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[heft 1] [jänner 2011] wien - st. wolfgang
Mona Lisa
Thomas Kadelbach
Obschon ich nicht an der Rechtmäßigkeit meines Tuns zweifelte, kostete es mich eine gewisse Überwindung, die Mona Lisa zu stehlen. Zunächst befürchtete ich, das Fehlen des Bildes könnte jemandem auffallen. Es war nicht zu übersehen, dass das Gemälde eine große Anziehungskraft ausübte und unter allen Werken des Louvre – den Porträts, unzähligen Landschaftsdarstellungen und Skulpturen aus verschiedenen Epochen – eine besondere Stellung einnahm. Manchmal, wenn ich meine Arbeit ausführte und als Museumsaufseher lange Runden durch die Ausstellungssäle drehte, fiel mir auf, wie viele Besucher vor der Mona Lisa stehenblieben und sie aufmerksam musterten. Von Zeit zu Zeit kam es sogar vor, dass eine ganze Gruppe ausländischer Gäste im Museum eintraf und sich auf dem kürzesten Weg in den Saal 6 begab, wo die Mona Lisa hing. Würde ihre Abwesenheit unbemerkt bleiben? Schon bald war mir klar, dass ich meinen Diebstahl so unauffällig wie möglich durchführen musste, wenn ich unnötige Schwierigkeiten vermeiden wollte. Wegen der Lücke, die sich an der Stelle auftun würde, an der sich die Mona Lisa befand, machte ich mir die geringsten Sorgen. An Porträts herrschte im Louvre kein Mangel, und wenn ich sie ein bisschen anders aufhängte, verdeckten sie die leere Stelle ohne weiteres. Einmal, als ich zufällig im Untergeschoß zu tun hatte und dort ein paar Kunstwerke abstaubte, war ich auf eine ganze Kiste mit Porträts gestoßen, die unbeaufsichtigt in einer Ecke stand und offensichtlich von niemandem mehr gebraucht wurde. Ich zweifelte nicht daran, mit diesem Vorrat an erstklassigen Bildern mehrere Ausstellungssäle nach meinem Gutdünken neu gestalten zu können, wenn dies nötig sein sollte. Da die Lücke, die die Mona Lisa hinterlassen würde, weder besonders groß noch besonders klein war, schien es mir nicht sehr schwierig zu sein, irgendwo in der Kiste im Keller ein Porträt in der passenden Größe zu finden und es anschließend am Platz des gestohlenen Gemäldes aufzuhängen.
Etwas mehr Kopfzerbrechen bereiteten mir die besonderen Formen und der künstlerische Stil der Mona Lisa, die verwischten Linien und der verschwommene, ungerade Horizont hinter dem Gesicht. Dies lag nicht so sehr an den Museumsführern, Kunsthistorikern und Studenten, die das Gemälde den Besuchern im Verlauf ihres Rundgangs mit langen und monotonen Vorträgen in allen Einzelheiten erklärten: sie kannten ihre Sätze längst auswendig und machten sich keine Gedanken mehr zu den Werken, mit denen sie sich täglich beschäftigten. Ich war mir sicher, dass sie die Bilder nicht einmal mehr anschauten, wenn sie vor ihnen stehenblieben, um mit ihren Ausführungen zu beginnen. Anders verhielt es sich mit den Besuchern. Es war nicht auszuschließen, dass manche von ihnen mit einer ganz bestimmten Vorstellung der Mona Lisa in den Louvre kamen und sich wundern würden, wenn das Porträt, das sie betrachteten, farblich oder in Bezug auf die Gesichtsformen und den Hintergrund nicht in allen Details mit dem Bild