt nicht. Das hier wiegt schwerer, schätze ich. Mittagspause. Ich mache mir eine Dosensuppe warm. Schmeckt nicht. „Der Hunger treibt’ s rein“, sagt Alex immer, wenn wir auf der Kochplatte Beutelsuppen kochen. In die Kantine dürfen wir ja nicht mehr. Da haben sich welche nicht an die Zeiten gehalten. Hatten Kontakt zu den normalen Postmitarbeitern. Deshalb essen wir jetzt Beutelsuppen. Alex ist auch nicht an seinem Platz. Hat bestimmt schon wieder Urlaub, der Alex. Beim Essen schauen mir die Frauen zu, von den Fotos her, meine ich. Ob Katrin kochen kann? Wenn sie studiert, hat sie sicher keine Zeit für so was. Ich wollte ja auch mal studieren, irgendwas mit Physik. Bei Zeiss wollte ich anfangen, in der Optik oder so. Aber da hätte ich drei Jahre zur Armee gemusst. Das wollte ich nicht. „Ich gehe drei Jahre halbtags“, habe ich zu denen gesagt. Mit der Schlägerei hatte sich das dann sowieso erledigt, mit dem Studium meine ich. Und als ich meine Strafe verbüßt hatte, bin ich freiwillig bei denen geblieben. Man hat seine Ruhe hier oben über dem Verteiler und die Kollegen sind auch ganz in Ordnung. Außerdem ist es interessant, was man alles so in den Briefen und Paketen findet. Ich habe eine richtig gute Schallplattensammlung. Beatles, Stones, Udo Lindenberg, Neil Young, Suzi Quatro. Aber die habe ich getauscht, gegen Hannes Wader, obwohl das eine Süße ist, die Suzi. Würde sie gern mal wieder hören, die Geschichten, die Hannes Wader in seinen Liedern erzählt. Aber der Plattenspieler ist kaputt. Ich wasche ab, schalte das Radio ein. Das hat Alex mal konfisziert. Die Musik gefällt mir zwar nicht, die die bringen, aber ich will die Nachrichten hören. Da ist ein Postbote erwischt worden. Hat Pakete unterschlagen, ne ganze Menge sogar. Was er kriegt haben die nicht gesagt. Die Verhandlungen laufen wohl noch. Die Kaffeemaschine ist auch aus so einem Paket. Der Alex hat sich ja sogar mal eine goldene Uhr rausgenommen. Sowas mache ich nicht. Ich habe Respekt vor solchen Geschenken, weil die bestimmt für einen besonderen Anlass sind, Jugendweihe, Hochzeit und solche Sachen. Es klingelt. Vielleicht die Brieflieferung. „Teilnehmer!“, rufe ich in den Hörer. Die Schneider antwortet. Was will die denn. Die ist doch drüben in der 26, Abteilung 26 meine ich. Sie rümpft die Nase. „Herr Deuter, Sie haben doch wieder Ihre Kochplatte angelassen“, sagt die. Die will sich an mir vorbei drängen. Will sich reinschmuggeln in die Abteilung. Aber ich lasse sie nicht rein, auch wenn die drüben in der 26 ist. Soll ihre Telefone abhören. Das hier ist die Postkontrolle. Ich mache die Tür zu, schließe zweimal rum. Die hat aber recht, die Schneider. Habe wirklich vergessen, die Kochplatte auszuschalten. „Sie müssen Ihre Medikamente nehmen!“, schreit sie. Ja, ja ich gehe schon noch zur Ärztin. Was geht die das an. Hier ist noch was. Büchersendung. Geht an die Schneider, also auch eine Frau Schneider. Den Namen gibt’s ja wie Wasserdampf in der Abteilung M, hi, hi. Das werde ich mir genauer anschauen. Büchersendungen sind immer verdächtig. Da wird man fast jedes Mal fündig. Entweder es ist Schund oder Propaganda. Manchmal klebt auch zwischen den Seiten was, was wir nicht finden sollen. Wir entdecken aber alles. Sogar Geheimschrift entschlüsseln wir. Ein Medizinisches Fachbuch. Das ist mit Sicherheit Tarnung. Oder die Empfängerin hat wirklich ein Alkoholproblem, oder irgendeine andere Sucht. Ich weiß gar nicht, was es da noch so gibt, an Süchten meine ich. Da hilft sowieso nichts. Ich weiß bescheid. Ich habe schon einige Seelenklempner erwischt, die sich die Fachbücher darüber aus dem Westen schicken ließen. Habe die Bücher mit nach Hause genommen und gelesen, ehe ich sie weiterschickte. Naja alles habe ich nicht verstanden. Ich kann ja kein Latein. Aber das Wichtigste weiß ich schon. Dass