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Die gestrichenen Stellen

Von den neun Büchern, die ich bisher publiziert habe, kam es nur bei einem einzigen auf Grund des Lektorats zu einer umfangreicheren Revision. Bei einem anderen Typoskript habe ich selbst – auf Empfehlung eines Schriftstellerkollegen hin – mehrere Streichungen vorgenommen, nachdem es bereits vom Verlag abgesegnet war. Sonst lieferte ich immer beinahe druckfertige Produkte ab. Abgesehen von Füllwörtern streichen, Adjektiven austauschen oder Neuformulierungen halber oder ganzer Sätze hatte das Lektorat neben der Rechtschreibkorrektur nicht viel Arbeit mit mir. Selten fiel ein ganzer Absatz dem Rotstift zum Opfer.

Bei dem zuerst erwähnten Buch, dessen Vervollkommnung mir Schwierigkeiten bereitete, handelt es sich um meinen Roman Der Zurückgekehrte. Neben der ersten handschriftlichen Ausführung und den Druckfahnen besitze ich in meiner Bibliothek insgesamt sechs Typoskripte dieses Romans, bei denen es sich teilweise um idente Fassungen handelt und die – außer von zweien – alle mit Anmerkungen von Lektoren und eines Schriftstellerfreundes versehen sind. Zwei andere Kopien mit Anmerkungen müssten sich noch im Archiv des Otto Müller Verlages befinden, dem ich das Werk zunächst angeboten hatte.

Allein diese Fülle weist auf die schwierige Entstehungsgeschichte dieses Buches hin. Im Oktober 2010 kam es – ein Jahr nachdem ich das Manuskript zugesandt hatte – im Büro des Otto Müller Verlages, wo 2006 schon eine Erzählung von mir erschienen war, zur ersten Sitzung. Neben dem Verlagsleiter saßen mir eine Lektorin und ein Lektor gegenüber. Auf Grund der Kritik, die ich als konstruktiv empfand, schrieb ich damals den Anfang des Romans neu und baute das dritte Kapitel aus, das in der ersten Fassung sehr kurz geraten war. Das Werk trug zu jener Zeit noch den Titel Aufzeichnungen eines Zurückgekehrten. Hier der ursprüngliche Beginn des Buches.

Wann beschlich mich zum ersten Mal jenes starke Gefühl der Unwirklichkeit? – Ich erinnere mich gut an den Herbst 2007. Damals lebte ich in Japan. Das Land ist mir seit 1997 durch mehrere kürzere oder längere Aufenthalte vertraut und ich habe Ostasienwissenschaften studiert, mit der Vokabel Kulturschock konnte ich mir meinen Zustand vor mehr als zwei Jahren folglich nicht erklären. Doch, obwohl ich die fremde Sprache schon zu dieser Zeit fließend beherrschte, mir die Kultur nicht mehr neu war und ich dort auch Anschluss hatte, fühlte ich mich »draußen«, fühlte ich mich als nicht dazugehörig. Dies wäre weiter nicht schlimm gewesen, wenn es nur mein Verhältnis zu den Mitmenschen beziehungsweise meine Position in der Gesellschaft betroffen hätte, aber auf einmal trat mir alles, was mich umgab, selbst die Häuser und die Natur, als feindlich gegenüber. Urplötzlich stand ich mit nichts mehr in Beziehung, und ich sah mich und meine Welt bedroht.

Wer die Mühe nicht scheut, kann diese Zeilen mit der jetzigen Version vergleichen und sein Urteil abgeben. Ich selbst finde den neuen Anfang um vieles besser.