übereinstimmte, das sie erwartet hatten. Vielleicht gab es sogar Kunstinteressierte, die die Mona Lisa bereits vor ihrem Besuch im Louvre irgendwo gesehen hatten, auf einem Plakat zum Beispiel oder in einem Katalog. Wie konnte ich sichergehen, dass auch diese besonders aufmerksamen Gäste sich mit meinem Ersatzporträt zufrieden geben würden? Während meiner Aufsichtsrunden in den Wochen vor dem Diebstahl beschäftigte ich mich so ausführlich mit dieser Frage, dass ich beinahe vergaß, auf die Ereignisse im Saal, das Hin und Her der Besucher und die Sicherheit der Kunstwerke zu achten, die sich in meiner Obhut befanden. Was würde geschehen, wenn ein Besucher im Ausstellungssaal 6 plötzlich die Stirne runzeln, den Mund öffnen und laut sagen würde: Aber das ist doch gar nicht die Mona Lisa, und sich alle Leute nach ihm umdrehen und anschließend verunsichert das Bild anschauen und in ihm nach einem Beweis für den Betrug suchen würden? Um diese Schwierigkeit zu überwinden, beschloss ich, die kleine Tafel, auf der links neben dem Gemälde dessen Name – La Joconde –, derjenige des Malers – offensichtlich ein gewisser Leonardo da Vinci aus Italien – und weitere Informationen vermerkt waren, auf keinen Fall anzurühren. Ich überlegte mir sogar, neben der Tafel einen roten Pfeil anzubringen, der allen Betrachtern unmissverständlich deutlich machen würde, dass es sich bei dem Porträt um die Mona Lisa handelte. Keinem Besucher würde es in den Sinn kommen, stellte ich mir vor, den Angaben auf der Informationstafel zu widersprechen und damit das Risiko einzugehen, sich in aller Öffentlichkeit und dazu noch in Anwesenheit zahlreicher kunstinteressierter und gebildeter Personen zu blamieren. Das soll nicht die Mona Lisa sein? Der Mensch kann nicht einmal lesen! Es schien mir sehr wahrscheinlich, dass die Besucher ihre möglichen Zweifel an der Echtheit des Bildes für sich selbst behalten oder allenfalls nach der Besichtigung des Museums im vertrauten Kreis aussprechen würden. Die Mona Lisa war etwas matter, als ich es erwartet habe, würden sie sagen, oder so speziell, wie alle meinen, ist das Bild auch wieder nicht. Um mögliche Zweifel an der Echtheit des Gemäldes zu beseitigen, beabsichtigte ich zudem, in den Tagen nach dem Diebstahl besonders gut auf den Wandschmuck aus der Kellerablage aufzupassen, der sich am Platz der Mona Lisa befinden würde. Die Arbeitsvorschriften des Museums verboten es den Aufsehern nicht, sich längere Zeit im gleichen Saal aufzuhalten. Wenn ich mich direkt neben die falsche Mona Lisa stellte, konnte ich allen Besuchern zeigen, welchen besonderen Schutz dieses wertvolle und einzigartige Gemälde verdiente. Obschon die Uniform der Museumsaufseher farblich unauffällig gehalten ist und nicht viel Ehrfurcht einflößt, schienen mir meine Anwesenheit und mein aufmerksamer Blick ein ausgezeichnetes Mittel zu sein, um allfällige Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
So kam ich bald zum Schluss, dass mit meinem Diebstahl letztlich nur sehr geringe Gefahren verbunden waren, und ich strich im Kalender die Nacht an, in der ich zur Tat schreiten würde.
