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litera[r]t
[heft 8] [märz 2013] wien - st. wolfgang
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desiderata
von den gestirnen über berlin herabgefleht
silvia waltl
d1
am hackeschen markt wo wir flammkuchen
aßen unterm sauber gekachelten gewölb
der kirchen für den fern- und
nahverkehr
wo jetzt ein leerer eisenrahmen an
den buchladen erinnert der mir damals
mit goldenen vexierbildern aushalf
vier tage vorm merry x-mas und ich
hatte nicht weiter gewusst
jetzt ausgeräumt verzogen und die züge
ratterten uns unentwegt durchs gebein es
ist april und SALE ums eck wird
so manche seele feilgeboten
ans kaufwütige volk verscherbelt
man kommt von jott we de und prüft
beelitzer spargel zwischen bier und
geschlauchtem knoblauch und dem hupen
eines akkordeons
und ein phantomime mit verbeultem
hut und mund schiebt sich in uner-
müdlichen imitationen durch das
stimmen-, gesichter- und
sprachengewimmel
in kleinen happen zehren dunkle
wolken die sonne auf und würgen
sie stückweis wieder raus sie reibt mir
noch einmal schnell die stirne rosa
dann liegt mein auge ganz im schatten
und regen fällt in meinen blick.
d2
pasta und bionade bei marlene am steg
wo heut kein weißer pfeffer mehr wachsen will
und wo kubistische messingengel wasser treten
vorm schilfspiegel mit seinen schlieren vom wind
strandkörbe und billige karibikzitate
an den türmen der kathedralen aus glas
klettern die mutigsten blicke nach oben
und die himmel üben zersplittern
da gibt es nichts zu sehen, sagt das kind und
zieht die mutter weiter zum nächsten bild
elf scheiben zerlegen mich in schichten
und hinter jedem spiegel misslingt eine liebe.
d3
espresso espresso der abend hat
das süße ins bittere geschossen
vom ziffernblatt springt mir die zeit ins glas
rhabarber und rosen und auf der straße
bietet mir einer überschwänglich
philosophie to go
in dieser immerwiederkehr von
abschiedsstunden und zertrümmerten
namen unterm flechtenbewuchs
der friedhöfe und jahre
bleib treu ich habe ein zuhaus
unterm bücherbogen in der gravitation
wo worte sich ohne fangnetz über
abgründe wagen wo magnolien
stehen und fallen heimatlos hieß
das café.
(für mascha kaléko)
d4
vorm geschwärzten steinkörper des doms
schuppt meine haut in regenbögen
gehäutet steh ich am brunnenrand
mit spritzern auf der stirn mit nassen
zehen und lichtbändern im haar
kinder lachen und der wind
singt in den sepiakolonaden
von dingen die ich nicht versteh
und schickt mir eine abgegriffne
ansichtskarte übern rasen
der ist verdorrt unter den vielen
ziellosen blicken und tritten.
d5
dem spreeengel auf der brücke hat man
die flügel versperrt und das wasser
wispert hinter seinem rücken
in stabreimen dutzende namen zugleich
aus fernen weht mich schon mal vor-
sorglich die sehnsucht an und irgend-
einer von brechts zetteln liegt
gewiss noch unter einer tür.
d6
manche mauern sind nicht aus stein gebaut
die trotzen der schwerkraft und es zieht
durch die arkaden schwarz und kalt
ist drunter zwischen algenglatten
pfeilern das wasser aufgespannt
der wind klirrt ums gotische turmwerk
an das unsere stimmen splittern
und kräne leuchten im regenlicht
durchs mosaik der schmalen fenster
in denen möwen landen in der luft
und boote sich durchs sture geschnäbel
der schweren tropfen schieben.
d7
im alten hafen liegt abgetakelt
adonis‘ barke vor anker der die
patina ins goldhaar ihrer
galionsvenus gegriffen hat
wo welke margeriten ihre köpfe
senken und keinen gast erwarten
streunt nur ein hund mit müdem blick
durch den skulpturenpark am ufer
und hebt arglos sein bein an neptuns
verbogener bronzegabel.
d8
was gehen den alten kastanienbaum
die wechselnden parolen an
der hauswand an und was die psalmen
an den mauern der alten fabrik
wie vieler gerechter bedarf es um
einen einzigen frevler zu verderben
wenn unterm eingebrochenen dach
schon längst die fledermäuse hausen
und dachse ihre ecken fegen
tauben legen ihre fleckigen eier
in die kühle höhlung meiner hand wo
backstein sich an backstein reiht und
winden und liguster sich mit
dem kupfer meines haars verbünden
das ich der cöpenicker abend-
sonne noch abgetrotzt.
d9
jenseits der gleise trennt der turm
mit seiner spitze die nebel auf
und drängt sich ungefragt in jeden blick
ich find kein kreuz und kein kehrwieder
bet zum beton und harten gras
das büschelweis den weg der züge
nach osten säumt.
d10
nachts krümmen sich die straßen
unter schritten unterm glasgeklirr
wir trinken wodka und haben die
wildnis im hals
am rand der welt schläft sichs weit besser
als angenommen morgens weckt mich
das kratzen zahlloser fliegenbeine
auf der rauen tapete und auf dem gilb
des lampenschirms
das dumpfe knattern der ersten tram
spuckt mich auf die schlecht gepflasterte straße
in den geruch der frischen schrippen
in die entschachtelte landschaft der frühe
aus ausgefegten ecken und schatten
das halbdunkel ist grob verspachtelt
mit patzern von farbe und licht ich bin
noch immer nicht haltbar geworden
wenn ich wiederkomme möge es
einen krieg geben oder einen
wilden winter lang und kalt.
(für sarah kirsch)
© bei der autorin | [schreibwelten.at]
silvia waltl: geboren 1975 graz; studium in wien, arbeitet in der institutionalisierten
(sprach- & literatur-)wissenschaft, als schreib- & literaturpädagogin mit erwachsenen und
jugendlichen in schulprojekten, sowie fallweise in der museumspädagogik. diplomierte
kunsttherapeutin. referentin im ausbildungslehrgang für schreibpädagogik. schreibt, malt,
zeichnet, fotografiert, kocht & reist. starke verbundenheit mit der stadt berlin. intensive
beschäftigung mit lyrik und bildender kunst vom expressionismus zur moderne. künstlerische
und pädagogische arbeit im intermedialen spannungsfeld zwischen bild und wort. zahlreiche
lesungen, teilnahme an vielen werkstätten im in- und ausland; einzelveröffentlichungen
in zeitschriften & anthologien, 2008 herausgabe an einem wunderroten faden (edition vhs);
derzeit fertigstellung des nachfolgebandes.
die texte stammen teilweise aus dem noch unveröffentlichten manuskript die liebesfremde.
einige gedichte wurden in musik umgesetzt.
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