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Zu Unrecht vergessen:
Wilhelm Buschs späte Prosa


Bereits in Buschs Bildergeschichten finden sich Elemente des Grotesken. Dort tauchen sie vor allem am Ende einzelner Sequenzen in Gestalt erstarrter Figuren auf - zeichnerisch dargestellt durch ihre Reduktion auf geometrische Formen wie Kreise, Punkte und Striche - und drücken aus, dass die vormals 'idyllisch-harmonische' Welt plötzlich ins Bedrohliche und Abgründige umschlägt. Durch die mehrfache Wiederholung dieses Vorgangs in den größeren Bildergeschichten macht Busch deutlich, wie sehr der Mikrokosmos seiner 'Strichwesen' Abbild einer als gefährlich und inhuman empfundenen Wirklichkeit ist. Auf¬grund seiner ironisch-humoristischen Kommentare schafft der Dichter in dieser Gattung jedoch versöhnende Distanz "zu seinen Protagonisten, die, blind und uneinsichtig, ihre Verblendung mit körperlicher Versehrung bezahlen und jene Erfahrung immer erst noch machen müssen, die den Erzähler bereits zur Erzählung befähigt. Diese Distanz aber besitzt der Erzähler nicht nur, weil er im Gegensatz zu seinen Helden um die Vergeblichkeit allen Handelns schon weiß, sondern vor allem, weil er sich mit diesem Wissen auch in Einklang befindet, weil er sich mit seinem Pessimismus durchaus versöhnt hat. Es ist demnach die Haltung eines mit sich selbst versöhnten Pessimismus, die in der Bildergeschichte in so unvergleichlicher Weise zugleich Form und Inhalt geworden ist." [1]

Genau jene intendierte Versöhnung verbietet es Busch in seinen Bildergeschichten, die Welt in voller Schärfe zu zeigen. Deshalb beschränkt sich auch das Groteske auf einzelne Bildfolgen, deren Wiederholung zwar letztlich auf der gleichen Grundaussage über die Welt und die Menschen basiert wie in der Prosa, die aber aufgrund ihrer Struktur in dieser Gattung für den Leser bei weitem nicht so radikal wirkt wie in jener. In den beiden Erzählungen Eduards Traum (1891) und Der Schmetterling (1895), die zusammen mit Buschs letzten zwei Gedichtbänden sein Alterswerk ausmachen, bildet das Groteske das wesentliche Strukturmerkmal des Werks.

Dieses Element drückt sich in Buschs Erzählungen hauptsächlich in den verfremdeten, locker gereihten und "ineinander vergleitenden" Bildern aus. Diese "Traumbilder" heben "die Ordnungen, die unsere Realität beherrschen" auf, so dass surrealistische Vorstellungen entstehen, "die uns schaudern lassen", weil sie "eben doch unsere, nur eben völlig entfremdete Welt" zeigen. [2] Mit diesen Worten hebt Kayser auf die ambivalente Struktur des Grotesken ab: Zum einen verzerrt sie die Realität und schafft so Distanz zur wirklichen Welt. Zum andern verweist der verfremdende Abstand auf eine als sinnwidrig, abgründig und beklemmend-unheimlich gezeichnete Wirklichkeit und streicht damit de¬ren negative Aspekte prägnant heraus. Dadurch betont der Dichter das fragmentarische Wesen der Realität und läßt erkennen, daß diese keine Sicherheit mehr zu bieten hat. Die entfremdete, von unversöhnlichen Widersprüchen geprägte Welt bildet Busch in erster Linie durch die panoptische Reihung der einzelnen Episoden ab. Auf diese Weise enthüllt er die zunehmend verdinglichten Beziehungen der Menschen untereinander sowie das Schwinden der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten in kritischer Absicht. Dass dieses poetische Verfahren in der Tat mit der literarischen Tradition radikal bricht, thematisiert Busch im äußeren der beiden Schlussrahmen seiner Erzählung Der Schmetterling:

"Das Manuskript der obigen Erzählung fand kürzlich ein Sommerfrischler auf dem Taubenschlage neben dem Giebelstübchen jenes nämlichen Gehöftes, wo der Verfasser seine Tage beschloß. Die Nachkommen von Gottlieb und Katharina lebten noch daselbst in gedeihlichen Verhältnissen. Wirklich war die Persönlichkeit des guten Peter erst festgestellt worden, als man nach seinem Ableben das Medaillon bei ihm fand. Sein ungekünstelter harmloser Stil, seine rücksichtslose Mitteilung selbst solcher Erlebnisse, die für ihn äußerst beschämend gewesen, drücken seinem Berichte den Stempel der Wahrheit auf, und nur der Halbgebildete, dem natürlich die neueren Resultate der induktiven Wissenschaft auf dem Gebiete des Wunderbaren nicht bekannt sind, wird Anstoß nehmen an diesem und dem, was man früher unmöglich nannte". [3]

In der Kombination von beglaubigtem Bericht ("den Stempel der Wahrheit") und der Betonung "des Wunderbaren" spricht Busch genau jene ambivalente Struktur des Grotesken an, auf die auch Kayser abzielt: Verfremdende Distanz und enthüllende Nähe, beides bestimmt das Verhältnis des Grotesken zur Wirklichkeit. In seinen Reflexionen bezieht Busch außerdem die Reaktion des bürgerlichen Lesepublikums - das sich vor allem an der Literatur des Bürgerlichen Realismus orientiert - auf diese Struktur ironisch mit ein. Die "Halbgebildete[n]" wissen mit diesem Doppelcharakter grotesker Verfremdung nichts anzufangen und lehnen ihn ab.


