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Top of Europe. Schweizer Reise, dritter Teil


Die EidgenossInnen brillierten mit Freundlichkeit und guter Laune, was das Reisen angenehm machte. Ähnlich zuvorkommend war man in Italien gewesen, sonst nur in Japan selbst, aber in China as well. Zudem zeigte das Wetter die Schweiz im schönsten Licht. Wir erlebten sonnige Sommertage, strahlend schön um die dreißig Grad bei trockener Luft und einer Spur Kühle, die von den Bergeshöhen kam. Das war auch so, als wir am Sonntag über Fribourg, die Schokoladenstadt, an den Genfer See nach Lausanne fuhren und von dort aus über Montreux nach Villeneuve.

Unser Ziel am Genfer See war das Schloss Chillon, welches durch einen protestantischen Gefangenen sowie durch Lord Byron berühmt wurde. Schon bei der Anfahrt auf Lausanne blickten wir von der höher gelegenen Bahnterrasse aus, die dem Fernverkehr vorbehalten war, auf den von Bergen umgebenen, sich spiegelnden See, der das Blau des Himmels in sich aufgenommen hatte. In Lausanne stiegen wir in den Nahverkehrszug um, dessen Strecke unmittelbar am See entlang führte. Über dem See lag eine meditative Stille, welche durch die Zugfenster ins Wageninnere einzudringen schien. Das Blau des Wassers und die Tiefe Schwärze in den Augen meiner Frau beruhigten und beunruhigten mich zugleich.

Wir stiegen in Villeneuve aus. Nachdem wir das kleine herausgeputzte Bahnhofsgebäude verlassen hatten, sahen wir in etwa dreihundert Metern Entfernung eines der größeren Schiffe anlegen, das auf dem Genfer See oder dem Lac Léman, wie der See auf Französisch heißt, kreuzte. Ich lief schnell zum Pier, um mir das weiße, flache, langgezogene, aber elegante Schiff anzuschauen, das nach wenigen Minuten wieder ablegte … Ein märchenhaftes Bild, der See und der Himmel schienen eins zu sein. Ich stellte mir vor, Kythera, das Reiseziel des Schiffes, befände sich irgendwo im wolkenlosen Himmel … Mein Traum währte nicht lange, ich kam gerade rechtzeitig zu meinen japanischen Verwandten zurück, die an der Bushaltestelle stehen geblieben waren, um auf den Oberleitungs-Bus zu warten, der uns zum Schloss Chillon bringen sollte.

Bald hatten wir die die Gemeinde Veytaux erreicht. Das Schloss, es handelte sich mehr um eine mittelalterliche Festung, befand sich auf einem Inselchen am Ostufer des Sees. Die Lage war herausgehoben romantisch, aber die dicken Mauern und die vielen Schießscharten des Gebäudes ließen auf dunkle Geheimnisse schließen. Meine Künstlerin und ich kannten den Mythos, der auf einen berühmten Gefangenen und auf einen noch berühmteren Dichter zurückgeht. Beim Gefangenen handelte es sich um den Genfer Freiheitskämpfer François Bonivard (1493-1570) und beim Dichter um Lord Byron (1788-1824), dem Freiheitskämpfer in der Poesie und in der Moral. Der Herzog von Savoyen hatte Bonivard während der Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Reformierten in den dunkelsten Verließen des Schlosses festsetzen lassen. Es dauerte sechs lange Jahre (1530-1536), bis dieser von einem Heer der Reformierten aus Bern befreit wurde. Byron griff den Stoff in dem langen Gedicht The Prisoner of Chillon auf, nachdem er, selber aus London flüchtig, im Juni 1816 das Schloss in der fröhlichen Begleitung Percy Bysshe Shelleys und dessen Ehefrau Mary besucht hatte.

Man schrieb das Jahr 2016, weshalb man des Freiheitskämpfers und des Dichters gedachte. Zweihundert Jahre, das war eine Ausstellung wert: 1816-2016 Byron is back! Lord Byron kehrt zurück. Tomomi fragte scherzhaft, ob ich nicht der wiedergeborene Byron sei, sie meinte, es gäbe eine gewisse geistige Ähnlichkeit als ›Frauenverführer‹, wenn schon nicht von Engländerinnen oder Französinnen, dann von japanischen und chinesischen Belles … Ich weiß, sie wollte mich erheitern und zum Lachen bringen ... Ich hatte andere Gedanken; wie leicht ist es, aus allem und jedem Werbung zu machen, sogar aus der Kultur. Lord Byron als poetische Marke, why not? Nicht wenige Touristen, die Byron nie gelesen hatten, ließen sich vom Byron-Kult anlocken. In erster Linie war man wohl neugierig auf die Kellergewölbe und Katakomben, in welche verruchte Gefangene und Widerstandskämpfer geworfen worden waren, obschon man beim Abstieg in dieselben zunächst auf harmlose Küchenräume, Vorratskammern, auf ehemalige Waffenkammern und schließlich auf eine friedliche Kapelle traf, bevor man in den Verließen landete.