sowas unheilbar ist, zum Beispiel. Das habe ich mir gemerkt. Und dass nur völlige Abstinenz hilft. Eigentlich ist Feierabend. Aber ich muss noch die Pakete durchleuchten. Besser, ich öffne sie gleich. Das geht schneller und ich bin dann sicher, dass mir nichts durchrutscht, nichts operativ interessantes, meine ich. Ich fasse es nicht. Vor Freude hätte ich beinahe in die Hose gepinkelt. In dem großen, mit dem Decknamen Amazon, ist ein Plattenspieler drin. Der sieht aus wie meiner. Lautsprecherboxen sind auch dazu und die Kabel. Der ist beschlagnahmt. Den muss ich aus dem Postverkehr ziehen. Fehlte noch, dass der Empfänger Musik vom Klassenfeind hört. Den schließe ich gleich an, den Plattenspieler, aber erst muss ich pinkeln. Geht einfacher als ich dachte, mit dem Anschließen meine ich. Ich entstaube die Platten. Zuerst die Beatles, was sonst. Mann, das war vielleicht noch Musik. Da kannst du jedes Radio abstellen heute. Als nächstes kommen die Stones dran. Da hält’s mich kaum im Sessel, bei Jumpin Jack Flash. Bei Sympathy For The Devil, schenke ich mir einen Cognac ein. „Das wärmste Jäckchen ist immer noch ein Cognäckchen“, sagt Alex immer, wenn er eine Flasche aus einem Paket nimmt. Da fällt mir ein, ich habe doch noch eine Havanna. „You Can’t Always Get What You Want, singt Mick. Doch, denke ich und schneide die Havanna an. Beim ersten Paffen klingelt’s. Ich paffe nicht mehr. Ich bin baff, als ich durch den Spion schaue. Da steht doch schon wieder die Schneider vor der Tür. Hält irgendeinen Schein in der Hand. Nee, denke ich. Nee ich habe Feierabend. Ich drehe die Musik leiser. Die Stones sollte man ja nicht leise hören, denke ich mir. Da lege ich eben Neil Young auf. Ich guck noch mal durch den Spion. Sie ist weg, die Schneider. Wer zu spät kommt, den bestraft die Post, heißt ein altes Sprichwort. Bin eingeschlafen. Die Nadel knackt auf der Platte. Morgen, nach Dienstschluss, höre ich mir den Udo an und den Hannes Wader. Da muss ich vorher Bier holen gehen. Zu Hannes Wader gehört ein ordentlicher Schluck Bier und zu Udo sowieso. Kann ich vielleicht auch besser schlafen, wenn ich Bier trinke. Und einen richtigen Strahl pinkeln, denke ich mir. Es klingelt schon wieder. Es ist zehn durch, Unverschämtheit meine ich. Der Genosse Führungsoffizier ist das nicht, denke ich mir. Der kommt nicht selbst vorbei um diese Zeit. Der ruft höchstens an. Alle anderen können warten. Gerade war ich pinkeln, da klingelt’s schon wieder. Nee Genossen, beim Kaffeetrinken lasse ich mich nicht stören und dann muss ich los, observieren. „Wo wollen Sie denn so früh hin?“, fragt mich die Schneider. Die schaut auf meine Aktentasche, als wolle sie die durchleuchten. Aber die ist doch von der 26, die Schneider. Das geht die doch gar nichts an. Oder haben die von der Bezirksleitung die Schneider versetzt, in unsere Abteilung? Das fehlte noch. Ist der Alex deshalb nicht an seinem Platz? „Herr Deuter, Sie sind Rentner.“, sagt die Dings, die Schneider. Sie fast mich an der Schulter, schiebt mich zurück in die Abteilung. Ich muss pinkeln und mir tropft es aus der Nase und den Augen. Weiß gar nicht warum. „Nehmen se Ihre Medikamente!“ Sie kommt mit rein. Aber das ist doch nicht erlaubt, denke ich mir, dass die hier mit reinkommt. „Wie das hier aussieht.“, sagt die Dings. Ich schieb sie raus. „Sie dürfen hier nicht rein. Wo haben Sie überhaupt die Geheimzahl her.