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Venedig nach der Jahrtausendwende | Teil 2
Aus dem Nebenzimmer, es ist das von Schwiegermutter, ertönen plötzlich Hilferufe. ACQUA ALTA! Es ist nicht das Hochwasser in der Stadt, sondern in der Badewanne … Die ist am Überlaufen; der Wasserhahn lässt sich nicht zudrehen ... Patrick setzt einen Notruf an der Rezeption ab, Hotelangestellte kommen, das Bad ist überflutet. Die Hauptleitung muss vorübergehend abgestellt werden. In dem alten Gemäuer, sagt ein Hotelangestellter, kommen Überschwemmungen dieser Art gelegentlich vor. Schwiegermutter Akiko, aufgelöst im Bademantel, muss beruhigt werden. Sie hält sich im Zimmer ihrer ›Kinder‹ auf ... Wegen des Ungemachs bekommt sie einen riesigen Obstkorb als Geschenk, als könne man jetzt in Ruhe Bananen oder Zitrusfrüchte naschen ... Man kann Akiko zustimmen, wenn sie sagt, dass man zu Hause im heimischen Ofuro bequemer sitzt. Der Ofuro ist eine Sitzbadewanne mit elektronisch gesteuerter Wassertemperatur. Das Badezimmer der praktisch veranlagten Japaner besitzt nicht nur im Ofuro, sondern auch im Fußboden einen Abfluss, so dass Überschwemmungen praktisch ausgeschlossen sind ... Das überschwemmte Zimmer im Hotel lässt sich nicht trockenlegen; Akiko muss das Zimmer wechseln.
Um auf andere Gedanken zu kommen, verlassen Akiko, Naomi und Patrick das Hotel. Venedig ist und bleibt die Hauptstadt des entspannten Flanierens und des gemächlichen Dahingondelns … Der Schönheit der Wasserstadt, ihrem morbiden Charme, lässt sich schwer widerstehen. Warum auch? … In der Stadt sah es Mitte Januar noch immer so aus, als hätten Venezianer und Touristen die Millenniumsnacht erst gestern gefeiert. Reste von Konfetti, von Luftschlangen, von Masken und Hüllen, die ihren Dienst getan hatten, türmten sich als fröhlicher Müll, als Glitter und Trash vor barockem Hintergrund. Die Jahrtausendfeier lag noch in der Luft; in der Serenissima schien sie nicht enden zu wollen. Inspirierte BesucherInnen aus dem frischen dritten Jahrtausend zogen trunken umher. Die Maskengeschäfte hatten geöffnet; der Karneval deutete sich an. Patrick lockte die Damen ins Geschäft, wenn sie maskiert waren, konnte man sie kaum unterscheiden. Maskierte Damen waren abenteuerliche Wesen, die mit oder ohne Amante von Bar zu Bar zu eilten. Feiertagslaune und Freudenstimmung in Venedig hielten an …
Wenn Paris als Stadt der Liebe angesehen wird, was ist dann Venedig? Venedig, die Stadt Casanovas, ist noch amouröser. Es ist die Stadt des geschichtlichen Casanova, der im 18. Jahrhundert lebte, sowie all der Möchtegern-Casanovas, welche die Stadt bis heute verunsichern ... Paläste, prächtige Museen, geschwungene Brücken, Kanäle, Gehwege und labyrinthische Gassen … erhöhen den Reiz des unterhaltsamen Flanierens. Dandyhafte Herren und gestylte Frauen schauspielern ihr Leben und wollen bewundert werden. Alle wollen bewundert werden, nur weil sie am Leben und in Venedig sind ... Attraktive Japanerinnen scheinen den Hormonspiegel der Italiener ansteigen zu lassen; auch Schwiegermutter hat Chancen. Überhaupt sind Japanerinnen geborene Künstlerinnen, wenn es darum geht, ihr wirkliches Alter nicht in Erscheinung treten zu lassen. Aber es stimmt. Ostasiatinnen altern tatsächlich langsamer und weniger dramatisch als Frauen aus dem Westen.
