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litera[r]t
[heft 11] [juni 2015] wien - st. wolfgang
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dichte kerne [auszug]
Ute Eisinger
Luftraum
Zu Rilkes Archaischem Torso Apollos
Dass etwas
aus der Zeit Gefallenes
an dich Bewunderer
gerichtet ist
ja mit gestrecktem Finger
sticht
dein Schauen –
da steht’s – lies hin –
von einem Augen-
schüler komponiert:
Lern
was
Steinerhörtes
spricht
und welche heute
Frucht
den schönen baren Kern deckt
die man unbedacht verzehrt.
Fang, wirf
was drinstehen könnte.
Stehaufmännchen
Zu Bruno Gironcoli
So ein Stand-
punkt ist stur
voller Blei
bleibt dabei
Sand-
sack in Hirn-
schale ständig
zu stets der-
selben
Erektion
rückschnellt
ein Mikro ein
Schlecker ein Pracht-
stück, metal-
lisch Polyesterleib
Torso im
Kopfstand
ein Schwanz von Mann
im Stierkampf
wobei er ihn selbst schuf: seinen
Gold-
macher-Oscar.
Hammurabi
Zu Josef Pillhofer II
Der schwarze Marterpfahl ist
eine Stele
das seinen Völkern entgegen ragende
Zepter Gesetz
erstes in tiefschwarzen Stein
geschlagenes Manifest
der Verbindlichkeit
einer Ehe zwischen Mensch und Vernunft
gehisste Tektonik
ineinander geschobene Tafeln,
statt wie Schieferplatten vor-,
wie Menschenbauten hoch-
gereckte Staffeln.
Polis
Zu Ioannis Avramidis
Nicht Formation noch Spalier stehen sie,
eine niemals verzweifelt sich sprengende
Bürgerschaft:
Aus ihrer Gruppe
sieht schon manchmal ein
anders gehaltenes Bein,
ohne den hochauf
gescharten Körper in seiner
Dichte aus Haltung zu schwächen.
Die Köpfe
– idealer noch als
der Wuchs der Natur –
sind auf einer Höhe,
von ihnen, der Polis,
bestimmt,
und das Maß legen Menschen
ohne die Latte der Willenseinheit,
dem Wesen ihrer Stadt
losgelöst zu verhängen.
Vielmehr heißt das Gesetz
Harmonie,
Suche nach
Gemeinsinn im Handeln,
stets neu gestaltetem
aufeinander Beziehen.
Die Einheit der Vielfalt
braucht weder
ägyptische Arbeitsameisen
noch aus Stadien flutend
Babelturmmassen.
Sie wird am Marktplatz
diskursiv jeden Morgen
errichtet
und hält gleich Starke
lebendig, gleich, stark.
Schamlose
Zu Mariann Grunder III
Als hätte sie Platz
in einer Faust
diese Handgranate
Votivfigurine eines
fruchtschweren Maiskolbens:
kleiner Willendorferin
in sich rund ruhender Kern
bereit
loszublühen
Obst zu werden
ein Apfel
der sich unter balgende Männer werfen könnte
ohne dass es ihn irgendwie rührt.
© bei der autorin | [www.uteeisinger.at]
textproben aus dem buch dichte kerne
eisinger, ute
1964 im niederösterreichischen weinviertel geboren, verlebt sie lern- und wunderjahre in wien.
sie schreibt gedichte, verfasst literaturkritiken, dichtet aus mehreren sprachen nach und arbeitet gern mit
bildenden und darstellenden künstler/innen. in ihrem element kann sie sich mit einigen literaturpreisen schmücken.
sie hat drei kinder großgezogen, ist ein geselliger mensch und vermittelt mindestens 100 jugendlichen pro schuljahr
den wert von sprache und erinnerung.
preise | stipendien
1998 siemens-literatur-preis.
2000 literaturpreis carinthia.
2005 staatsstipendium des bundes.
publikationen zuletzt
bogen. 49+1 gedichte. klagenfurt/wien: sisyphus 2002.
ilya kutik: ode (Übs.) klagenfurt/wien: sisyphus 2002.
hart crane: die brücke. ein gedicht. (übs.) jung und jung 2004.
striche, sterne. gedichte mit bildern. gossau: arovell 2015.
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