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[heft 1] [jänner 2011] wien - st. wolfgang



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Proxima Centauri
Alexander Böhm

Dieses Haus hat viele Treppen.

Manchmal scheint es so, als bestünde es nur aus Stufen und Absätzen.

Angepasst an die durchschnittliche menschliche Schritthöhe führen sie hinauf und hinab, hierhin und dorthin und wieder zurück.

Sie winden sich in die Höhe und hinterlassen in ihrer Mitte den Abgrund der Treppenschlucht.

1 ... 2 ... der Anfang war getan, nur weiter ...

Er ist ein Junge von sieben Jahren, ein wahrer Wirbelwind.

Jeder Stuhl fesselt ihn und der Gedanke still sitzen zu müssen bereitet ihm nervöse Übelkeit. Die Stufen werden unter seinen Füßen zu flüchtenden Holzbohlen, deren Knarren durch das Treppenhaus schallt, begleitet vom anschwellenden Metronom aufschlagender Schuhsohlen. Keuchend und lachend spurtet er voran.

99 ... 100 ... weiter, immer höher und weiter ...

Das Gefühl ist unbeschreiblich. Der Junge ist ein Kosmonaut auf dem Weg in die Kommandokapsel, ein vor Antrieb und Kraft strotzender Bergsteiger, der die gefürchtete Nordwand bezwingt, eine gut geölte Maschine, die auf Hochtouren läuft und deren Treibstoff nie verebben wird.

Unter ihm bleibt der Staub zurück, auf dem Boden haftend, zu ewiger Bewegungslosigkeit verdammt und sich über der Welt ausbreitend wie ein grauer Schleier, dem er entkommen ist. Endlich.

167 ... 168 ... schneller der Takt, höher ...

Auf dem Dach des Hauses müsste man eine herrliche Aussicht haben, denkt der Junge.

Ein Haus, das so viele Treppen und Stockwerke hat, muss bis in die Wolken ragen, oder noch höher.

Wenn es einen Platz auf der Welt gab, auf dem man Gott sehen konnte, dann mit Sicherheit dort.

Der Junge rennt schwitzend und keuchend die Stufen hinauf, hinauf, weg vom Boden, weg vom Stillsitzen, weg vom Staub, nur weg.

232 ... 233 ... höher ...

Am Ziel. Alle Stufen sind erklommen, jedes Stockwerk passiert.

Er steht vor der Tür zum Dach.

Zitternd und erwartungsvoll legt er die Hand auf die Klinke, doch dann nimmt er sie wieder weg und dreht sich um.

Das Loch, das den Gesang der Tiefe wispert, begrenzt vom Handlauf der Treppen, blickt ihn an und er blickt zurück.

Mit zusammengekniffenen Augen versucht er etwas in der Schwärze des Abgrundes zu erkennen, als dort unten das Licht einer Taschenlampe angeht.

Dort sitzt jemand in einem Stuhl, der aus Lehnen, Fußstützen und Rädern besteht. Jemand, der sein Gesicht trägt.

0 ...

Der Junge blickt hinauf in das Antlitz, das ihn von dort oben anstarrt und es ist ein Mond am Himmel der Treppenschlucht.

Sein Blick ist sehnsüchtig und hoffnungslos.

Dieses Haus hat viele Treppen und er weiß nicht, wohin sie führen, denn er hat nicht eine Stufe erklommen und wird es nie tun.

Das Dach ist der Stern, welcher der Erde am Nächsten ist und genau wie der Stern ist es unendlich weit entfernt.

Unerreichbar und mit bloßem Auge nicht zu erkennen.

Da ist nur die Finsternis der Treppenschlucht, eingekreist von Treppen, die sich nach oben winden und hierhin und dorthin führen, hinauf und hinab und wieder zurück, doch nicht für ihn.

Sein Platz ist der Boden, inmitten des Staubs, der sich abgesetzt hat und alles bedeckt.

Mit einem tiefen Seufzen rollt er zurück in die Küche.

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