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litera[r]t
[heft 1] [jänner 2011] wien - st. wolfgang
Alles anders
Sabine Völkel
Morgen werde ich 45. Eigentlich ein schönes rundes Alter. Ich werde nicht feiern. Warum sollte ich?
Es wird mir niemand gratulieren. Es meldet sich ja auch sonst niemand mehr bei mir. Kein Besuch.
Nicht mal von Gabi, unserer Nachbarin, als ich noch in unserem Haus gewohnt habe. All die Jahre
hat sie immer einen auf dicke Freundin gemacht. Aber sie hat mich genauso fallen gelassen wie alle.
Nichts ist mehr wie früher seit diesem Abend. An diesen Abend kann ich mich noch genau erinnern.
Sozusagen in Farbe, es steht mir noch klar vor Augen. Alles seitdem ist irgendwie verschwommen.
Ineinander fließend, ohne Konturen. Nichts, an dem ich festhalten kann.
Wenn ich spreche, antwortet mir ein Echo. Es hallt von den leeren Wänden wieder, bricht sich daran
und vervielfältigt sich, wird zu einem Chor meiner eigenen Stimme. Vielleicht würde es helfen,
wenn die Wand nicht so kahl wäre. Natürlich wäre es mir möglich, sie zu dekorieren, so wie andere es tun.
Bilder daran hängen, Familienphotos oder Ansichtskarten. Alte Ansichtskarten, denn es schickt mir niemand
mehr neue. Dabei waren Gabi und ihr Mann dieses Jahr bestimmt schon auf Mallorca. Sie führten so ein
regelmäßiges Leben, man konnte die Uhr danach stellen. So regelmäßig kam Gabi auch nachmittags zum
Kaffee bei mir vorbei. Müsste es mir Leid tun, ihren alltäglichen Ablauf gestört zu haben?
Doch Gabi betrifft mich nicht mehr. Ich könnte sie höchstens warnen. Verlass dich nicht darauf,
dass dein Leben so weitergeht wie bisher. Auch die rigideste Struktur wird dich nicht retten,
wenn alles um dich herum zusammenbricht. Wenn nichts, auf dass du dich felsenfest verlassen hattest,
bei dir bleibt. Wenn du plötzlich alleine bist.
Aber sie würde mir sowieso nicht zuhören wollen. Wer es noch warm hat, lauscht nicht den Geschichten
von der Kälte.
Was die Wand angeht, so lasse ich sie unberührt. Ich brauche sie, damit irgendetwas mir antwortet,
und sei es nur ein Echo.
Und ich brauche sie als Projektionsfläche, auf der mein Film abläuft. Immer wieder, der Film vom
letzten Abend meines früheren Lebens. In den Hauptrollen Mark und ich.
Wie Mark nach Hause kommt. Wie er mir ein Glas Weinbrand aufnötigt. Um mir dann zu sagen, dass es aus ist.
Seine Worte, die als leuchtende Großbuchstaben durch die Szene schweben. Es wäre aus. Seine Freundin wäre
schwanger. Es wäre etwas anderes, wenn wir Kinder hätten, aber ...
Ich konnte keine Kinder bekommen. Wenn wir Kinder gehabt hätten, würde mir morgen vielleicht doch jemand
gratulieren. Kinder halten zu einem, habe ich gehört. Nicht so wie Ehemänner. Wie mein Mann. Der mir am
Abend vor meinem Geburtstag erklärte, dass er mich verlassen wird. Der es fertig gebracht hat, dass alle
sich auf seine Seite stellen. Oder, besser gesagt, meine Seite verlassen.
Ich sehe es noch vor mir. Nachdem er mir seinen Entschluss mitgeteilt hatte, hielt ich es mit ihm im Zimmer
nicht mehr aus. Ich ging nach oben, in unser Schlafzimmer. Blickte auf unsere Betten, stand vor seinem
Nachttisch, zog die Schublade auf ... Ich konnte kaum glauben, dass ich all das verlieren würde.
Lange blieb ich nicht oben. Er saß mit dem Rücken zu mir. Ich stand hinter ihm und überlegte, ob es noch etwas
zu sagen gäbe. Mir fiel nichts ein.
Seitdem ist alles anders. Es war ein sehr einsames Jahr. Ich hatte viel Zeit zum Grübeln. Zeit ist vielleicht
das Einzige, was ich noch zur Genüge habe. Zeit und die Frage, ob ich nicht doch etwas hätte sagen können.
Etwas anders machen. Verhindern, dass alle sich von mir abwandten, mich einsperrten. Mir fällt nichts ein.
Doch nie hätte ich gedacht, dass eine einzige Tat einen so ins Abseits stellen könnte.
Nur ein einziger Schuss.
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