Madame suchte meinen Schutz, weil es so dunkel und gruselig war, während ich daran dachte, was sie für eine schöne Gefangene abgeben würde, besonders als sie in den Nischen vor den vergitterten Fenstern stand. Durchs Gestänge fiel ihr irritierter Blick auf den azurblauen See … Rilkes Panther-Gedicht, das passte auf die Belle auch … Ich fotografierte die japanische Künstlerin an den Gittern; dort wirkte sie wie eine Erscheinung aus lost in the paradise ... Madame revanchierte sich, sie fotografierte mich an denselben Gitterstäben. Da war ich so etwas wie ein zweiter Panther, ein gefangener Dichter unter fremder Kontrolle … Wenig später schoss M., mutig, ja frivol geworden, Bilder von mir unter einem Galgen. Dort wirkte alles so hoffnungslos. Schließlich gelangten wir in die Kerkerhalle, in der François Bonivard jahrelang ausharren musste. Madame ließ mich meinen Fuß in die eiserne Fußfessel des berühmten Gefangenen stecken … Mit den Kopfhörern meines Audioguides sah ich allerdings wie ein ausgeflippter Außerirdischer aus, obschon keiner weiß, wie ein Außerirdischer aussieht.

Manche der Kammern, auf dem nackten Fels errichtet, waren an die tausend Jahre alt, andere waren im 13. Jahrhundert hinzugefügt worden. Die große Kerkerhalle mit ihren Säulen ließ an ein düster-erhabenes Zwischenreich denken. Hier war Bonivard angekettet gewesen und konnte sich nur wenige Schritte bewegen, soweit die Fesseln das zuließen. Wegen der Höhe der winzigen Fensterluken und der Tiefe des Raums befand sich Bonivard im Glauben, sein Kerker läge unterhalb der Oberfläche des Sees. Hin und wieder gab es Mitgefangene, zumeist jedoch war die Einsamkeit Bonivards Gefährte, so dass er sich über jeden Vogel freute, der sich in einer der Fensternischen niederließ.

Der rebellische Lord Byron, der selber ein Freiheitskämpfer auf republikanischer Seite sowie ein steter Kämpfer für die Befreiung der Moral und für freie Sitten war, hat dies in seiner Dichtung einfühlsam festgehalten:
There were no stars, no earth, no time,
No check, no change, no good, no crime
But silence, and a stirless breath
Which neither was of life nor death;
A sea of stagnant idleness,
Blind, boundless, mute, and motionless!
A light broke in upon my brain,—
It was the carol of a bird;
It ceased, and then it came again,
The sweetest song ear ever heard,
And mine was thankful till my eyes
Ran over with the glad surprise,
And they that moment could not see
I was the mate of misery (…).
»Mates of misery« …, Gefährten der Trostlosigkeit und des Elends waren die Dichter oft selber, weshalb sie notwendigerweise die Illusionen erfanden, um sich mittels dieser aus dem Elend herauszuarbeiten. Bei der Bewältigung von schwierigen Lebenslagen sind Illusionen nützlich. Aus dem »mate of misery« Bonivard wurde dank seines übermenschlichen Beharrungsvermögens noch ein lebensfroher Mensch. Nach seiner Befreiung wandelte sich Bonivard, der reformerische Geistliche, zum Bonvivant, der es ‒ echt Byronisch ‒ noch auf mehrere Ehen und Liebschaften brachte. ‒ Traurig-erhaben war dagegen das Schicksal des antiken Philosophen Boëthius (480/485-524/526), der ‒ vor seiner Hinrichtung aus politischen Gründen ‒ die Consolatio philosophiae, den Trost der Philosophie, verfasste. In dieser Schrift erscheint die Dame Sophia als personifizierte Philosophie, um in einem universellen Dialog den zum Tode Verurteilten zu trösten. So konnte Meister Boëthius in seinem ›monologischen Dialog‹, in seiner Selbsttröstung, der Überlegenheit des Geistes huldigen und zugleich dessen Ohnmacht zum Ausdruck bringen.