Das klassische Doppelbett im Palazzo Giorgione ist die »Mutter aller Betten«. Naomi und Patrick feiern die feste Liebe in einer freien Ehe ... Jupiter zittert am römisch-italienischen Himmel vor Eifersucht. Doch es ist wenig zu befürchten, denn die Aufklärung hat diesen Gott ‒ und alle anderen Götter ‒ längst abgeschafft ... Madame verschwendet in den Armen ihres Dichters und Minnesängers erste Gedanken an Berlin. Sie wurde zu einer Ausstellung ins Haus der Kulturen der Welt eingeladen und nimmt Anreize aus Venedig mit. Die »Schule der neuen Prächtigkeit« kommt ihr renovierungsbedürftig vor. Permanente Prächtigkeit, die gibt es nur in Venedig. Naomis subtile Papierskulpturen tragen barocke und rokokohafte Züge, obwohl sie etwas anders, eben japanisch sind.
Es kann nicht ausbleiben, dass Venedigs »Seufzerbrücke« in den Blick fällt. Sie regt zum Lamentieren an, die ein bewusst verkannter Autor und frei Liebender wie Giacomo Casanova auf dem Weg in die Bleikammern wegen (sic!) »Gotteslästerung« durchschreiten musste. Wenn man Casanova heißt, kommt man jedoch nicht einfach um, sondern gelangt oben aus dem Dach wieder heraus … Der sich selbst und die Frauen mit aufklärende Dichter saß in den Verließen des Dogenpalastes nicht wegen verschiedener ›Kavaliersdelikte‹ ein, sondern wegen Blasphemie ... Da hatte die Heilige Kirche sich wieder einmal selbst übertroffen ... Aber Casanova als Held beziehungsweise der Held als Casanova ließ sich von den Hundsflöhen der Inquisition nicht stechen. Nach fünfzehn Monaten Haft gelang ihm gemeinsam mit einem theologischen Kollegen, der das Falsche gelehrt hatte, die Flucht übers Dach des mittelalterlichen Palastgefängnisses hinaus in die »freie Welt«.
Patrick Wahl und die beiden Akimarus, Schwiegermutter Akiko und Ehefrau Naomi, wandeln in Venedig vergnügt auf Casanovas Spuren. Der Make-love-not-war-Meister avant la lettre war unweit des Palazzos Giorgione in der Calle Malipiero zur Welt gekommen. Damals trug die Straße den Namen CALLE DELLA COMEDIA. Das klang authentisch. In der fantasiereichen Straße wohnten Schauspieler und Künstler, zu denen Casanovas Eltern zählten. Der unglückliche Vater hielt das anstrengende Leben nicht lange aus und verstarb früh, Mutter behielt Oberwasser und entwickelte sich zu einer gefragten Schauspielerin ohne besonderen Familiensinn. Die Bühne war ihre Welt, so dass der junge Giacomo von der lieben Großmutter (v)erzogen wurde. Moderne Psychologen aus der Schule Sigmund Freuds sind dazu übergegangen, psychoanalytisch relevante Untersuchungen zu Casanova anzufertigen.
Am Anfang der Calle Malipiero weist eine Gedenktafel auf den Venezianer hin. Wenn jetzt Karneval wäre, würde Wahl, obschon psychologisch aufgeklärt, als Casanova gehen. Patrick ähnelte dem Maestro, wenn er mit Naomi und Akiko, zwei japanischen Belles, durch die schmalen Gassen und Labyrinthe flanierte, Komödiantisches im Kopf … Man kommt nicht umhin, sich die Leute maskiert vorzustellen, auch dann, wenn sie anderes im Sinn haben und zum Fischmarkt wollen.
Am Ca‘ d’Or gibt es eine Anlegestelle … In einem Fährboot lässt sich der Kanal überqueren. Die Angelegenheit ist ein wenig riskant, denn im schmalen Boot muss man stehen und das Gleichgewicht halten. Das könnte den ›schwankenden Frauen‹ Akiko und Naomi sowie dem ›schwankenden Mann‹ Patrick schlecht bekommen. Keine Sorge, am Ende stehen die Frauen fester und stützen den Mann.
