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Tief in der Klinik

"Wir sehen dich" ist das Leitmotiv einer Rauminstallation in einer Kunsthalle. Durch die in die Ausstellungsräume eingezogenen Gittergänge des polnischen Künstlers Miroslaw Balka blicke ich auf die Werke alter Meister und sie blicken auf mich. Ich befinde mich in einer vergitterten Welt.

Es gibt sie überall, diese eisernen Barrieren. Fast überall. Wir sehen sie nicht. Und doch sind sie da, brechen den Blick, das Wahrnehmen, das Verstehen. Aber sie sichern uns auch davor, uns selbst zu verlieren, halten unser Ich zusammen, bei aller Durchlässigkeit.

Manchmal nur sind wir ausgeliefert, existieren ohne Schutz durch Gitter. Zum Beispiel in einer Klinik, Krebsstation. Dort bin ich, arbeite mit in einem Team zur Unterstützung von Patienten und deren Angehörigen. Zeitweise. Dort werde ich gesehen und sehe den Nächsten, den Kranken, den Angehörigen. Ich will wissen, erfahren, was die Menschen hier bewegt.
"Ich bin nicht soweit, darüber sprechen zu können, die Diagnose ist noch ganz neu", sagt eine Frau mit Tränen in den Augen. Ich sehe sie an. Ihr tränenverhangener Blick geht mir nahe. Liegt ein Vorwurf darin, weil ich gesund bin? Liegt ein Flehen darin, weil diese Frau Halt sucht, bei jedem Nächsten, wie an einem Strohhalm? Nein, ich will nicht schon wieder Gitterstäbe aufrichten, analysieren, Raster darüber legen, einordnen. Ich fühle mich hilflos, sehe durchs Fenster. Draußen leuchten die Baumkronen in zartem Grün. Das ist alles. Mehr gibt es nicht zu sagen. Niemand kann darüber sprechen. Ich sehe die Frau wieder an. Sie hat sich abgewendet, liegt ruhig, wie schlafend im Krankenbett. Die Installation Balkas im Modern Tate Museum in London kommt mir in den Sinn. Es ist ein begehbarer Innenraum in einem riesigen Container, ohne jedes Licht, absolut dunkel, absolut still. Ein Raum absoluter Einsamkeit. Wir sehen niemanden. Niemand sieht uns. Niemand?
"Man steht neben sich und betrachtet sich", sagt ein junger Mann.
"Es gibt keine Normalität mehr. Das ist die Nebenwirkung dieser Krankheit."
Die Ehefrau sitzt neben dem Bett und sieht unentwegt den Kranken an.
"Wir werden das durchstehen", sagt die Frau und drückt die Hand ihres Mannes.
"Meine Familie", sagt der junge Mann. Die beiden lächeln sich an. Ein kleines Kind, sicher das Töchterchen, sitzt am Fenster und blättert in einem Kinderbuch. Wie viel versteht sie von dieser Situation eines Menschen, der ihr so nahe steht? Ich sehe sie an. Sie wirft mir einen scheuen, ernsten Blick zu. Sie fühlt, dass hier etwas im Gang ist, etwas Schweres, ganz Schweres, das auch in ihre Existenz eingreift und das nicht "nett" ist.

Freunde: Immer wieder wird über Erfahrungen mit Freunden berichtet. "Ich habe mit Freunden tolle Gespräche geführt."
"Ich habe jetzt richtig gemerkt: Ich habe gute Freunde."
Aber auch: "Ich habe jetzt erst richtig gemerkt, wer meine wirklichen Freunde sind."

Wenn es um alles geht, wenn alle Gitterstäbe, hinter denen und an denen wir uns aufrecht halten, weggefallen sind, dann zeigt sich, wie viel Nähe wir aushalten, wie viel Mut wir haben, dies auf uns einwirken, einstürmen, in uns einsickern zu lassen. Was eigentlich? Die Verzweiflung, die doch dem Trost weichen soll? Das Ende, das doch keins sein soll? Die Angst vor der Tapferkeit des Nächsten, während wir tief in unserem Inneren hoffen, nie so herausgefordert zu sein? Fliehen deshalb manche Freunde? Aus Angst vor dieser Tapferkeit, in der Ahnung einer tief existenziellen Unterlegenheit des Gesunden, Belanglosen gegenüber dem Kranken?