In den unteren Erkern und Kerkern des Schlosses Chillon wurden die BesucherInnen plötzlich von virtuellen Lichtspielen an der Wand abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht ... Man sah würdevolle Herren und Kavaliere, schöne Hofdamen aus lange vergangenen Zeiten, aber auch Narren und Kriegsleute als Schattenrisse vorüberziehen … Die Damen Midori und Tomomi sowie andere Besucherinnen wirkten selber wie Schattenrisse, aber mit dem beträchtlichen Unterschied, dass in ihnen das frische Leben pulsierte. Diese ›Hofdamen‹ waren modisch modern, man/frau traf sie beim Flanieren in der wirklichen Welt, in den Räumlichkeiten von Boutiquen, in den Sälen eines Grand Hotels, sogar im Supermarkt ... Gedanken dieser Art begleiteten mich, bis wir in die Räumlichkeiten der Ausstellung Byron is back! gerieten. Welch anmutiges Bild, als Midori zwischen Plakaten aus früheren Zeiten stand. War sie nicht selbst ein Mythos? Zwischen den mondänen Jugendstilplakaten vom Genfer See und aus Montreux, kam es mir – und vielleicht auch anderen Besuchern ‒ so vor, als schien die Künstlerin in die Plakate hineinmontiert zu sein.

In der Ausstellung konnten wir den Spuren Byrons folgen, wie er sie in seinem Reisetagebuch Alpine Journal ausgelegt hatte. Außerdem waren Briefe, Gemälde, Zeichnungen … aus dieser Zeit zu sehen. Unter den Objekten ragte das von Claire Clairmont handschriftlich vervielfältigte Manuskript The Prisoner of Chillon heraus. Die gedruckte Erstausgabe dieses Gedichts sowie einige Originalausgaben von Byrons Werken waren ebenfalls zu sehen. Draußen im Souvenir-Shop konnte man Rot- und Weißweine erwerben, die Byron auf dem Etikett hatten. Statt abends zur Byron-Lektüre zu greifen, könnte ein Müßiggänger mit der Flasche anstoßen und Byron zuprosten. Die inspirierteren Leute, möglicherweise vom Wein, könnten in einer freisinnigen und künstlerischen Gesellschaft mit verschiedenen PartnerInnen eine geistvolle Polyamorie, manche ziehen den Begriff Amorkratie vor, hochleben lassen.

Ich erwähne nur noch, dass wir den Burgfried bis zur Spitze erklommen, weil wir von dort aus einen wundervollen Rundblick auf den Genfer See sowie auf die Stadt Montreux bis hin zur Silhouette Lausannes genießen konnten.

Montreux ‒ hier legten wir den nächsten Stopp ein, um die Stadt mit ihren schönen Gebäuden und mit ihrer märchenhaften Uferpromenade als FlaneurInnen zu durchstreifen. Die Gegend wird Schweizer Rivera genannt, weil das Klima dank der geschützten Lage Montreux‘ mediterrane Ausmaße erreicht, wovon wir bei mehr als 30 Grad überzeugt waren. Am Rand der Stadt sah man Weinberge und Olivenhaine; am Seeufer und in den Parkanlagen erblickten wir Zitronen- und Orangenbäume sowie Palmen. Man sagt, dass sich schöne & zuweilen giftige Schlangen am Seeufer wohlfühlen sollen. Allerdings waren die Schlangen von den am Ufer lagernden, mal badenden, mal sich sonnenden Leuten verdrängt worden. Jeder Flecken, jeder kleine Fels am Ufer wurde von hübschen Badenixen bevölkert, gleich ob sie weiblicher oder männlicher Natur waren. Manche Nixe sowie mancher Nix schienen selber eine prächtige Schlange zu sein …

Heutzutage kommen die Leute aus dem Show-Geschäft, doch im 18. und 19. Jahrhundert kamen viele Geistesgrößen nach Montreux und Vevey. Jean-Jacques Rousseau wählte die Umgebung von Vevey zum Schauplatz seines Briefromans Julie oder Die neue Heloise. Das Plädoyer des Romans für die Liebes- und gegen die Standesehe sowie die Naturverbundenheit Rousseaus ließen die europäischen Zeitgenossen romantisch werden, davon wurde selbst Lord Byron inspiriert … Viele geschätzte Dichter kamen in diese Region, Fjodor Michailowitsch Dostojewski und Vladimir Nabokov, dessen Lolita jeden Tag aufs Neue in meinem Herzen aufersteht, und Graham Greene. Greene liegt in Vevey begraben, Nabokov in Montreux. Meister Dostojewski, der von Mai 1868 bis August 1869 in Vevey lebte, schuf hier große Teile seines Romans Der Idiot. Ich würde sagen, im »Idioten«, dem Fürsten Myschkin, zeigt sich der unberechenbare Geist von 68/69 im 19. Jahrhundert, der als rebellischer Geist auf geheimnisvolle Weise in den Jahren 68/69 im 20. Jahrhundert wieder auftauchte.

