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litera[r]t
[heft 8] [märz 2013] wien - st. wolfgang
Die Staubmaus
Mario Karl Hladicz
… wann ich zu Staub zerfiel? Tatsächlich weiß ich nicht, wie lange ich hier nun schon (nahezu) unbeweglich
auf der Straße liege. Für Staub, das habe ich mittlerweile begriffen, spielt Zeit keine Rolle. Auch darüber,
wie mein, nun ja, Missgeschick denn überhaupt zustande kam, lässt sich nur mutmaßen. Jedenfalls kann gesagt
werden: es kam plötzlich über mich. Wie auch sollte sich ein solches unerhörtes Ereignis ankündigen! Ich könnte
gerade Eis essend durch die Stadt spaziert sein, denn neben mir liegt seit geraumer Zeit eine zermatschte Eistüte.
Dann und wann läuft ein Hund vorbei und leckt flüchtig daran. Seine große rosa Zunge ist mir ein schmerzliches Symbol
des Lebens, zu dem ich nicht mehr gehöre. Oder vielleicht habe ich auch nichts Böses ahnend in meiner Wohnung
staubgesaugt, bin unter das Bett und hinter die Kästen gekrochen und dabei – schwupps – selbst zu einer dieser
hartnäckigen Staubmäuse verkommen und aus dem offenen Fenster geweht worden… Irgendwo in diesem schmutzigen Knäuel,
das ich nun bin, zwischen all dem Staub, den Fasern und Haaren, steckt jedoch noch so etwas wie ein letzter Rest von
Mensch, der auf eine Erklärung für sein Unglück pocht: Ist es die Bestrafung für eine mir unbekannte Schuld? Bin ich
bloß das erste Beispiel eines anstehenden kollektiven Zerfalls? Oder gar nur das traurige Produkt eines zweitklassigen
Erfinders? Undeutlich fühle ich ein gelegentliches Zucken in mir, ungefähr in der Gegend, wo sich früher wohl mein Herz
befunden haben musste. Ich deute es als leise Ahnung von einem früheren Leben; mit anderen Menschen, Frau und Kind
vielleicht. Dann sehe ich mich hilfesuchend um, warte auf einen Hinweis, eine Deutung meiner Existenz, doch niemand
wird mich aufklären, und bald schon ergebe ich mich wieder dem starren Dasein als Kehricht.
In meiner Verlegenheit habe ich versucht, Kontakte aufzunehmen, etwa zu einer zerknüllten Zeitungsseite zwei Meter
hinter mir oder zu einem Plastikfetzen schräg gegenüber, der sich kunstvoll um einen Laternenpfahl geschlängelt hat.
Nichts reagierte. Staubklumpen genießen kein allzu hohes Ansehen, ich kann es gut verstehen. Wie ich Staub stets hasste!
Ungerührt führt er den Menschen das Vergehen der Zeit und also ihr eigenes Vergehen vor. Deshalb wird er in den Häusern
und Wohnungen so penetrant bekämpft. Jedes Mal, wenn man den vollen Staubsaugerbeutel entleert, hofft man im Stillen wohl,
dem Tod ein Schnippchen geschlagen zu haben.
Tatsächlich beginne ich mich mit meinem verstaubten Vorhandensein mehr und mehr zu arrangieren. Ich habe mich zum Beispiel
schon dabei ertappt, wie ich zu mir selbst sagte: das Leben als Staub hat auch seine Annehmlichkeiten. Die Tage
verschwimmen, heiß ist es hier auf der Straße, auch nachts, und irgendwann dachte ich bei mir: Gut, dass du Staub
bist und nicht schwitzen kannst. Natürlich ist das lächerlich. Doch was ist das nicht? Ich bin da, von keinem beachtet,
ohne Funktion. Das Treiben auf der Straße nehme ich nur noch als fernes Dauerrauschen wahr. Einzig die gehetzten Passanten,
die ohne Nachsicht auf mir herumtrampeln, vermögen mich noch ab und an zu schrecken. Wenn etwa wieder einmal jemand mit
besonders festem Schuhwerk auf mich tritt und mich ein paar Meter weiter wirbelt, wünschte ich mir zuweilen, mitten in
einem Wald zerfallen zu sein, zu einem welken Blatt vielleicht, und um mich herum nichts weiter als Vogelzwitschern und
die kühle Waldluft.
Solche Momente nahe der Sehnsucht sind jedoch, das spüre ich deutlich, stark im Verschwinden begriffen.
Ich bin hier ganz für mich und betrachte den unmerklichen Verfall um mich herum; das langsame Verrosten
eines Fahrrads, das keiner mehr haben will, das allmähliche Einstauben einer Telefonzelle, für die es keine
Verwendung mehr gibt. Wird mir der Anblick meiner Straße zu eng, schaue ich in den Himmel und verfolge den
gemächlichen Lauf der Wolken; leider ist mir die Fähigkeit, etwas in ihnen zu sehen, abhanden gekommen. Schäfchen,
Blumen oder eine… ach, wie heißt das doch gleich… schon beginnen mir die Worte zwischen den fehlenden Fingern zu
zerrinnen… Das Beste, so denke ich mittlerweile, wird wohl sein, mich ganz Staub-gemäß zu verhalten; gleichgültig
dem lärmenden Auge der Welt entgegenzublicken; die Sache reglos auszusitzen und ruhig zu warten; auf einen stärkeren
Windhauch vielleicht, der mich für immer davonträgt, oder auf den heilsamen Regen, der mich heimlich, still und leise
in der schwarzen Kanalisation verschwinden lässt.
© beim autor
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