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Please act: The CEO Survey
Am 1. August bekomme ich einen neuen Chef. Er wird in Folge der sechste neue Chef für mich in bald 24 Jahren in der Firma sein. Der neue Chef zeichnet sich durch ein Alleinstellungsmerkmal aus. Er meldete sich bei mir schon ein Monat vor seinem Dienstantritt per E-Mail mit der Bitte, ihm ein paar Fragen zu beantworten. An den Beginn seines Schreibens an mich setzte er den Satz „I am really excited about joining the team, and I want to hit the ground running.“, Nachdem die Firma - noch - über 100 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, wurde das Schreiben natürlich professionell aufgesetzt, mit einem Link zu einer extern betreuten Mitarbeiterbefragungswebseite, die anonymes Antworten sicherstellt.
Mir fiel sogleich ein, was ich meinem neuen Chef, ich nenne ihn P, nach dem Anfangsbuchstaben seines Vornamens, mitteilen wollte. Ich klickte auf den Link in seiner Mail zur Befragung, war neugierig auf die Fragen und welche darunter sich wohl am besten dafür eignen würde meine Botschaft an ihn zu platzieren. Zu meiner Überraschung konnte ich mich von Seite zu Seite der Befragung weiterklicken, ohne eine einzige Frage beantwortet zu haben. Was ganz ein meinem Sinne war, ich wollte ja erst alle Fragen sehen, ehe ich zur Beantwortung schreiten wollte. Ein weiterer Klick ließ ein Fenster am Bildschirm aufpoppen. Danke für die Teilnahme an der Befragung, die hiermit geschlossen ist. Pech gehabt. Meine Ansicht, die ich P unabsichtlich damit vermittelt hatte, gleichte einer „tabula rasa“.
So will ich hier nun anonymisiert an einen für mich anonymen Leserkreis die Antwort geben, die mein neuer Firmenchef hätte bekommen sollen.
Lieber P,
ich bin ganz sicher, das dir die Nennung der Vornamen in dieser Abfolge etwas sagen wird: Nikita - Leonid - Juri - Konstantin – Michail.
Wir beide wissen, dass Politik und Geschäftsunternehmen nicht vergleichbar sind. Staaten, vom Kleinstaat, über die Regionalmacht bis zur Supermacht, sind nicht mit privatkapitalistischen Firmen, vom Kleinkrämer über den Mittelständler bis zum globalen Konzern vergleichbar in der Aufgabensetzung und in ihren Strategien der Aufgabenbewältigung. Wir wissen allerdings auch beide, dass Politik in Form von Staaten organisiert wird, dass Wirtschaftsgeschäfte in Form von Unternehmen und Firmen organisiert wird. Und, dass die Zielsetzung jeder Organisation ihre Aufrechterhaltung ist, die am einfachsten durch Wachstum zu gewährleisten ist. Jedwede Organisation folgt einem zeitlichen Phasenverlauf inklusive gewisser-Pfadabhängigkeiten:
Eintritt in die Welt– [X] - Eroberung eines Platzes – [X] - Wachstum/Erfolg – [X] - Sättigung – [X] - Stagnation – [X] - Niedergang – [X].
[X] steht für Etappen, die berüchtigten Pfadabhängigkeit zu durchbrechen, wenn … ja was? Der richtige Mann, die richtige Frau zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Heft des Handeln in die Hand nimmt oder andere Wunder geschehen, die von Reform bis Revolution/Neuerfindung reichen können, wenn es dazwischen nicht ganz so rund läuft, wie erhofft. Für das letzte X in der Reihe kannst du die Reform vergessen, das geht nur noch über Revolution oder Neuerfindung.
Du, lieber P trittst in 2020 in die finale [X]-Phase als CEO von N (so will ich hier die Firma anonymisieren) ein, wie Michail anno 1985 als KPdSU-Chef der UdSSR. Die Geschichte lehrt uns, dass Michail zu spät kam.
Nicht weil Michail als Individuum zu schwach war. Es lag wohl mehr daran, dass eine zu große Zahl an Sowietbürgern das System bereits abgeschrieben hatte. Wenn eine ausreichend große Zahl an N-MitarbeiterInnen so denkt wie ich (das System bereits abgeschrieben haben), und die dir das per Umfrage auch so sagen, solltest du besser schnell Meter machen und den CEO Job bei N am 1. August sausen lassen.
Wie die große Zahl an KollegInnen aktuell über die Firma denkt, kann ich natürlich nicht wissen. Aber ich glaube, das muss ich auch gar nicht. Die Fragen sind so gestellt, dass du, lieber P zwar einen Eindruck von der Stimmung innerhalb von N bekommen willst, aber du dich ohnehin nicht mehr davon abbringen lassen willst die Aufgabe zu übernehmen.
Ich wage aus rationalen Gründen die Prognose, dass du lieber P für N das sein wirst, was Michail Sergejewitsch Gorbatschow für die UdSSR war. Der letzte Mann auf der Kommando-Brücke vor dem Untergang.
Wobei, wir beide wissen um die Geschichte der Firma. Als 1991 ihr wesentlicher Absatzmarkt zusammengebrochen war und der damalige Chef der Firma keinen gangbaren Weg mehr aus der Krise fand, nahm er seinen Abschied aus dem Fiasko durchs geöffnete Bürofenster. Eine Hand voll junger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Praktikanten vor ihren Studienabschlüssen übernahmen das Kommando über die Firma, erfanden sie neu und machten aus einem einstigen Gemischtwarenladen regionaler Bedeutung binnen sechs Jahren einen der Top 5 Business-Brands der Welt, neben Coca Cola, McDonalds und so weiter. Damals glückte diese an ein Wunder grenzende Durchbrechung der Pfadabhängigkeit.
Lieber P, ich wünsche dir gegen alle rationalen Erwägungen, viel Glück in deiner neuen Rolle. Nicht deinetwegen, nicht meinetwegen. Würde ich ja beim Bankrott der Firma nicht bloß meinen hochdotierten Job verlieren, sondern auch um meine Abfertigung umfallen. Ich wünsche dir alles Glück, weil ich das Land und allgemein die Menschen dieses Landes sehr mag, aus dem die Firma stammt.
Mach es gut. Möge das Kunststück der Neuerfindung noch einmal gelingen. Grüße in den hohen Norden.
R
Robert [Hobl]
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