“ Sie schüttelt den Kopf, geht aber. Heute gibt es geöffnete Briefe. Die sind fürs OPK, denke ich mir. Warum die Sortierer die an uns weitergeleitet haben verstehe ich nicht. Das sind doch Leute, die sie schon observieren, denke ich mir. Heißt ja nicht umsonst Operative Personenkontrolle. Einer heißt Rene. Ist noch ein junger Kerl, der Rene. Steht ja alles drin, wann der geboren ist und warum die den observieren. Ist nicht zur Anhörung gekommen, der Rene. Die werden nicht gerade zimperlich sein, bei der Anhörung, meine ich. Verhör wäre noch vorsichtig ausgedrückt. Aber er wird das schon brauchen, der Rene. Um wieder auf Linie zu kommen. Renne Rene, renne, wir fangen dich wieder ein, wir kriegen jeden klein. Ging nicht so ein Kinderreim? Hi, hi. So ähnlich jedenfalls, denke ich mir. Bei mir im Haus wohnte auch mal so ein junger Kerl, ganz oben unterm Dach. Der hatte schon zwei Vorladungen zum Verhör. Der hat die Briefe einfach in den Aschekübel geworfen. Waren sogar noch im Umschlag, die Vorladungen. Ich habe erst überlegt, ob ich dem sage, dass er so was nicht machen kann. Und dass er, wenn er da nicht hingeht, zu wer weiß was verknackt wird. Aber der war komisch, der Kerl. Der hat manchmal ganz große Pupillen gehabt. Wenn der mich damit ansah, brannten meine Narben an den Händen wieder. Obwohl das lange her ist, dass ich mich am Wasserdampf verbrannt habe. Wir haben ja jetzt Kaltdampf. Muss schon wieder aufs Klo. Die Rollcontainer sind immer noch nicht an ihrem Platz. Wer weiß, wer die weggebracht hat und warum. Wir hier oben, sind ja immer die Letzten, die was erfahren. Es klingelt schon wieder. Warum schicken die die Sendungen denn nicht mit dem Aufzug hoch, frage ich mich. Der lacht, der Bote, als ich Teilnehmer sage. Der ist bestimmt neu. Ist auch ein anderes Auto, ist weiß und auch nicht so groß, das Auto meine ich. Der bringt mir ein Päckchen, kein Paket. Geschenksendung, keine Handelsware, steht da drauf, auf der Plastefolie. Ideen haben die da drüben. Die denken bestimmt, die Folie kann man nicht durchleuchten. Da sind mit Sicherheit irgendwelche Propagandaschriften vom Klassenfeind drin. Wie soll ich das denn öffnen, ohne dass es einer merkt. Da muss ich morgen mit dem Alex drüber reden. Oder besser gleich mit dem Minister. Hier ist doch noch ein Rezept. Wie kommt das denn in den Kochtopf? Ist fast unleserlich, das Rezept meine ich. Da ist Suppe drauf. Ich hole das trotzdem ab, das Medikament. Die Betriebsärztin kontrolliert ja alles, denke ich mir. Die Apothekerin schiebt die Brille hoch, schaut mich an. „Sie leben doch nicht allein, oder?“ Was geht die das an, denke ich mir. Sie malt eine große Zwei auf die Packung. „Zweimal täglich“, sagt sie. „Ja nicht mehr. Haben Sie ein Dossier zu Hause?“ „Jetzt geben Sie schon her“, sage ich, da sehe ich die Briefträgerin. Die steht direkt vor der Apotheke. Da kann ich die Post noch mal nach verdächtigen Sendungen durchsehen. Bei mir rutscht nichts durch, nichts Verdächtiges meine ich. Drei Briefe ziehe ich aus dem Verkehr. In mir jubelt was. Ist ein Gefühl, wie beim ersten Stoneskonzert, das ich erleben durfte. Da konnte nicht jeder hin. War eine Auszeichnung. Die haben dort sogar die Taschen kontrolliert. Naja, die haben mich nicht erkannt, sonst hätten die mich ohne Leibesvisitation durchgelassen. Bei dem einen steht kein Absender drauf, Brief meine ich. Der Andere ist noch mal extra mit Klebestreifen zugeklebt. Beim dritten Brief, den ich rausgezogen habe, ist die Adresse mit Maschine geschrieben, der Absender auch. Dann entnehme ich noch zwei Büchersendungen. Bei Büchersendungen wird man immer fündig. „Was machen Sie denn da?“ Ich stehe stramm, als stünde der Offizier vor mir. „Meine Arbeit“, sage ich. Sie reißt mir die Briefe aus der Hand, steigt aufs Fahrrad, fährt mir fast über die Füße. Ich kann grad noch so zur Seite springen. Bin mir sicher, dass das Absicht war. Die weiß wohl nicht, wenn sie vor sich hat. Die Apothekerin klopft an die Scheibe, hält das Nervenzeug dran. Ich winke ab. Ich bin nicht krank. Die spinnen doch alle. Ich habe nur zuviel Stress. Täglich hundert und mehr, Briefe meine ich. Ich hole mir mein Feierabendbier. Die hinterm Ladentisch, die Dings, schaut mich komisch an. „Wir sind eine Fleischerei. Gehen Sie nach Hause, Sie brauchen bestimmt kein Bier mehr!