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[heft 2] [märz 2011] wien - st. wolfgang
Future Zone Salzkammergut II
(Eine Liebeserklärung)
Sigrid Kohl
Ich war ein Landkind. Und bin es wieder. Und will es für den Rest dieses Lebens bleiben.
Im Gegensatz zu denen, die – unfreiwillig oder freiwillig – von hier aus hinausziehen, die Welt zu erobern,
die die sogenannte Provinz verlassen, um hinter den Horizont zu schauen – raus aus den Bergen, rein in die
Welt, die Abenteuer, Wohlstand und Zukunft verspricht –, bin ich zurückgekehrt in die Provinz. – Freiwillig.
Eine "Zuagraste", wie man hier sagt, und eine Weggegangene zugleich.
Weggegangen aus der ostdeutschen Großstadt – das fordernde, laute Leben, die Karriere, das verläßliche Ein-
und Auskommen hinter mir gelassen. Das Netz unter dem Seil weggezogen. Dort beargwöhnt, weil man weggegangen,
hier beargwöhnt, weil man zugezogen ist.
Und ich bin im Gegensatz zu den sogenannten Weggehern hier keine zwanzig mehr. Doch eines haben wir offenbar
gemeinsam: Auch ich habe erkannt, daß es die
vermeintliche Heimat, der ich ein halbes Leben lang vertraut war, nicht mehr gibt. So, wie man mir die alte
Heimat verkauft, will auch ich sie nicht mehr, verstehe ich sie nicht mehr. Keiner hat sie uns in eine Sprache
übersetzt, die uns geläufig wäre. So übersetzt sie jeder auf seine Weise. In eine Sprache, die ihm genehm ist,
die den größtmöglichen Vorteil verspricht. Egal, ob sie der andere versteht oder nicht.
So ist jede Hoffnung auf Heimat außerhalb trügerisch, unverläßlich. Kann ich Heimat nur in mir selbst finden.
Um zu erfahren, darf man nichts besitzen. Das bedeutet loslassen, zurücklassen. Vertrautes, Verläßliches:
Orte, Menschen, Gewohnheiten. Sicherheit.
Gierig sein auf alles Neue im wahrsten Sinne des Wortes. Neue Ansichten und Einsichten erfahren, kritisch
hinterfragen, ohne die alten über Bord zu werfen.
Zurückgeworfen sein auf sich selbst. Das heißt: sich treu bleiben, nach seinen eigenen Regeln leben, ohne
die der anderen zu verletzen. Ganz und gar abhängig davon sein, was man in sich trägt. Absteigen von der
Karriereleiter, sich nicht mehr nach dem Kommando der Konkurrenz richten, sich der Einstufung als Mensch
nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit verweigern. Nach der Einsicht leben: Sein ist wichtiger als Haben!
Warum gerade das Salzkammergut? Und warum gerade St. Gilgen?
Juli 2001. Mein erster Urlaub allein. Ich sitze auf der Frühstücksterrasse im Hotel zur Post mit Blick auf
Schafberg und See. Rechterhand vor meinen Augen der Kirchturm. Der See schläft noch unter einem leichten
Nebeltuch. Die Bergketten ringsum schauen wie in Milch gebadet. Der Himmel mit weißen Wolkenfetzen überzogen,
als hätte ein Maler seinen Pinsel auf blauer Leinwand ausgestrichen. Ich genieße den An- und Ausblick, das
sonntägliche Läuten der Kirchenglocken und das noch zögerliche Treiben auf den Straßen.
Es war Liebe auf den ersten Blick, die mich wieder hierher zurückkommen ließ und letztlich zu dem Entschluß
führte, das, was mir von meinen Zelten geblieben war, auf Dauer in St. Gilgen aufzuschlagen, mich einzulassen
auf ein Leben ohne Gewähr.
Vielleicht auch, um mich eines Besseren belehren zu lassen. Um mir zu beweisen, daß es, wie so oft im Leben,
nur der Schein war, auf den ich hereinfiel, daß diese Liebe nicht von Dauer sein kann. Um herauszufinden,
in welchen Farben sich Land und Leute ausmachen, wenn man bereit ist, die rosarote Brille abzusetzen. Ist
es doch nie die Wirklichkeit selbst, die einen fasziniert, sondern immer nur ein Abbild von ihr.
Über ihr Verhältnis zu Salzburg sagte Ilse Aichinger einmal: "Etwas Prinzipielles ist allen Orten eigen,
an denen man (länger) wohnt. Sie verschließen sich vor einem, man muß Abschied nehmen von ihnen, und gerade
die Alltäglichkeit des steten Umgangs mit ihnen gehört mit zu diesem Abschied." Weiter erklärt sie dieses
scheinbare Paradoxon: "Man hat von jedem Ort ein bestimmtes Bild, der Ort wird dann das bestimmte Bild, und
er bleibt es auch. Erlebt man aber diesen Ort alle Tage, so nimmt man von seinem Bild Abschied; Abschied
deshalb, weil man eigentlich ins Bild steigt. Man sieht dann das Bild nicht mehr, weil man im Bilde ist."
Freilich, ganz im Bilde werde ich nie sein. Wie in jeder Beziehung gibt es Täuschung und Enttäuschung,
geht man dem anderen nie bis ganz auf den Grund. Aber vielleicht ist ja gerade dies das Geheimnis einer
guten Beziehung.
Mittlerweile bin ich diesem Land verfallen, habe ich mich festgebissen an diesem Landstrich. Habe aufgehört
zu zählen, den wievielten Sommer oder Winter ich hier lebe und erlebe. Und es ist noch immer da, dieses
ganz Besondere, schwer Erklärbare: diese von der äußeren auf die innere Natur sich übertragende Harmonie.
Diese Fremdheit und Vertrautheit zugleich – für mich unabdingbare Voraussetzung und Inspiration zum Leben
und Schreiben.
Und ich habe Menschen hier gefunden, die mich so annehmen, wie ich bin. Habe gelernt, den Schein vom Sein
zu unterscheiden. Lasse mich nicht mehr so leicht täuschen von diesem Allerweltslächeln, das man sich
großflächig angewöhnt hat gegenüber den "Fremden": den zahlenden Kurzzeitbewohnern, die das Land überfluten
in der guten Jahreszeit, und denen, die mittlerweile hier seßhaft geworden, die dem Ort auch in den tristen
Novembertagen die Treue halten. Aber wer macht sich schon die Mühe, das zu unterscheiden. – Ob man will oder
nicht, man muß sich gewöhnen an diese offensichtliche Ambivalenz: Ausgrenzung auf der einen, simulierte
Weltoffenheit auf der anderen Seite. Man braucht die Gäste, von denen man ja lebt, doch im Grunde genommen
will man sie nicht.
Genaugenommen gehöre auch ich zu diesen Eindringlingen, zu denen, die eingedrungen sind in die Welt derer,
die seit Generationen hier leben, denen dieses Land gehört.
So darf man sich nicht wundern über diese sehr verbindliche Unverbindlichkeit, über diese Scheu vor dem
Indikativ, das in Fleisch und Blut sitzende Beharren auf dem Konjunktiv in Rede und Umgang miteinander,
über dieses Viel-Versprechen und Wenig-Halten. Man wird nie abgewiesen, aber man wird auch nicht eingelassen. –
Ein Leben in der kalten Umarmung einer kapriziösen Schönheit. Ein Leben im Spannungsfeld der notwendigen Öffnung einerseits und dem
Rückzug in die Innerlichkeit andererseits, um die eigene Identität und die der Region zu bewahren. Wer will es den Menschen deshalb verdenken.
Ständig Teil einer neuen Inszenierung. Nie "unter sich" sein.
Vielleicht ist es das, was ich meine herauszuhören, wenn ich andächtig den Erzählungen meiner Nachbarn
oder anderer "alteingesessener" St. Gilgener, die es wissen müssen, lausche, wenn sie von den "alten
Zeiten" erzählen, von der Sommerfrische, der dörflichen Idylle: "Ja früher, da waren wir noch eine
Gemeinschaft. Da hat einer dem anderen geholfen. Der Tourismus hat alles verdorben. Heute schaut jeder
nur noch aufs Geld und die Zahl der vollen Betten ..." Und so jagt ein sogenanntes Event das andere, werden
Unsinnigkeiten ohne Rücksicht auf Land und Leute aus Kopf und Boden gestampft, wird Kultur und Lebensqualität nur
noch auf die Frage nach der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit reduziert.
Aus Liebe zu dieser Region und dem Entschluß heraus, hier zu leben, ob hier aufgewachsen oder zugezogen,
muß man sich entscheiden zwischen dem Blick durch die rosarote Brille und dem kritischen Blick durch das
Vergrößerungsglas. Darf man sich nicht blenden lassen von (touristischen) Klischees. Muß man sich getrauen,
die Kulissen der Inszenierung Salzkammergut beiseite zu schieben und dahinter zu schauen. Den Text der
Aufführung hinterfragen und den Anweisungen der Regisseure mißtrauen. Und über den aktuellen Inszenierungen
nicht die Stücke der Vergangenheit vergessen.
So bin ich noch immer irritiert, wenn ich auf Begriffe und Ausdrücke stoße, die in Österreich zum normalen
Sprachgebrauch gehören, mich als Deutsche jedoch an das dunkelste Kapitel deutsch-österreichischer Geschichte
erinnern: Gau, Kameradschaft, Jungschar ... – Wortimporte aus dem Österreichischen in das sogenannte
Dritte Reich, die nach dessen Zusammenbruch wieder in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden. Worte, die mir,
geboren nicht weit von Weimar, in vierzig km Luftlinie Entfernung vom KZ Buchenwald, jedes Mal in die Knochen
fahren, wenn ich sie lese oder höre.
Aufgewachsen in Ostdeutschland, einem Land mit gänzlich unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen
Strukturen, bin ich erstaunt über das, für mein Empfinden, sehr geringe gesellschaftspolitische Bewußtsein
besonders unter den jungen Leuten, die Ignoranz gegenüber dem anderen, vermisse ich die "soziale Wärme"
unter den Menschen, das Schauen auf den anderen, obwohl auch diese positiven Relikte eines mißglückten
Gesellschaftsversuchs langsam, aber sicher im deutsch-deutschen Einheitsbrei versickern.
Und auch so manch überwucherndes "Pflänzchen" des österreichischen Habit kitzelt mir mitunter beharrlich
in der Nase: wie diese teilweise bis ins Groteske gehende Titelversessen- und -vermessenheit, diese
Hörigkeit und Vernarrtheit in diese zwei oder drei Buchstaben vor dem Namen, der ohne diese Schall und
Rauch ist. Dieses Buckeln vor der Obrigkeit. Und zuweilen eine schwarz-braun-rote
Melange, die mir schwer im Magen liegt! – Dinge, die für mich wie aus der Mottenkiste
riechen, denen ich mich verweigere, auch wenn ich glücklich und dankbar bin, hier leben zu dürfen.
Das Österreichische ist für mich die höchste Steigerungsstufe des Deutschen. Nirgends, scheint mir,
gibt es so viel Bürokratie, gibt es so viele Vorschriften. Und nirgends werden diese so nonchalant
ignoriert wie in Österreich. Wie wäre das Leben auch sonst erträglich. So richtet sich jeder ein,
so gut er kann. Und auch mir ist diese nonchalante Ignoranz mittlerweile zur zweiten Natur geworden.
Eine Lebens- und Überlebensnotwendigkeit – wie ich inzwischen erkannt habe.
Und mit der Zeit getraue ich mich auch, den einen oder anderen Stein anzuheben und darunter zu schauen,
auch oder um so mehr, wenn er bereits von dickem Moos bewachsen ist. Und ich erlaube mir,
den Klingelbeutel zu ignorieren. Bekenne mich dazu, daß ich mich nicht bekenne zu einer Religion,
auch wenn das Kruzifix im Turnsaal thront. Das Auge des Herren wacht überall ... Aber das kenne ich bereits –
nur unter anderem Vorzeichen.