Wie treffen uns zum Nachmittagskaffee. Wir vom Team und Patienten sowie Angehörige. Die Patienten erzählen von der Entdeckung ihrer Krankheit. Jeder weiß eine Geschichte zu erzählen. Eine sehr persönliche, eine Geschichte, die das Leben jedes Einzelnen endgültig verändert hat.
"Ich wusste, mein Leben wird anders. Aber ich gönne mir kein Selbstmitleid, die Belastung ist unglaublich", beschreibt ein Patient die Situation. Hier, beim Kaffee, sprechen sie darüber, fühlen sich in dieser zweckfreien Runde geborgen - ein wenig. Hier ist der Nächste nicht Strohhalm. Die Gemeinschaft bietet Halt, ganz ohne Gitter. Warum? Fühlen sie sich hier aufgehoben? So wie Hegel das Wort verwendet? Aufgehoben: Bewahrt, beschützt. Aber auch höher gehoben. Und, dies vor allem, aufgehoben wie eine Verurteilung aufgehoben werden kann, in einer höheren Instanz, der Instanz der Gemeinschaft.

Heute Abend bin ich wieder bei einem Vortrag in der Kunsthalle. Ich denke an die Menschen, denen ich heute begegnet bin: An die Tränen, an das scheue Wesen oder auch die hervorbrechende ohnmächtige Wut als welche das konkrete Leiden dem Nächsten begegnet. Von der 'schock-haften Präsenz' der Skulptur ist heute Abend die Rede. Ich sehe vor mir Menschen im Schock, im Schock wegen einer Diagnose, weil Worte sie getroffen haben, mitten ins Herz ihres Lebens, nur Worte, Worte eines Arztes. Ist diese Gegenüberstellung unfair? Ich denke an eine bestimmte Skulptur, die ich heute gesehen habe. Eine feingliedrige Gestalt, welche Arme und Hände ausbreitet als wollte sie etwas halten. Aber es ist nichts da. Nur Leere. Wofür steht die Leere? Vielleicht für das Spirituelle, dieses flüchtige Gebilde auf dem Grunde unserer Existenz, das Leiden und Kunst miteinander verbindet - flüchtig nur, punktuell, denn das ist sein Wesen.

Ich bin wieder in der Klinik, gehe von Zimmer zu Zimmer, atme vor jedem Anklopfen tief durch. Was würde als Nächstes auf mich zukommen?
Ein Mann sagt: "Für mich ist keine Welt zusammengebrochen. Aber es gibt traurige Momente. Irgendwann habe ich eine halbe Stunde geweint. Ganz allein. Da brauchte ich keine tiefsinnige Literatur und keine Musik."

Das Körperliche unserer Existenz, hier in der Klinik tritt es übermächtig in Erscheinung. Hier gewinnt es schockhafte Präsenz, ist uns das Nächste, gewohnter Freund oder unerbittlicher Feind unserer Existenz. Die Menschen reagieren auf das Versagen im Körperlichen mit Trauer. Es ist ein stetig blutender Riss im Urvertrauen. Tiefer als Worte, tiefer als die Frage, die hier oft gestellt wird:
"Warum das Ganze?"
Diese Trauer ist sogar tiefer als Musik, Kunst, als alle Spiritualität. Trauer: Ohne sie gäbe es all dies gar nicht.

Ich gehe ein paar Schritte den Flur hinunter, verharre vor dem nächsten Krankenzimmer. Der Gittergang in der Kunsthalle kommt mir in den Sinn. Dort gibt es Ausgänge, die den Zutritt zu den Bildern frei geben, zu Bildern, die sich mit dem Leben und dem Leiden Christi beschäftigen. Ich gehe auf die Tür des Krankenzimmers zu. Ich bin gefasst auf eine neue Leidensstation eines mir fremden Menschen.

"Ich vertraue auf mich selber", sagt ein Mann mittleren Alters. Er sitzt an einem kleinen Tisch und wartet auf den Ruf zur Computertomografie. Ich sehe ihn fragend an.
"Ich habe meine Freunde getröstet. Das hat mir viel Kraft gegeben."
Ich komme ins Gespräch mit ihm.
"Natürlich. Zuerst begreift man es nicht wirklich. Es war schwer, meiner Frau alles zu sagen. Sehr schwer. Meine Frau hat es dramatischer aufgenommen als ich. Sie steht mir anscheinend näher als ich mir selbst."
"Aber das ist doch eine wichtige Stütze in so einer Situation."
"Nein. Es belastet mich, meiner Frau das antun zu müssen. Das ist das Schlimmste."
"Da stehen Sie ihrer Frau bestimmt auch näher als Ihre Frau sich selbst."