“ „Frechheit!“ Hole ich mein Bier eben woanders. Drei Flaschen sind genug, sonst renne ich die ganze Nacht aufs Klo. Eine Zigarre habe ich mir auch schon gekauft. Muss sein, zu Udo und Hannes Wader, denke ich mir. Der wollte mir eine Sprachlos aufschwatzen. Das stand zwar da nicht drauf, auf der Banderole. Aber ich rieche das, wenn die nur den Kehricht aus der Zigarrenfabrik zusammengerollt haben. Dem habe ich aber gezeigt, wer hier der Minister ist. Hat mir eine ganze Schachtel Diplomat unterm Ladentisch vorgeholt, der Kerl. So, endlich zurück. Es klingelt schon wieder. Der hat gar nichts in der Hand, der Bote. „Sie haben doch am Dienstag ein Paket für Fichtler angenommen“, sagt der und schaut mich an, als wolle er mich verhören. „War für Schneider“, sage ich. „Da war nichts drin. Sie verstehen, was ich meine.“ „Ich rede von dem Paket für Fichtler. Die haben uns mitgeteilt, dass sie das nicht erhalten haben.“ „Das hier ist die Kontrolle, nicht die Zustellung“, sage ich und mache die Tür zu. Ich habe schließlich Feierabend. Pinkeln muss ich auch schon wieder. Ich will meine Platten hören. Der Alex ist ja auch schon gegangen. Hat die Kochplatte wieder nicht sauber gemacht, der Alex. Das sage ich dem Morgen, dass ich nicht immer seinen Dreck weg mache. Klopfen, Klingeln, Rufen. Ich kann doch nicht hexen, auch nicht, wenn der Genosse Minister vor der Tür steht. Ich denke mir jedenfalls, dass er es ist. Wer sollte sonst so ein Manöver veranstalten, mitten in der Nacht. Da blendet was. Das kann nicht sein, dass es so hell ist, in der Nacht meine ich. Die sind überall, die Spitzel. Aber ich bin doch kein Dings, kein Feind. Wieso schnüffeln die denn überall rum. Sogar im Toilettenraum sind die. Einer hält mir eine goldene Uhr vors Gesicht. Wieso ich die in den Spülkasten getan hätte, fragt der. Mich fragt der das. Ich war das aber nicht. Aber ich verrate ihn nicht, den Alex. Ich soll mich anziehen. Die wollen mich mitnehmen. Die Schneider fragt, ob ich Hilfe brauche beim Packen. Wusste ich es doch, dass die eine Verdeckte ist. Wer soll den Alex denn sonst verraten haben. Die sollen mich ruhig verhören. Ich habe nur meine Arbeit getan. Wieso sind die denn mit dem Krankenwagen da? Wahrscheinlich, dass keiner was merkt unten im Verteiler, denke ich mir. Die wissen ja nicht, was wir hier machen, die normalen Mitarbeiter. Die Fahrt hat gar nicht so lange gedauert. Ausweiskontrolle ging auch ganz schnell. Die nennen das hier Chipkarte. Na das ist ein Deckname, denke ich mir. Oder nennen die das beim Klassenfeind wirklich so? Ich bin drüben, da bin ich mir sicher. Die hören hier den ganzen Tag den Feindsender im Radio. Pfirsiche und Annanas gibt es auch, soviel man will. Das sei nicht aus dem Delikat. Das sei normal, sagt die, die mir das Essen bringt. Ich darf sogar Pornozeitungen angucken, wenn ich will. Ich darf überhaupt alles. Also alles, was ich drüben nicht durfte, meine ich. Die wollen mich testen, denke ich mir. Neulich hab ich den Sonderzug nach Pankow mitgesungen. Da haben die das Radio lauter gedreht und gelacht. Die Feindpresse liegt hier offen auf dem Tisch. Darf jeder lesen. Da stimmt was nicht, denke ich mir. Die zwingen mich Tabletten zu schlucken. Aber nicht mit mir! Ich durchschaue alles. Die Tabletten sind konfisziert, alle. Wenn ich wieder rüber muss, zeige ich die dem Genossen Minister. Die sagen, es ist vorbei. Ich muss nicht rüber, weil es kein Drüben mehr gibt. Es gäbe keinen Klassenfeind mehr, behauptet die, die mir das Essen bringt. Das stimmt nicht, denke ich mir. Es ist nicht vorbei. Es ist nie vorbei, meine ich. Die sagen das nur, um mich zu testen. |
Mona [Krassu] |
[zurück]
| blättern |
[weiter]
startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum |