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Little Italy

                My life is going to change. I feel it.
                Raymond Carver

Wir waren die einzigen Gäste im «Little Italy». Draußen war es noch warm und hell, einer der letzten lauen Sommerabende, unten am See hatte es Menschen, aber die Altstadt wirkte ausgestorben. Wir betraten das Lokal, obschon ich lieber draußen gegessen hätte, und setzten uns an einen Tisch für zwei Personen. Eine große, stämmige Frau mit breiten Schultern, kräftigen Oberarmen und dicken Brüsten kam an unseren Tisch. Nach der Begrüßung reichte sie die Speisekarte und entfernte sich.

"Hast du die Hände gesehen?"
"Die Hände?", sagte ich und öffnete die Speisekarte, "nein, was ist damit?"
"Hast du das nicht gesehen? Sie sind riesig."
"Ist mir nicht aufgefallen."
"Das musst du dir anschauen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Sie sind dick und geschwollen, sehen ganz weich aus
... wie ein Luftkissen unter der Haut."
"Ich nehme den Osso buco", sagte ich, ohne von der Karte aufzuschauen, "und du?"
"Ich habe noch gar nicht geschaut."

Sie nahm die Karte zur Hand und öffnete sie.

"Den Hauswein dazu?"
"Gregor, du weißt doch ..."
"Tut mir leid, hatte ich ganz vergessen."
"Dr. Hoppmann sagt, dass die erste Phase die heikelste ist."
"Auch wenn noch nichts passiert ist?"
"Ja. Und du solltest auch keinen Wein trinken. Sicher ist sicher."
"Ja?", sagte ich und legte die Karte auf den Tisch.
"Außerdem wissen wir ja nicht, ob es schon geklappt hat."

Ich sah sie fragend an.

"Vielleicht ... nein, ich glaube nicht, aber sicher ist sicher."
"Sagt Dr. Hoppmann."

Unsere Blicke trafen sich, sie wendete sich aber bald wieder ab und vertiefte sich in die Karte. Als die Bedienung kam, konnte ich nicht anders und schaute auf ihre Hände. Es waren gewaltige Hände. Sie sahen aus wie aufgeblasene Handschuhe, sie waren mindestens drei Mal so groß wie bei einer normalen Person und passten nicht zum restlichen Körper.

"Haben Sie etwas gefunden?", sagte sie mit freundlicher Stimme und verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken.
"Ich hätte gerne den Osso buco und meine Frau ..."
"Ich bin gleich so weit", sagte sie, "ähm, für mich die Tagliatelle an Steinpilzen. Oder nein, warten Sie, Pilze sind so schwer verdaulich, doch lieber die Papardelle."
"Wie Sie wünschen", sagte sie und notierte sich die Bestellung auf einem Notizblock. "Und zu trinken? Den Hauswein kann ich empfehlen."
"Nein, keinen Wein. Bringen Sie uns eine große Flasche Mineralwasser. Ohne."
"Eine Vorspeise vielleicht? Der Chef empfiehlt das Carpaccio."
"Danke, aber ... nein, vielen Dank."

Ich schüttelte ebenfalls den Kopf.

"Und, was sagst du?", sagte sie, nachdem die Bedienung die Speisekarten eingesammelt hatte und die Bestellung in der Küche aufgab, "sind sie nicht grässlich?"
"Die Hände?"
"Ja, die Hände, was sonst?"
"Das sind Elefantenhände."
"Elefantenhände?"
"Elephantiasis, das ist eine Krankheit."
"Wenn ich daran denke, dass sie mit diesen Händen das Essen bringt ..."
"Sie fasst es ja nicht an."
"Aber die Teller ... mit diesen grotesken ..."
"Es ist ja nicht so, dass das eine ansteckende Krankheit wäre."
"Ansteckend vielleicht nicht, aber es ist doch sehr unappetitlich. Findest du nicht?"
"Elsa, sie bringt nur das Essen, nichts weiter, kein Grund zur Sorge."