Traditionsverhaftete Modernität

"Das Richtungsweisende [am Expressionismus] ist also gerade das, was man seinen konstruktiven Beitrag zum Prozeß der 'positiven Entmenschung' nennen könnte. Denn nur hier ist es, wo er die Logik des historischen Werdens im Rahmen der sich entwickelnden Industriegesellschaft zum Ausdruck bringt [...], indem sie sich gezwungen sieht, ihre ursprüngliche verklärten Persönlichkeitswerte immer stärker den sich herausbildenden Sachzwängen zum Opfer zu bringen. So betrachtet, ist der Expressionismus ein weiterer, wenn auch wesentlich stärkerer und folgenreicherer Impuls dieser auf eine [...] Versachlichung drängenden Kräfte, die sich bereits im späten 19. Jahrhundert bemerkbar machen. Seine ästhetische und gesellschaftliche Bedeutung liegt also gerade darin, daß er den Kampf gegen die rein liberalistische Auffassung von 'Natur' und 'Menschlichkeit' um ein beachtliches Stück weitertreibt." [4]

Genau das lässt sich bereits in Wilhelm Buschs Prosa beobachten und exakt das macht ihre Modernität aus. Doch das ist nur einer ihrer Aspekte. Auf der anderen Seite bleibt sie der literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts verhaftet. Diese traditionsverhaftete Modernität zeigt sich deutlich am ambivalenten Charakter ihrer beiden Grundmotive, Abstraktion und Versachlichung. So entwerfen Kafka und die Vertreter des Grotesken Expressionismus - genau wie Busch - ein abstrakte Welt, in der die Dissoziation des Geschilderten in einzelne, additiv gereihte Episoden, in der Depersonalisierung und blinder Automatismus zentrale Motive darstellen. Diese Welt - und hier unterscheiden sie sich von Busch - bildet kein geschlossenes Ganzes mehr. Zwar kommentieren auch in Buschs Prosa weder die Figuren noch ein auktorialer Erzähler das Geschehen von einer absoluten, als endgültig fixierten Position aus. Dennoch bleibt eine übergreifende, sinnstiftende Instanz erkennbar. Indem Busch seine Streit-, Kampf- und Triebwelt - im Rückgriff auf die Philosophie Schopenhauers - auf wenige anthropologisch bestimmte, überzeitlich gültige Konstanten auffasst und damit enthistorisiert, basieren die einzelnen Episoden, die dargestellten Antagonismen letztlich auf einem übergreifenden Ganzen, einer mit negativen Vorzeichen versehenen Totalität. Nicht die sozialen Faktoren, nicht die historischen Entwicklungen bedingen die geschilderten Konflikte, sondern ein von der historisch-sozialen Wirklichkeit abstrahierender, alles dominierender (Universal-)Wille. Zwar negiert er damit jeden positiven Sinnbezug, indem er jedoch die Welt in ihrer Gesamtheit noch als grundsätzlich verstehbar betrachtet, bleibt er der Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts verhaftet. Dennoch wahren seine Erzählungen kritische Distanz zur Lebenswirklichkeit ihrer Entstehungszeit. In ihren Bildern spiegeln sich - quer zur Intention ihres Autors - deutlich die historisch-sozialen Entwicklungen des ausklingenden Jahrhunderts.

In einem weiteren Punkt unterscheiden sich Buschs Erzählungen von der modernen Literatur. Letztere kennt keine echte Entwicklung ihrer Figuren mehr. Ob bei Kafka, Becher, Heym, Goll etc. - ihre Figuren durchlaufen einzelne Stationen, ohne dass sie wesentliche Einsichten oder Erkenntnisse gewinnen. Nicht so bei Buschs. Die deutliche Abwärtsentwicklung von Peter, die auch als schützend empfundene Rückkehr Eduards in seine behagliche Biedermeier-Idylle ist jeweils von einer Wandlung ihrer Einstellung begleitet: von dem Wissen um ein letztes Refugium des bedrohten Ichs. So fragwürdig ihr Rückzug ins Bürgerlich-Häusliche auch ist, er erscheint als letzte Möglichkeit einer halbwegs geborgenen und abgesicherten Privatexistenz. Einige Jahrzehnte und einen Weltkrieg später lässt sich dieser Fluchtraum in der Literatur dann allerdings nicht mehr überzeugend darstellen.


Anmerkungen

1 Martin Rector/Ralf Schnell: Der nicht-versöhnte Pessimist. Überlegungen zum Spätwerk Wilhelm Buschs. In: Wilhelm-Busch-Jahrbuch 1987 S. 72-82. Hier: S. 75f.
2 Alle Zitate: Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg. 2. Auflage. 1961. Hier: S. 130.
3 Wilhelm Busch: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrg. von Friedrich Bohne. Bd. 1-4. Hamburg 1959. Später hrg. als Gesamtausgabe in 4 Bänden. Wiesbaden 1968-1974. Hier: Bd. IV S. 263.
4 Richard Hamann/Jost Hermand: Expressionismus. München 1976. Hier: S. 203.

Michael [Hetzner]


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