Mein Gegenüber lacht.
"Da haben Sie wahrscheinlich recht. Da sieht man, dass es doch besser sein kann, wenn jeder sich selbst der Nächste ist."
"Sie vertrauen auf sich selbst, sagen Sie. Vielleicht sollten Sie auch Ihrer Frau vertrauen."
"Am Ende wird mir nichts anderes übrig bleiben."
"Am Ende",
murmle ich.
"Ja, das hat hier natürlich seine eigene Bedeutung - Ende."
Mein Gegenüber beugt sich zu mir vor.
"Wissen Sie. Meine Krankheit haben die hier ja gut im Griff. Seit Jahren schon. Aber wenn man hier über die Gänge geht..., wenn man über die Gänge geht und den Leidensgenossen begegnet, fragt man sich unwillkürlich, wer der Nächste sein wird, der am Ende ist. Am Ende. Man schaut in den Spiegel und denkt, ich werde es hoffentlich nicht sein. Es wird der oder die sein. Und man denkt an die Gesichter, die man im Gang sieht. An die Menschen, die genau so leiden und kämpfen wie man selbst. Man kann nichts dagegen tun."
Mir fällt auf, dass er bei diesem Thema nicht 'ich' gesagt hat sondern immer nur 'man'. Ich nicke. Damals, als meine Frau hier war, ist es mir ähnlich gegangen.
"Ist das brutal?"
fragt er mit besorgtem Gesichtsausdruck. Spontan sage ich
"Ja."
Dann füge ich im Versuch, es zu verstehen, hinzu:
"Man wird irgendwie zum Jäger. Da geht etwas mit uns durch. Ein Schalter in den Tiefen unserer Existenz wird umgelegt und dann gibt es keinen Nächsten mehr sondern nur noch Konkurrenten. Konkurrenten ums Überleben."
"Ein Gespenst, mit dem man lebt. Aber man kann manchmal nicht wählerisch sein in Punkto Gesellschaft, die man hat",
schließt er das Thema.

Ich setze meinen Gang fort. Vor vielen Jahren habe ich einmal etwas gelesen über Soldaten, die, unter Beschuss liegend, erleben, dass der Kamerad neben ihnen tödlich getroffen ist. In der ersten spontanen Empfindung ist der Überlebende, so heißt es, dankbar, dass es den Nächsten erwischt hat und nicht ihn selbst. Die Umstände des Lebens sind eben manchmal so. Zum Beispiel im Krieg.

Ich stehe wieder vor einer Tür. Ich zögere. Meine Frau lebt nicht mehr. Ich, sie, wir haben den Konkurrenzkampf ums Überleben verloren. Andere konnten dankbar sein. Was empfinde ich? Warum bin ich hier? Will ich den Kampf fortsetzen? Ja. Er ist nicht zu Ende. Hier, in diesen Gängen und Zimmern lebt meine Frau fort. Und ich bin hier um weiterzukämpfen. Dafür, dass meine Frau fortlebt.

Ich atme tief durch und versuche die Gedanken abzuschütteln. Mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht betrete ich das nächste Zimmer und stehe am Krankenbett eines jungen Mannes. Er macht einen schwachen Eindruck.
"Es ist wie Krieg", sagt er. Und noch einmal, "wie Krieg."
"Ich kenne das", antworte ich.
"Neu auftretende Symptome, die Worte der Ärzte können einschlagen wie Bomben."
"Die Einschläge werden dichter... und schwerer. Aber ich kämpfe. Ich schaffe das."

Wieder einmal weiß ich nicht, was ich sagen soll, wie ich die Zuversicht des Patienten stützen kann. Ich versuche zum Abschied freundlich zu lächeln und verlasse das Zimmer. Ist Krieg das letzte Wort, das letzte Gefühl vor der finalen Niederlage, dem Ende. Das kann doch nicht sein.

Ich betrete noch mehrere Zimmer. Ich sehe in Gesichter voller Zuversicht, in Gesichter auch, in denen der stetig blutende Riss im Urvertrauen spürbar ist.
"Ich pack das nicht. Es ist zuviel", so oder ähnlich wird gesagt. Dabei mischen sich Trotz und Verzweiflung. "Es ist gemein. Ich sehe das nicht ein", wehrt sich jemand gegen sein Schicksal. Auch ein anderer findet es einfach ungerecht. Ein Patient sagt: "nach der Diagnose bin ich meiner Frau im Arm gelegen und habe eine halbe Stunde geweint."

