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Nachbarin
Wir kannten sie nicht. Nein, eigentlich nicht. Wir kannten sie nicht wirklich. Wir haben sie mal gesehen. Wir teilten uns den langen, schmalen Flur im zweiten Obergeschoss im rechten Flügel des Hauses. Ihre Wohnung lag gegenüber, eine Tür versetzt. Da waren viele Wohnungen in jedem Geschoss. Wohnungen konnte man das vielleicht nicht nennen. Eher Nischen mit einem Dach über dem Kopf und vier Wänden, innerhalb derer man sich aufhalten konnte. Wir hielten uns auf in unseren vier Wänden. Jakob und ich. Jeder hielt sich auf in seinen vier Wänden. Die Nachbarin hielt sich auf in ihren vier Wänden. Hinter einer verschlossenen Tür. Nie haben wir erlebt, dass die Tür geöffnet wurde.
Zweimal haben wir sie gesehen die Nachbarin. Zweimal im Winter. Sie hatte gelbe Haare und trug einen Wollmantel. Die Nachbarin sah aus wie ein Tier in dem Mantel. Wie ein großes, breites Tier. Sie stieg nicht in den Fahrstuhl, sie nahm die Treppen, tappte die Stufen hinunter. Nicht laut, auch nicht leise. Das klang nicht nach Schuhsohlen. Das klang anders. Vielleicht trug die Nachbarin keine Schuhe. Wir wussten es nicht. Denn wir kannten die Nachbarin nicht. Nein, eigentlich nicht.
Da waren viele Türen im zweiten Obergeschoss. Genauso viele wie in den anderen sechs Geschossen. Und ebenso viele wie in den Geschossen des linken Flügels. Hellgrau waren die.
Einmal in der Woche wurde saubergemacht in den langen schmalen Fluren des gesamten Hauses. Dafür kam eine Firma. Dreieckige Schilder wurden vorübergehend aufgestellt. "Vorsicht Rutschgefahr" stand darauf. Hinter den Türen gab es keine Firma, die saubermachte und auch keine dreieckigen Schilder.
Manchmal hörten wir Stimmen hinter den vier Wänden rechts und links von unseren vier Wänden. Die Stimme der Nachbarin hörten wir nicht. Die vier Wände lagen ja gegenüber, etwas schräg versetzt.
Nach dem Saubermachen roch es einige Stunden nach scharfen Mitteln. Dann war der Geruch weg, und nach einer Woche roch es wieder einige Stunden nach scharfen Mitteln.
Wir sind nicht ausgerutscht. Die Nachbarin sei einmal ausgerutscht, hieß es. Lange im Krankenhaus sei sie gewesen. Dann sei sie zurück in ihre vier Wände gekommen mit einem Gips am Fuß. Wir fragten uns, wie sich das anhören würde, wenn sie die Stufen damit hinuntertappte. Das klang sicher nicht nach Schuhsohlen. Das klang anders. Ein paar Wochen später sei sie wieder ohne Gips gewesen.
Und noch ein paar Wochen später sahen wir zwei Männer mit einer Trage den langen schmalen Flur entlanglaufen. Die Trage war mit einem Laken bedeckt. An der einen Seite guckte etwas hervor. Es war ein Stück des Wollmantels der Nachbarin. Bestimmt sah sie unter dem großen Laken immer noch aus, wie ein großes, breites Tier.
Adrienne [Brehmer]
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