Nach dem Anlegen am anderen Ufer bewegten sich die Leute auf den berühmten Fischmarkt zu, den Campo de la Pescaria, der in den größeren Rialto-Markt eingebettet ist. Märkte dieser Art lassen an Zeiten denken, als Supermärkte außer Mode waren. Der Geruch des Meeres und die Vielzahl der Fische löste bei den Damen eine katzenhafte Mentalität aus. Japaner und Japanerinnen kochen gern, und da sie im Zubereiten von Speisen sehr geschickt sind, entwickelten sie fantasiereiche Vorstellungen, was mit dem Meeresgetier alles zu machen sei. Frische Kräuter, Gemüse und Obst gaben weitere Anregungen. Patrick dachte: »Während Germanen Barbaren sind und aus den Wäldern kommen, stammen meine wundertollen Japanerinnen unverkennbar aus dem Meereswasser ... mit eingezogenen und/oder gut versteckten Fischschwänzen.«
Bistros und kleine Restaurants umstanden das Marktgelände. Die BesucherInnen entdeckten Gerichte wie Seebrasse mit diversen Gemüsen, Oktopus auf Polenta, gegrillten (!) Goldfisch mit Beilagen ... Das alles bot sich für das Mittagessen an. ›Gegrillter Goldfisch‹ …, dieses Gericht war in japanischen Augen ein Skandal ... Goldfische sind Zierfische und gehören in ihrer edelsten Züchtung als Koi in die Teiche von Gartenanlagen und Parks, jedenfalls nicht auf den Teller. In stilisierten Gärten künden die Fische vom Reichtum ihrer Besitzer ... Goldfische, gegrillt und entmythologisiert, sind freilich auch nichts anderes als fette Karpfen, die auf dem Teller gut aussehen und wohlschmeckend zubereitet werden. Patrick hält sich aus Pietät vor den Frauen von den Goldfischen zurück ... Gegrillter Oktopus ist eines seiner Lieblingsgerichte. Nur im Traum genießt er einen Goldfisch ... Während er am Weinglas nippt, von Müdigkeit übermannt, wird er vom ›Gott der Fische‹ mit Elektroschlägen bestraft. Ein großer Goldfisch verschlingt die wundertolle Naomi. Wird der Traum gedeutet, lässt er Patricks Verlustängste erkennen ;‒)
BELLA ITALIA, BELLISSIMA VENEZIA! Die BesucherInnen werden vom Nachgeschmack der Millenniumsfeier angeregt; niemand in Venedig will mit dem Feiern aufhören. Das in weiten Teilen katastrophale 20. Jahrhundert und die Ost-West-Spaltung waren verabschiedet worden. Ob man vom 21. Jahrhundert eine bessere Zeit, eine neue ›goldene Zeit‹ erwarten kann? Das ist fraglich, aber hoffen darf man darauf ... Die Zeit, in der die »Gondeln Trauer tragen«, ist passé. In einer Gondel dahinzugleiten, ist wie Flanieren auf dem Wasser, das träumerische Entspannung ermöglicht und in einen Zustand der Lust versetzt. Es gilt das Glück der individuellen Selbstbefreiung ...
Will man die Inseln MURANO und BURANO erreichen, kann man ins öffentliche Vaporetto steigen oder, wenn der Fahrplan ungünstig ist, ein Bootstaxi nehmen. Murano ist Venedigs Glasbläser-, Burano seine Seidenstickerinsel. Auf Murano kann man mit einer Führerin die Glashütten betreten und die Glasbläser bei ihrer bizarren Arbeit beobachten. Man glaubt, dass man in einer Zwischenwelt gelandet sei, alles ist heiß, anmutig und schön. Und ist doch harte Arbeit. Hin und wieder entdeckt man eine Glasbläserin. Schwiegermutter ist beeindruckt; sie kauft zwei Leuchter aus Muranoglas, die sie gut verpackt nach Japan schicken lässt und die dort, wie man später erfuhr, auch unversehrt angekommen sind und die Erinnerungen an Venedig aufrecht erhalten …
Wulf [Noll]
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