Der Speiseraum erinnerte an ein Wohnzimmer. Klein, im Grunde zu klein für ein Restaurant, und gemütlich. Obschon wir die einzigen Gäste waren, flüsterte sie so leise, dass ich immer wieder nachfragen musste, weil ich sie nicht verstanden hatte. Sie verstummte, als die Bedienung mit dem Essen kam, die Teller auf den Tisch stellte, den linken Arm hinter dem Rücken verschränkt, und uns einen guten Appetit wünschte. Ich nahm das Besteck und schälte das mürbe Fleisch vom Knochen. Sie saß mit verschränkten Armen da.

"Ich finde das sehr abstoßend. Mir ist der Appetit vergangen."
"Wegen der Hände?", sagte ich kauend.
"Ja. Ich glaube, ich kann das nicht essen."
"Das ist gestaute Lymphe, nichts weiter."
"Trotzdem, ich werde das nicht essen."
"Du willst das nicht essen?"
"Nein, auf keinen Fall."

Sie saß mir gegenüber und weigerte sich wie ein störrisches Kind, ihren Teller anzurühren.

"Wenn du meinst, aber das hier", dabei zeigte ich mit dem Messer auf das Fleisch, "das hier schmeckt jedenfalls ausgezeichnet. Hände hin oder her."

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute aus dem Fenster auf die leere Straße, solange ich aß.

"Findest du es nicht auch warm hier drin? Oder bin ich das?"
"Nein, ist warm", sagte ich kauend.
"Man könnte die Fenster öffnen."
"Klar", sagte ich, "oder man setzt sich draußen hin, wo es angenehm kühl ist."
"Draußen? Nein, das ist ja ein Hinterhof. Und es zieht bestimmt. Ich frage wegen dem Fenster. Entschuldigung?"

Sie winkte in Richtung der Bedienung, wie ich fand, etwas übertrieben, da wir die einzigen Gäste waren und sie uns sowieso im Blick hatte.

"Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Mein Mann und ich finden, dass es etwas warm hier drin ist."
"Wir", sagte ich, wollte eigentlich protestieren, aber sie fuhr mir über den Mund.
"Vielleicht könnte man das Fenster öffnen."
"Tut mir leid", sagte die Bedienung und man sah ihr an, dass es ihr sehr unangenehm war, "die Fenster lassen sich leider nicht öffnen."
"Die Fenster lassen sich ... wozu hat man denn Fenster, wenn man sie nicht öffnen kann?", sagte sie zu mir.
"Tut mir leid. Aber ich könnte die Tür etwas ..."
"Ja, bitte."

Die Bedienung ging zur Tür, öffnete sie und legte einen Keil darunter. Als sie an unserem Tisch vorbeiging, lächelte sie uns zu.

"Sie könnte im Zirkus arbeiten", sagte Elsa leise, als sie außer Reichweite war.
"Was kann sie?"
"Im Zirkus, du weißt schon."
"Im Zirkus? Als was?"
"Keine Ahnung, als Attraktion eben."
"Ich weiß nicht, nur wegen der Finger?"
"Ich meine ja nur ..."
"Und wie stellst du dir das genau vor?"
"Nein, ich ..."
"Sie stellt sich in die Mange und hält ihre Hände in die Luft ..."
"Gregor, komm."
"...und die Leute rasten aus, weil sie sowas noch nie gesehen haben?"
"Du musst das jetzt gar nicht ins Lächerliche ziehen."

Sie wischte sich den Mund, obschon sie nichts gegessen hatte.

"Aber eigentlich", sagte sie dann, "wollten wir ja deine Beförderung feiern."
"Stimmt, hatte ich völlig vergessen. Zuerst muss ich die Prüfung bestehen."
"Das ist reine Formsache. Was heißt summa cum laude eigentlich?"
"Sehr gut, das heißt sehr gut, aber soweit ist es ja noch nicht."
"Und dann, wie lange dauert es, bis du Partner wirst?"
"Schwer zu sagen, ein paar Jahre dauert das schon. Wenn sie mich überhaupt vorschlagen."
"NKS, klingt schon nicht schlecht."
"NKZ."
"NKZ? Ich dachte immer, es heißt NKS."
"Nein, NKZ, Z für Zumkehr, Neubarth&Karrer&Zumkehr.
"Ich dachte immer, es heißt NKS."
"Nein."
"Dein Vater wird da auch noch Wörtchen mitreden", sagte sie und lächelte, "ich meine, wenns um den Partner geht.
"Isst du gar nichts?", sagte ich und nickte.
"Nein, mir ist der ..."