Nach Originalen und Käuzen, wie sie so treffend und trefflich von dem in St. Gilgen aufgewachsenen
Schauspieler und Autor Miguel Herz-Kestranek in seinen Büchern beschrieben sind, habe ich bisher
vergeblich Ausschau gehalten. – Vielleicht sind sie ausgestorben mit dem Anbrechen der "neuen Zeit",
mit dem Verschwinden dieses in Vorkriegszeiten herrschenden besonderen Lebensgefühls in dieser Region,
mußten auch sie dem Tourismusimage weichen? Oder sie waren nur das Produkt einer lebhaften Phantasie?
Wie auch immer! Vielleicht treiben sie ihr Unwesen ja auch weiter, hinter Türen, zu denen ich keinen
Zutritt habe.
Warum bin ich noch immer hier? Weil aus dieser anfänglichen Verliebtheit eine tiefe Zuneigung geworden
ist. Eine Liebe, die gerade aus diesem Anderssein heraus entstanden ist. Die nichts erbittet und nichts
erwartet. Die den anderen interessant findet trotz oder gerade wegen all seiner Widersprüche, mit all
seinen Eigenheiten. Eine Liebe, die den anderen annimmt und respektiert, so wie er ist.
Mittlerweile heimisch geworden, ertappe ich mich dabei, wie auch ich die mit Fotoapparat bestückten
Besucher, die den Ort im Sommer regelrecht überfluten, mißtrauisch beobachte. Dann ersehne ich mir
die verwaisten Straßen im November, die einsamen Spaziergänge am Uferweg, wo ich ganz mit mir allein
sein und den Blick nach innen schweifen lassen kann. Wo ich keiner Menschenseele begegne, außer einem
Angler oder manchmal einem Kind, das mir wie selbstverständlich lächelnd ein "Grias di" im Vorübergehen
nachwirft ...
Wenn ich nach Deutschland fahre, kehre ich heim zu den Menschen, die mich lieben, mich empfangen,
umfangen, so, als würde ich in einen warmen Schoß sinken.
Wenn ich zurückkomme nach Österreich, kehre ich heim in eine Landschaft – zu den Bergen, an meinen
See, in mein Dorf mit dem gelben Kirchturm und dem vertrauten Glockenläuten am Sonntagmorgen, das mich
so sehr an meine Kindheit erinnert; heim zu etwas, das schwer zu erklären ist, das nur einer findet, der
weiß, wonach er sucht.
Hier gehen die Uhren nicht langsamer als anderswo. Man schaut nur nicht so oft hin.
Seenländische Idylle
schlagkräftig überzeugt der Kirchturm
vom Anbruch des Tages.
Nebelbänke werden geräumt
im Hinblick auf das übliche Programm.
ins rechte Licht geschoben
läuft die heimische Kulisse
zu Höchstform auf.
emphatisch schäumen die Wellen des Sees
über das gewohnte Maß hinaus.
fragliche Schwimmvögel erweisen sich
beim Näherkommen als trafic maritime
unter vertauschter Flagge.
zahlreiche Massen befremden das Land
im fliegenden Wechsel.
beim Anblick klingender Münze
verstummt jeder Einspruch.
nachts ist der Eintritt frei.
kohl sigrid
geboren in deutschland, dolmetscherstudium an der kmu leipzig;
lebt und arbeitet seit 2003 in st. gilgen am Wolfgangsee als freie übersetzerin (autorin und lektorin).
veröffentlichungen
div. zeitschriften und anthologien in deutschland und österreich.
später rat | gedichte | edition art science | 2008.
resonanzen | anthologie (hg.mit tina strauß) | edition art science | 2008.
es war ein langer tag.
margit bachler-rix. ein deutsch-österreichisches schicksal | edition art science | 2010.
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