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litera[r]t
[heft 2] [märz 2011] wien - st. wolfgang
Barrieren.Frei
Wolfgang Pirker
Barrieren
"Und wenn ich in Pension bin, dann werde ich die Chronik von Opapa weiterschreiben",
nahm ich mir immer wieder einmal vor. Diese "Chronik" lag in der Schublade des Küchentisches,
und wer des Lesens der Kurrentschrift mächtig war, fand darin immer wieder Lesenswertes. Das schloss
ich zumindest aus meiner teilnehmenden Beobachtung, wenn ich sah, dass im Verlaufe angeregter Gespräche,
die in unserer großen Küche immer wieder geführt wurden, irgendwann irgendwer den Vorschlag machte:
"Schauen wir in der Chronik nach!"
Was da genau nachgeschaut wurde, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht, wo sich dieses Buch
heute befindet, ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch existiert.
Mittlerweile bin ich 57 und in Pension.
Das war freilich so nicht geplant, doch gesundheitliche Gründe führten dazu, dass ich im Jahr 2007
meine berufliche Tätigkeit an den Nagel hängte, um mich seither mehr um mich und mein Leben zu kümmern.
Mein Leben.
Vieles hat sich ereignet in meinem Leben, davon später. Doch zwei Ereignisse haben einen besonderen
Stellenwert. Ereignisse, die für mich eine größere als nur chronologische Bedeutung haben. Ereignisse,
die mein Leben zweimal nachhaltig verändert haben. Ereignisse, die sich bei genauerer Betrachtung als
Barrieren entpuppt haben, für deren Überwindung verdammt viel Energie benötigt wurde. Lebensenergie.
Da ist zum einen die Tatsache, dass ich in jungen Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs wurde. Und zum
anderen, dass ich im Alter von 46 Jahren mit der Diagnose "Morbus Parkinson" konfrontiert wurde.
Gerne hätte ich auf das eine oder andere, noch lieber auf beide Ereignisse verzichtet, haben sie doch
meine Lebensqualität und Lebensfreude gehörig beeinträchtigt. Und mich gezwungen, den Chronik-Plan zu
ändern und mich mit der Frage zu beschäftigen, was mich denn mehr belastet, Ereignis eins oder Ereignis
zwei? Und um im Zwiespalt mich zu fragen, zu welcher Opferkategorie ich zu zählen sei, zu den
Missbrauchsopfern, denen man eigentlich nichts anmerkt, oder zu jenen Bedauernswerten, die so zittern,
dass man es bei jeder Begegnung sieht, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Was ja auch stimmt. Und gerne
würde ich auf die immer wieder bohrende Frage, ob es zwischen diesen beiden Ereignissen Zusammenhänge gibt,
verzichten. Kann ich aber nicht. Ich kann es nicht, weil ich überzeugt bin, dass Krankengeschichten immer
Lebensgeschichten sind, dass sich also in meiner Krankengeschichte meine Lebensgeschichte widerspiegelt.
Warum gerade ich?
Warum gerade ich nicht?
Es gibt nur Schätzungen. Demnach leiden weltweit etwa 4 bis 5 Millionen Menschen an Parkinson. Tendenz
steigend. In Deutschland sind es ungefähr 250.000, in Österreich 20.000. Tendenz ebenfalls steigend.
Während die Ursachen dieser Krankheit nach wie vor unbekannt sind, gibt es mittlerweile eine Vielfalt an
Behandlungsmethoden, die es den Betroffenen ermöglichen, den Alltag über viele Jahre zu bewältigen.
Verschiedene Medikamente stehen heute zur Verfügung, um das Zittern (Tremor) zu beruhigen oder die
Muskelsteifigkeit (Rigor) zu lockern. Sie können nützlich sein bei Gleichgewichtsstörungen oder wenn
sich Bewegungen verlangsamen (Akinese), wenn sich die Mimik, die Stimme, das Schriftbild oder der
Gemütszustand verändern.
Medikamente sind wichtig, aber ihre Wirkung ist zeitlich beschränkt und eine Erhöhung der Dosis kann
zu unangenehmen Nebenwirkungen führen. Schlafattacken, geschwollene Beine, Überbewegungen, Gewichtszunahme,
Schweißausbrüche sind wenige Beispiele einer langen Liste.