Sie verstummte, als sich die Bedienung näherte.

"Schmeckt Ihnen das Essen nicht?", sagte die Frau mit den Elefantenhänden, als sie an den Tisch trat.
"Nein, im Gegenteil", sagte Elsa, "das Essen ist wunderbar, es ist nur ... ich fühle mich etwas unwohl, so leid es mir tut, ich bringe keinen Bissen herunter."
"Das ist aber schade, kann ich Ihnen etwas anderes bringen?
Eine Minestrone vielleicht?"
"Nein, nein, keine Umstände bitte. Es liegt nicht an Ihnen ... ich verspüre nur diesen Ekel ... etwas zu essen ... es hat nichts mit Ihnen zu tun."
"Ich verstehe ... ein Kamillentee vielleicht?"
"Vielen Dank, aber ich glaube, wir würden gerne zahlen."
"Wie Sie wünschen", sagte die Frau mit den Elefantenhänden und entfernte sich.

Als wir gingen, wünschte die Bedienung uns einen schönen Abend und wir traten hinaus in die laue Sommernacht.

"Tut mir leid", sagte Elsa und hakte sich bei mir ein, "aber ihre Hände ..."

Wir gingen schweigend nach Hause. Ich setzte sich auf das Sofa und las die Zeitung. Sie ging ins Badezimmer, schminkte sich ab und zog das schwarze Nachthemd an, das ich ihr auf den letzten Geburtstag geschenkt hatte. Dann ging sie ins Wohnzimmer, stellte sich neben mich, so nahe, dass ich ihre Körperwärme spürte. Als ich nicht reagierte und weiter in die Zeitung sah, setzte sie sich auf mich. Sie grub ihre Hände in meine Haare am Hinterkopf. DieZeitung lag zwischen uns, nun zerknittert, und verursachte ein unangenehmes Geräusch.

"Heute wird es klappen, ich spüre es", sagte sie ganz nahe an seinem Ohr. Dann erhob sie sich und wollte mich an der Hand mitnehmen. Ich blieb sitzen.
"Ich lese das nur noch zu Ende, ja?", sagte ich und glättete die Zeitung.
"Lass dir aber nicht zu lange Zeit. Ich habe morgen einen anstrengenden Tag."
"Ja, ich komme gleich, nur noch diesen Artikel."

Sie ging ins Schlafzimmer und ich hörte, wie sie sich auf das Bett legte. Ich blieb auf dem Sofa sitzen und las in der Zeitung. Das Telefon klingelte. Vater. Ich überlegte, ob ich ihn wegdrücken sollte. Schließlich nahm ich trotzdem ab.

"Wann sind deine Prüfungen?", sagte er ohne Begrüßung.
"In zwei Monaten."
"Und, bist du bereit?"
"Noch nicht."
"Mit wem redest du?", rief Elsa aus dem Schlafzimmer.

Ich stellte auf stumm und sagte ihr, dass Vater am Apparat war.

"Grüß ihn von mir."
Ich stellte wieder laut und sagte: "Was hast du gesagt?"
"Ich sagte, ich habe mit Peter gesprochen."
"Peter?"
"Zumkehr, Herrgott, dein Chef."
"Klar, Peter."
"Er sagt, er freut sich, dich in seiner Kanzlei zu wissen und dass du gute Arbeit leistest."
"Er verlangt viel, ja."
"Was erwartest du? In fünf Jahren wird er dich zum Partner befördern."
"Wir werden sehen."
"Was, wir werden sehen. Das wird geschehen."
"Ich hab noch nicht einmal den Anwalt und ihr redet alle vom Partner."
"Worüber willst du denn reden?"
"Nein, ist schon gut."
"Wir können auch über etwas anderes reden."
"Nein, ist schon gut."
"Wir können auch über Philip reden. Passt dir das besser?"
"Nein, ist schon gut."
"Nein?"
"Ich habe gesagt, es ist gut."
"Aber warum ich eigentlich anrufe ..."
"Ja?"
"Deine Mutter sagt, du sollst dich wieder einmal blicken lassen."
"Sagt sie."
"Und nimm Elsa mit."
"Wird gemacht."
"Wann kommt ihr?"
"Weiß nicht ... nach der Prüfung?"
"Gut, dann melde dich bei deiner Mutter. Sie will euch alle wieder einmal sehen."
"Kommt Phil auch?"
"Philip? Philip ist nicht da, daran wird sich vermutlich auch in zwei Monaten nichts geändert haben."
"Hat er telefoniert?"
"Er ruft Mutter manchmal an, ja."
"Geht es ihm gut?"
"Was weiß ich. Er war immer schon anders."
"Als?"
"Als du, als ich, er ist anders."
"Bei dir klingt das so, als ob das was Schlechtes wäre."
"Er ist bald 30."
"23 ist er."
"Auf jeden Fall vertrödelt er seine Zeit da unten."
"Lass ihn."
"Wie auch immer, er wird nicht dabei sein."
"Ich rufe Mama an."
"Nach den Prüfungen."
"Ja, nach den Prüfungen."