Heute sind es die Jazz- und die Musikfestivals, die Montreux berühmt machen, vom Casino Barrière einmal abgesehen. Ernster Jazz, klassische Musik, bunter Pop. Als Frank Zappa 1971 ein Konzert im Casino gab, brach ein Feuer aus, und die Casino-Halle brannte ab. Die Gruppe Deep Purple war vor Ort, woraufhin sie ihren berühmten Hit Smoke on the Water schuf: No matter what we get out of this, I know we will never forget. Smoke on the water, fire in the sky. Im Jahr 1975 wurde das neu aufgebaute Casino wieder eingeweiht. ‒ Bleiben wir in der Musikszene: Freddie Mercury, der Sänger der Gruppe Queen, verbrachte seine letzten Lebensjahre kränkelnd in Montreux. An der Uferpromenade des Genfer Sees erhebt sich sein überlebensgroßes Denkmal, ein Bronze-Mercury, ein Kämpfer mit erhobener Faust. Aber für was? Ein Kämpfer für emanzipatorische Freiheiten, für das Ende von Diskriminierung? Mein verwunderter Blick blieb für kurze Zeit an einem Mercury-Jünger haften, der ‒ ehrfurchtsvoll vor dem Denkmal kniend ‒ dem Meister liebevoll übers bronzene Knie strich …

An der Uferpromenade sprühte das Leben Funken, von verschiedenen Podien ertönte Musik. Sprungtürme führten ins Wasser, aufblasbare Gummi-Inselchen mit Nixen trieben auf dem See: die Welt schien von allen Lasten befreit zu sein. ‒ Dennoch waren wir hungrig geworden, suchten nach einem Restaurant. Nach einem Blick auf die Speisekarte gingen wir ins Le Palais Oriental. Doch, doch, es war besonders, dieses Restaurant, palastartig & vornehm. Es wurde zumeist von Arabern aus den Golfstaaten und von Asiaten besucht, welche den Stil der Küche, die arabische, persische und indische Einflüsse aufgenommen hatte, zu schätzen wussten. Das Ambiente war orientalisch, so dass man für einen Moment glauben konnte, man befände sich in einem Schloss in Rajasthan. Ich schoss ansprechende Fotos von Midori, Tomomi und dem Schwager vor ihren Speisen im Salon, während ich selbst weniger ans Essen als an 1001 Nacht dachte.

Nach dem Essen setzten wir unseren Spaziergang auf der Uferpromenade fort, flanierten ein Stück in Richtung des Schlosses Chillon, dann spazierten wir in die Gegenrichtung. Als wir am Hotel Eden Palace vorbeikamen, besuchten wir das Foyer, dessen Ausstattung uns gut gefiel. Wir überlegten, ob wir draußen in Les Jardins de L’Eden Kaffee trinken wollten, taten es aber nicht, weil wir gesättigt waren und bereits einen Mokka nach dem Essen zu uns genommen hatten. Wir blieben in Bewegung und trafen auf eine sich in Ufernähe aus dem Wasser erhebende ›Himmelstürmerin‹, eine stählerne oder bronzene Figur, eine Frau, die furchtlos auf den oberen Sprossen einer hohen Leiter stand, welche in den Himmel zu ragen schien. Unverzüglich musste ich an die eine oder andere meiner japanischen und chinesischen Studentinnen denken.

Das berühmte Hotel Montreux Palace, heute ein Fairment Hotel, lag oberhalb der Stadt. Es schien noch immer von der Belle Époque zu zeugen. In diesem Hotel verbrachte Vladimir Nabokov die letzte Zeit seines Lebens, stolze sechzehn Jahre … So viel Treue wurde ihm mit einem Denkmal gelohnt, auf welchem er als bronzener Gelehrter, Schriftsteller und als prächtiger Schmetterlingsforscher in Gedanken versunken auf einem Stuhl für alle Zeiten (?) in der Gartenanlage saß. Vermutlich werden in Nabokovs Fantasie die Lolitas wie Schmetterlinge vorüberrauschen … Mit meinen Schmetterlingen, äh, mit meinen BegleiterInnen, zog ich weiter. Wir flanierten noch ein Weilchen durch die Bel-Époque-Stadt Montreux mit ihren Jugendstilgebäuden und Gebäuden im Art-déco-Stil, wahrlich eine Stadt der Muse für Dichter, Musiker und Flaneure … Am frühen Abend fuhren wir angeregt nach Bern zurück; als wir im Zug saßen, überließ ich mich dem Stream of Consciousness mit seinen vielen Impressionen. Es kam mir freilich so vor, als sei nicht nur die Gegend am Genfer See vom Revival der Bel-Époque geprägt, sondern die gesamte kosmopolitische Schweiz :)

Wulf [Noll]


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