Ich verweile bei einer jungen Frau. Schwach aber entspannt liegt sie in den Kissen.
"Alle reden hier vom kämpfen. Ich will nicht kämpfen."
Ich verstehe sie. Aber ich will sie nicht unterstützen in dieser Haltung. Also sage ich nichts. Anscheinend erkennt sie mein Problem.
"Ich mach ja alles, was die Ärzte sagen. Aber ich denke nicht nach. Wissen Sie", fährt sie zögernd fort, "mein Freund ist vor ein paar Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen."
Die Frau presst die Lippen zusammen.
"Sie vertrauen darauf", sage ich nach Augenblicken des Schweigens meinerseits zögernd, "dass das Ende einen Sinn macht, dass Sie so zu ihm finden?"
Sie nickt, schaut dabei zur Decke.
"Sie lassen sich fallen, weil Sie Vertrauen haben in den Tod?"
frage ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
"Ich bin, war selbständig, Bäckermeisterin. Ich habe mein ganzes Leben gekämpft. Man sieht die Menschen nicht mehr vor lauter Kampf. Jeder kämpft nur noch. Jetzt ist Schluss. Schluss."
Vertrauen in den Tod statt Überlebenskampf, denke ich beim Verlassen des Zimmers. Warum nicht? In der Situation des Scheiterns machen wir die Erfahrung von Transzendenz, hat ein Philosoph einmal geschrieben. Bringt uns das nicht auch unseren Nächsten näher? Sich fallen lassen: Vielleicht sollten wir uns alle auch darin üben. Im Sich-fallen-lassen. Nicht nur im Kämpfen.

"Ich zünde jeden Tag eine Kerze in der Kapelle an und bleibe dort eine halbe Stunde."
Aus einem abgemagerten Gesicht lächelt mir eine Frau entgegen.
"Es ist soviel Leid um mich herum. Meine Kerze brennt für alle."
Kerzen statt Krieg, Licht statt Gespenster, denke ich. Auch das ist in uns drin. Auch das ganz tief. Dort wo der Schalter für den Überlebenskampf sitzt. Die Umstände legen den Schalter mal in die eine mal in die andere Richtung: Krieg oder Kerzenlicht. Ich drücke zum Abschied eine magere Hand.

Am Abend gehe ich wieder durch die Gittergänge Balkas. Ich fühle die Spannung zwischen der stummen, kargen Geometrie des Gitters und der Farbigkeit der Bilder; der gefühllosen Routine des Lebens und dem blutvollen Leiden, das auf den Bildern dargestellt ist; die Spannung zwischen dem stetig blutenden Riss im Urvertrauen der Leidenden und der Hoffnung auf Heilung. Vielleicht auch zwischen Kampf und Sich-fallen-lassen. Sind Kunst und Leiden Nachbarn? Ja, irgendwie. Sie machen etwas sichtbar, das ganz nah ist und doch verborgen unter Schichten der Gewohnheit, der Routine. Sie machen unseren Nächsten sichtbar. Neu, anders, fremd. Man muss sich fremd sein, um sich nah zu sein, um einander zu sehen.

Nach dem Museumsbesuch nehme ich den Bus nach Hause. Vor mir sitzen junge Leute. Sie halten Bierdosen in den Händen und sind ziemlich ausgelassen. Einer erzählt einen alten Witz:
"Hängen zwei Typen an der Bar herum. Der eine ist schon zugedröhnt vom Bier. Da fragt ihn der andere: 'Warum trinkst du denn soviel?' 'Weil ich vergessen will,' kriegt er zur Antwort. 'Aha. Und was willst du vergessen?' 'Ich hab's vergessen.'"

Die jungen Leute lachen herzhaft. Auch ich muss Lachen. Ein junger Mann prostet mir zu. Die anderen schließen sich an. Ich nicke freundlich zurück und ich spüre, dass auch in dieser Situation keine unsichtbaren Gitterstäbe existieren zwischen mir und diesen Menschen, die ich zuvor nie gesehen habe. Zumindest für die kleine Zeitspanne des Lachens.

Ich frage mich, ob es eine Reihenfolge der Worte gibt. Beginnt es mit der Trauer über die Endlichkeit unserer körperlichen Existenz und endet im Lachen, in dem das Individuum erlöst wird von sich selbst, sich auflöst in der Gemeinschaft der Lachenden?

Der Bus biegt ein in eine Straße, die durch einen Wald hinauf führt zu der Siedlung, in der ich wohne. Ich blicke durch das Finster hinaus in die Nacht. Was ich sehe, ist alleine mein zitternd schwaches Spiegelbild.

Horst [Koch]


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