Ich verabschiedete mich und dann dachte ich noch eine Weile an Phil. Wo er wohl steckte? Das Letzte, was ich von ihm gehört hatte, war eine Postkarte aus Botswana oder was weiß ich woher, vielleicht war es auch Mali. Er schrieb, dass er in irgendeiner sehr alten Wüstenstadt sei.

"Kommst du jetzt?", rief Elsa etwas gereizt, als ich nach zehn Minuten noch immer nicht gekommen war.
"Ja, gleich, nur noch diesen Satz, dann ...", sagte ich und legte die Zeitung auf die Seite. Ich atmete tief aus. Einen Augenblick saß ich auf dem Sofa und bewegte mich nicht. Dann stand ich doch auf, ging ins Badezimmer, putzte mir die Zähne, wusch mir das Gesicht mit Seife, entkleidete mich und ging in Unterhosen ins Schlafzimmer.
"Ich bin etwas müde", sagte ich, als ich mich neben sie legte und mich zudeckte.
"Du kannst gleich müde sein, aber zuerst ...", sagte sie und kroch unter meine Bettdecke.
"Du musst doch bestimmt hungrig sein?"
"Erinnere mich nicht an das Essen, diese Hände ..."

Sie leckte mein Ohr und rieb sich an mir. Sie küsste mich, dann zog sie mir die Unterhosen herunter und setzte sich auf mich. Ich musste an die Bedienung denken, an die großen Brüste, ihre dicken Hände. Ich bekam eine Erektion. Elsa stützte sich auf meinen Brustkorb und bewegte sich auf und ab. Sie begann stärker zu atmen, bis ich endlich in ihr kam. Sie verharrte einen Augenblick in dieser Position, dann stieg sie von mir herunter und legte sich auf ihre Seite.

"Wenn es jetzt geklappt hat, wird es ein Fisch", sagte sie nach einer Weile, "so wie du."

Ich sagte nichts.

"Wie wollen wir es nennen?"
"Es?"
"Du weißt schon ... nach deinem Vater?"
"Nach meinem Vater? Ureich?"
"Nein, du Witzbold, ich rede vom Vornamen."
"Hans? Ich weiß nicht."
"Das ist modern. Diese alten Namen sind modern."

Ich sagte nichts.

"Schläfst du schon?"
"Nein", sagte ich schließlich.
"Was hältst du von einem kleinen Fisch?"
"Elsa?"
"Vielleicht wird es auch ein Widder."
"Elsa."
"Ja?"
"Ich bin sehr müde, Elsa."
"Ja, du hast recht. Ich glaube sowieso nicht an diese Sternzeichen und außerdem habe ich morgen einen anstrengenden Tag. Wir sollten schlafen."

Sie gab mir einen Kuss und ich drehte mich zur Seite. Ich musste an die Frau mit den Elefantenhänden denken. Plötzlich verspürte ich dieses große Mitleid. Vielleicht lag es daran, dass sie so ehrlich und freundlich gewesen war und Elsa sich nur vor ihren Händen ekelte und an gar nichts anderes mehr denken konnte.

"Elsa?"

Sie rührte sich nicht. Ich hörte ihren ruhigen gleichmäßigen Atem. Ich wartete, bis ich sicher war, dass sie schlief, dann sagte ich kaum hörbar, bevor ich einschlief, vielleicht dachte ich es auch nur, ich sagte, ich wollte es jedenfalls laut sagen: "Ich bin müde."

Christian [Rechsteiner]


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