Die letzten Tage vor dem Diebstahl verbrachte ich in einem Zustand freudiger Erwartung. Bald würde die Mona Lisa mir gehören! Besonderen Gefallen fand ich daran, dass dank ihr meine Einrichtung endlich vollständig sein würde. Seit Jahren nämlich ärgerte ich mich darüber, dass in meinem Wohnzimmer direkt über der Kommode und neben dem Büchergestell mit verschiedenen Krimis eine große Fläche weißer Wand zu sehen war, für die ich bisher keine geeignete Dekoration hatte finden können. Manchmal, wenn ich abends auf dem Sofa saß und die Zeitung las, fiel mein Blick zufällig auf die Lücke an der Wand. Obschon ich keine anspruchsvolle Lebensweise habe und mich auch in bescheidenen Verhältnissen wohl fühlen kann, führte sie mir doch immer wieder die Unvollständigkeit meines Daseins vor Augen. Einige Zeit suchte ich nach einer Möglichkeit, um die Lücke zu füllen. Zuerst dachte ich daran, den Busfahrplan an der Wand festzumachen, doch er war in diesem Jahr nicht besonders ansehnlich mit seinen orangen und grünen Streifen. Anschließend sah ich mich an mehreren Wochenenden auf verschiedenen Floh- und Antiquitätenmärkten um, die in meinem Stadtviertel abgehalten wurden. Auf diesen Märkten fand ich verschiedene Malereien, die unter anderem Segelschiffe im Sturm und alle möglichen Landschaften darstellten, aber sie konnten mich nicht überzeugen. Entweder war die Farbe zu dick aufgetragen, oder das Format passte nicht. Glücklicherweise hatte ich auch während meiner Arbeit mit Bildern zu tun, und so wurde ich schließlich fündig. Eines Morgens, als das Museum noch fast leer war, fiel mein Blick zufällig auf das schöne Porträt im Saal 6. Obschon ich mich täglich im Louvre aufhielt, waren mir noch längst nicht alle Bilder bekannt, und dieses hier erblickte ich zum ersten Mal bewusst. La Joconde, las ich. Auf Anhieb gefiel mir das Porträt mit der freundlich und doch nicht allzu auffällig blickenden Frau. Ich machte einige Schritte nach vorne und wieder zurück, betrachtete das Bild aufmerksam und merkte, dass es wie kein anderes in die Lücke über der Kommode in meinem Wohnzimmer passen würde. Der matte Farbton in dunklen Schattierungen fügte sich sehr gut in den Stil meiner Möbel. Das heller gemalte Gesicht der Mona Lisa – ich ging davon aus, dass dies der Name der abgebildeten Dame war – zog die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, ohne aber seine vornehme Zurückhaltung abzulegen. Ich stellte mir das Bild in meinem Wohnzimmer vor und dachte, dass eine wesentlich bessere Lösung schwierig zu finden sein würde, auch wenn mir das Porträt nicht in allen Details gefiel. Der Hintergrund beispielsweise schien mir etwas fade, und auch den Riss im oberen Bildrand empfand ich als störend. Immerhin schien der Rest gut erhalten zu sein, und ich nahm mir vor, das Bild notfalls gründlich zu säubern, bevor ich es aufhängen würde.
So reifte mein Entschluss, die Mona Lisa zu stehlen. Moralische Skrupel wegen meines kleinen Eingriffs in die Ausstellung empfand ich keine, da mir mein Anspruch auf das Gemälde nüchtern betrachtet vollauf gerechtfertigt schien. Die letzten Zweifel verschwanden, als ich feststellte, dass mir Mona Lisa zulächelte, wenn ich an ihr vorbeiging und sie aus dem Augenwinkel heraus betrachtete. Es war ein unauffälliges, verborgenes Lächeln, das der linke Mundwinkel andeutete und – dessen war ich mir sicher – mir allein galt. Das Lächeln der Mona Lisa machte mir deutlich, dass ich in Bezug auf meine Wohnungseinrichtung die richtige Entscheidung getroffen hatte. Was sollte es anders bedeuten als das Einverständnis mit dem Diebstahl, ja sogar die Aufforderung zu ihm? Komplizenhaft erwiderte ich jeweils unauffällig das Lächeln, als ich den Ausstellungssaal verließ und mich ein letztes Mal in die Richtung meines Bildes umdrehte.
Und endlich kam die Nacht, in der ich mein Vorhaben in die Tat umsetzte.