Ein halbes Jahr später wurde ich erneut zu einer Besprechung ins Verlagshaus gebeten. Die Lektorin und der Lektor übergaben mir jeweils ein wiederum mit Anmerkungen versehenes Exemplar des von mir überarbeiteten Typoskripts, die ich beide noch heute im Original dokumentieren kann. So gerechtfertigt die Kritik beim ersten Mal war, musste ich dieses Mal bereits während des Gespräches feststellen, dass man mich in eine künstlerische Richtung zu lenken versuchte, wo ich mich und mein Werk nicht sah. Die Lektorin führte auch moralische Gründe an. Gerade die beanstandeten Stellen sind aber ein wesentlicher Bestandteil der Dramaturgie. Dass mein Held seine Umwelt und die Mitmenschen nur in ihrer Objekthaftigkeit wahrnimmt und er dementsprechend mehr schlecht als recht seine Liebste behandelt, ist das Hauptthema des Buches. Zum ersten unten angeführten Absatz schrieb die Lektorin am Rand mit Bleistift unerträglich dazu und zum darauffolgenden meinte sie, dass mein Protagonist seine Freundin wie ein Werkzeug behandle. Für die Leserinnen und Leser, die meinen Roman nicht kennen, sei kurz erwähnt, dass mein Held – ein hauptberuflicher Übersetzer aus dem Japanischen – gerade den japanischen Schriftsteller Kunikida Doppo ins Deutsche überträgt und er eine Beziehung zu einer wesentlich jüngeren Koreanerin führt, die im Buch mit E. benannt wird.

E. hat freilich jetzt viele Entscheidungen zu treffen und muss neben der Liebschaft zu mir nun vor allem an ihre berufliche Zukunft denken. Hier in Salzburg bieten sich ihr keine großen Chancen, und eine Frau, die mir auf der Tasche liegt, kann ich nicht gebrauchen, da ich als Übersetzer nicht so viel verdiene und den für mich in den letzten Jahren erreichten Wohlstand nicht aufgeben will.

Ich stelle mir nun öfters vor, dass ich mir mit einer Partnerin, die aus dem gleichen Kulturkreis stammen beziehungsweise die gleiche Muttersprache pflegen würde wie ich, wahrscheinlich viel Ärger ersparen kann. Sicherlich ist eine Ostasiatin auf der anderen Seite wiederum sehr hilfreich für meine Tätigkeit als Übersetzer aus dem Japanischen, aber ständig, in meinem Beruf wie im Privaten, immer vermehrt auf Verständlichkeit bemüht zu sein, macht mir gewaltig zu schaffen.


Zugegeben, diese zwei Abschnitte sind nicht besonders gelungen. Über den künstlerischen Wert hat die Lektorin aber kein Urteil gefällt. Ich habe trotzdem den ersten Absatz um den entscheidenden zweiten Satz gekürzt und den anderen gänzlich gestrichen. Auch eine andere längere Stelle habe ich noch herausgenommen, obwohl diese als interessant befunden wurde, aber nach Auffassung der Verlagsmitarbeiterin aus dem Rest des Textes herausfällt.

Was seine Einstellung zur Natur betrifft war Doppo von Wordsworth jedoch mehr beeinflusst als von Turgenjew und nicht völlig frei von Romantik. Wenn Doppo schreibt, dass Wordsworth die Menschen nicht getrennt von der Natur sehen kann, dass es bei dem englischen Dichter keinen Unterschied zwischen mysteriöser Natur und menschlichem Leben gibt, dann ist dies sicherlich wohl auch als eine Aussage über ihn selbst zu lesen, noch mehr, wenn man an die drei Beschreibungen der »unvergesslichen« Menschen denkt, die ganz mit ihrer jeweiligen Umwelt verschmolzen sind.

Eigentlich schade um diese Bemerkung zur Wahrnehmung von Landschaft. Ich hätte mich nicht zur Tilgung überreden lassen sollen. Es freut mich, dass sie wenigstens jetzt einen Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat.

Da sich das Lektorat große Mühe mit meinem Text gegeben hatte, wollte ich mich kompromissbereit zeigen und machte mich gewissenhaft an die Arbeit. Da ich aber nicht zu allen Konzessionen bereit war, kam es schließlich zum Bruch, und ich folgte damit dem Beispiel Thomas Bernhards, der auch aus nicht nur rein künstlerischen Gründen den Otto Müller Verlag einst verlassen hat.

Nach einer längeren Pause setzte ich mich im Herbst 2011, nachdem ich von zwei Schriftstellerfreunden Rückmeldungen zu meinem Text eingeholt hatte, nochmals zum Schreibtisch und brachte alles in die Form, die der Roman heute hat. Ich entschied mich zu einem anderen, dem jetzigen Titel und wählte ein Zitat von Hugo von Hofmannsthal aus, das ich meinem neuen Typoskript voranstellte. In relativ kurzer Zeit fand ich dafür einen Verlag, nämlich die Edition Laurin, die mir von Walter Kappacher empfohlen worden war. Genau ein Jahr später wurde das Buch publiziert. Es wurde meine bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreichste Veröffentlichung.