Viele Betroffene sind auf der Suche nach nicht-medikamentösen Therapien und trainieren ihren Körper mehr
oder minder intensiv, kennen Ergotherapie, Massagen, Tai Chi und Qi Gong. Sie lachen, tanzen, malen oder
trommeln gegen Parkinson, sie achten auf Gewicht und auf die richtige Ernährung. Alles wichtig, keine Frage.
Und dennoch begegne ich in Parkinsonkreisen immer wieder Menschen, die mit dem Schicksal hadern. Menschen,
die die Diagnose verweigern und am "Warum ich?" verzweifeln. Menschen, die sich zurückziehen und aus allen
sozialen Netzwerken fallen. Menschen, deren Selbstwert nicht mehr stimmt. Menschen, die nicht mehr geliebt
werden und die sich selbst nicht mehr mögen. Traurig, aber wahr.
Und es gibt nicht wenige Parkinson-Kranke, die diese Kreise überhaupt meiden. In Österreich sind 80 bis 90
Prozent der Betroffenen dem Dachverband oder den Landesverbänden der Parkinson Selbsthilfe nicht bekannt,
sind also mit Selbsthilfegruppen nie in Kontakt. Das ist ihr gutes Recht. Es kann aber auch ein Hinweis
darauf sein, dass die angebotenen Hilfestellungen nicht attraktiv genug sind oder dass es unüberwindbare
Barrieren gibt, die angebotenen Hilfen anzunehmen.
Auch ich übte längere Zeit Distanz, und zwar aus einem einzigen Grund: Ich hatte immer das Gefühl, dass wir
Betroffene, wir "Experten in eigener Sache", wie es eine Frau von der Wiener Selbsthilfegruppe beschreibt,
dass wir uns selbst nicht wichtig genug sind. Dass wir uns selbst nicht ganz trauen, in dem was wir wollen.
Sofern wir überhaupt wissen, was wir wollen sollen. Wir verlassen uns auf die Kunst der Ärzte, die es alle
gut mit uns meinen und sind dankbar. Wenn alles passt. Wir sind aber auch unzufrieden, wenn das nicht der
Fall ist, sind bereit für Kritik, äußern sie aber selten offen, sondern meist, wenn wir unter uns sind.
Und wenn wir unter uns sind, tauschen wir auch gerne Erfahrungen und Informationen aus.
Dieser Erfahrungsschatz, gepaart mit einer Fülle an mitunter sehr persönlichen Informationen, versetzt mich
in die Lage, ein Buch über Parkinson zu schreiben. Ein Buch, in dem ich nicht bereits Bekanntes wiedergeben
möchte, denn dazu gibt es mittlerweile genügend Fachliteratur. Es soll vielmehr ein ganz persönliches Buch
sein, in dem zum Ausdruck gebracht wird, dass jeder Parkinson ein anderer Parkinson ist. Dass es trotz
vergleichbarer Symptome die unterschiedlichen Lebenswege sind, die uns Antworten geben können auf die Frage
nach den möglichen Ursachen dieser Krankheit. Vielleicht finde ich in meiner Lebensgeschichte oder in
besonderen Ereignissen meiner Geschichte eine Erklärung, warum gerade ich.
Ich habe also gesucht. Und habe vieles gefunden. Und vorerst für mich aufgeschrieben. Das kostete mich
Zeit, doch Zeit habe ich ja. Und ich habe die Medikamente, die ich brauche. Das sind bisher relativ
wenige. Weniger jedenfalls, als viele meiner Leidensgenossen und -genossinnen täglich schlucken (müssen).
Dies ist mit ein Grund, weshalb ich mir auf meinem ganz persönlichen Weg auch weiterhin treu bleiben will.
Denn ich spüre: Es geht mir eigentlich immer noch ganz gut. Trotz alledem.
textproben aus dem buch [barriere.frei | reden über sexuelle gewalt
und morbus parkinson.]
pirker, wolfgang
geboren 1953 in kärnten.
kindheit in dörflich-katholischem milieu. militär- und zivildienst.
studium an der universität und pädagogischen akademie in salzburg. dissertation über die religionsgemeinschaft der hutterer in kanada.
ein paar monate briefträger in frankfurt. viele monate nachtwächter in berlin und münchen.
beruf: hauptschullehrer. jahrelang politisch bei den grünen aktiv.
vater. großvater. verheiratet in zweiter ehe mit margarita.
2000: diagnose "morbus Parkinson". seit 2007 in pension.
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