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litera[r]t
[heft 10] [juni 2014] wien - st. wolfgang



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[Aufzeichnung über Kunst]
Rainer Maria Rilke


Die Kunst ist der dunkle Wunsch aller Dinge. Sie wollen alle Bilder unserer Geheimnisse sein. Gerne lassen sie ihren welken Sinn los, um irgendeine unserer zitternden Sinne und dürsten danach, unseren Gefühlen Vorwände zu werden. Sie flüchten aus der Konvention. Sie wollen sein, wofür wir sie halten. Dankbar und dienend wollen sie die neuen Namen tragen, mit denen sie der Künstler beschenkt. Sie sind wie Kinder, welche bitten, man möge sie mitnehmen auf eine Reise: sie werden nicht Alles begreifen, aber die tausend zerstreuten und zufälligen Eindrücke werden einfach und schön auf ihrem Gesicht sein. So, wollen die Dinge vor den Geständnissen des Künstlers stehen, wenn er sie zum Vorwand eines Werkes erwählt. Verschwiegen und verratend zugleich. Dunkel, aber von seinem Geiste umsäumt, wie viele singende Gesichter seiner Seele.
Das ist das Rufen, das der Künstler vernimmt: der Wunsch der Dinge, seien Sprache zu sein. Er soll sie aus den schweren unsinnigen Beziehungen der Konvention in die großen Zusammenhänge seines Wissens heben.



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