Kurz vor der abendlichen Schließung des Museums, als alle Angestellten nur noch an den Aperitif in einem der nahen Bistrots an der Seine dachten – die meisten meiner Arbeitskollegen liebten die Kunst ebenso wie ich, waren geselligen Anlässen gegenüber aber ebenfalls aufgeschlossen – entwendete ich im Materialdepot eine große Taschenlampe, begab mich mit ihr unauffällig in den Keller und versteckte mich in einem Schrank. Dort war es nicht nur dunkel, sondern es roch auch nach Essig, aber die Vorfreude auf die Mona Lisa half mir über diese kleinen Unannehmlichkeiten und meine insgesamt eher unbequeme Lage hinweg. Ungefähr zwei Stunden später, als – wie ich vermutete – auch das Putzpersonal das Museum bereits verlassen hatte und den verdienten Feierabend genoss, öffnete ich die Türe des Schranks, die laut quietschte. Vorsichtig zündete ich die Taschenlampe an, blickte mich um und atmete erleichtert auf, als ich feststellte, dass die Luft tatsächlich rein war. Ohne Eile begab ich mich zur Kiste mit den Bildern, in der ich einen geeigneten Ersatz für die Mona Lisa zu finden hoffte. Ich deutete es als gutes Omen, dass mich das Glück nicht im Stich ließ. Schon nach wenigen mehr oder weniger wahllos ausgeführten Griffen fiel das Licht der Taschenlampe auf ein mit einem schönen Rahmen wuchtig eingefasstes Porträt, das eine etwas altmodisch bekleidete Landedelfrau vor einer nordischen Landschaft zeigte. Ihr Lächeln war etwas weniger verführerisch und geheimnisvoll als dasjenige der Mona Lisa, aber das Format des Bildes passte haargenau. Ohne lange zu Zögern zog ich es aus der Kiste, klemmte es unter den Arm und ging zur Treppe, die in die Obergeschosse führte. Und dann ging alles sehr schnell. Im Ausstellungssaal 6 entfernte ich mit einigen wenigen Handgriffen die Mona Lisa von der Wand und legte sie vorsichtig auf den Boden. Darauf hängte ich die neue Mona Lisa auf, rückte sie zurecht und trat einige Schritte zurück, um zu überprüfen, ob die Ausrichtung des Rahmens stimmte. Mit einer gewissen Erleichterung konnte ich feststellen, dass von meinem Eingriff noch weniger Spuren zu sehen waren, als ich dies erwartet hatte. Abgesehen von einem leicht veränderten Blickwinkel der Dame und einer anderen Haltung ihrer linken Schulter sah alles noch gleich aus. Von einem leichten Glücksgefühl erfasst ergriff ich die Mona Lisa und verließ den Saal mit sanften Schritten. Ich zog mich wieder in die Kellerräume zurück und löste bis in die frühen Morgenstunden ein Kreuzworträtsel, um mich nicht zu langweilen. Kurz vor acht Uhr, als der Empfang bereits besetzt und der Personaleingang offen war, packte ich die Mona Lisa in die große Tasche, die ich am Vortag in meinem persönlichen Ablagefach bereit gestellt hatte. Als die Dame am Empfang gerade dabei war, die verschiedenen Stapel mit Katalogen und Büchern zurechtzurücken, verließ ich mit meinem Gepäck das Museum.
Um zehn Uhr kehrte ich pünktlich zum Beginn meiner Schicht in den Louvre zurück, setzte die Mütze auf und begann, meine Runden durch die verschiedenen Ausstellungssäle zu machen. Aus reiner Neugier warf ich auch einen flüchtigen Blick in den Saal 6. Es bestätigte sich, dass mein kleiner Trick niemandem aufgefallen war. Interessiert stand eine Gruppe ausländischer Besucher vor der neuen Mona Lisa und ließ sich das Gemälde ausführlich erklären. Auch im weiteren Verlauf des Tages waren keine besonderen Vorkommnisse zu beobachten, weder im Saal 6 noch anderswo. Am Abend ging ich in meine Wohnung zurück, setzte mich auf das Sofa und öffnete die beste Flasche Wein, die sich in meinem Besitz befand: Saint-Emilion, 1988. Während ich das Glas langsam an die Lippen führte, blickte Mona Lisa von der Wand und lächelte mir augenzwinkernd zu.
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