Soweit die Odyssee des Zurückgekehrten. Ich hole noch die Handschrift, zwei Typoskripte und die Druckfahnen meines bisher umfangreichsten Werkes hervor, das im Herbst 2017 unter dem Titel Der zweite Blick erschienen ist. In der ersten Fassung war es noch dicker. Ich durchblättere das eine Typoskript, in dem die Streichungen nachzuvollziehen sind, die ich nach eigenem Ermessen und auf Rat eines Schriftstellerkollegen hin in der zweiten Aprilhälfte 2017, nachdem ich von einem längeren Aufenthalt in Shanghai nach Salzburg zurückgekommen war, gemacht hatte. Der mit mir bekannte Schriftsteller hatte nicht den Text mit Anmerkungen versehen, sondern lediglich – als er ungefähr ein Drittel gelesen hatte – gemeint, dass ich ihn kürzen solle. Da ich bei manchen Stellen selbst Bedenken hatte, fühlte ich mich ermuntert, diese herauszunehmen.

Das Werk trug damals noch den Titel Vita sexualis. Es gibt ein Buch des japanischen Schriftstellers Mori Ōgai gleichen Namens. Bei Mori Ōgais Erzählung handelt es sich nicht um anzügliche Prosa, wie der Titel vielleicht suggerieren mag, bei mir hingegen hatte er durchaus zunächst Programm. Wichtiger als die Beschreibung von erotischen Szenen war es mir aber, unter Berücksichtigung der Interpretation eines Begriffes aus der japanischen Ästhetik, einen Lebensstil zu vermitteln, deswegen ich dann nach Absprache mit der Verlegerin den schon vorher von mir angedachten Titel Der zweite Blick wählte.

Aus diesen und auch noch anderen Gründen strich ich vor allem die Zeilen und Absätze, in denen kopuliert oder fellationiert wird. Hier ein Beispiel aus einer Reihe von vielen. Wie schon im Zurückgekehrten habe ich den Frauennamen wieder mit einem Buchstaben abgekürzt.

Ich war noch gar nicht richtig fertig damit, als L. schon meinen Stängel mit ihren Lippen umschlossen hatte. Sie nahm mein bestes Stück jedoch nicht tief in den Mund, sondern nur die Spitze, und es verging nicht einmal eine Minute, bis ich in ihrer Mundhöhle kam.

Bei dem angeführten Beispiel habe ich in der Druckversion nur den ersten Satz stehen lassen, und ich ging auch in vielen anderen Fällen nicht mehr ins Detail, sondern beließ es bei der Andeutung, in der oft mehr Würze liegt als in ausführlicher Schilderung sexueller Handlungen.

Seit mehr als zwanzig Jahren ist das Schreiben meine Hauptbeschäftigung, und ich darf wohl behaupten, dass ich in diesen zwei Jahrzehnten einen gewissen Grad an Professionalität erreicht habe. Wie es manchmal in Situationen des richtigen Lebens notwendig ist, loszulassen, sich von einem geliebten Menschen oder einem Ort zu trennen, zählt auch in der Textproduktion die Fähigkeit des Aussonderns von Absätzen, des Streichens einer Formulierung, auch wenn sie als gelungen erscheint, zu den wichtigsten Komponenten von Artistik. Vielleicht ist dies mehr eine Frage von Charakter als von künstlerischem Talent.

Ich besitze noch zwei Typoskripte und die Druckfahnen meines Erzählbandes Sommerneige. Von der letzten Geschichte dieses Buches habe ich ferner die erste handschriftliche Fassung, von anderen zusätzliche Ausdrucke. Ich gehe auch noch diese Papierstöße durch. Die Erinnerung war nicht trügerisch. Ich fand in den vielen Seiten nur zwei Absätze, die damals von der Verlegerin mit Rotstift gekennzeichnet worden waren.

Peter Simon [Altmann]


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