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Die Welt - Träume, Wachträume, Fantasien | Auszug II


Der Verlierer

Dieser Mann existiert nicht mehr. Er kann ziemlich genau angeben, wann ihn seine Existenz verlassen hat: an einem Montag zwischen zwei und acht Uhr morgens, kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag: Er kann nicht schlafen, rappelt sich hoch, verlässt das Schlafzimmer, Fragen der Freundin im Rücken. Nach zwei ambitionslosen Filmen mit vor allem Kulissen schläft er auf dem Sofa ein. Am Morgen ist er nicht mehr vorhanden.

Er steht vorm Badezimmer, als seine Freundin durch ihn hindurch geht. Sie bleckt ihre Zähne vorm Spiegel, trägt den Lippenstift auf, zerrt an einer widerspenstigen Braue. Er sagt etwas, einen belanglosen Satz, mit dem man Sinnestäuschungen abtun möchte. Aber er hört sich nicht.

Mit dem Mann sucht die Spuren seines Seins. Die halbvolle Flasche vom vergangenen Abend steht wieder unberührt im Weinregal. Auf dem Poster der Clique sieht man den Strand durch eine Lücke. In den Regalen liegen die Bücher kreuz und quer, weil ihnen die Nachbarn fehlen. Seine Freundin scheint es nicht zu bemerken.

Barfuß folgt er ihr auf die Straße. Einmal sucht er sein Spiegelbild in einer Auslage. Als er sich umdreht, ist sie fort. Zu diesem Zeitpunkt hofft der Mann noch auf eine kurzfristige Halluzination. Er fragt Passanten nach der Zeit, nach den Ergebnissen der Bundesliga, nach den Ursprüngen des Schamanismus, ohne einen Laut von sich zu geben. Vergebens versucht er, mit Schlamm Parolen auf Plakatwände zu schreiben. Er schneidet Grimassen, er provoziert Polizisten mit obszönen Gesten. Am Ende mimt er sogar den reuigen Sünder für eine Zeugin Jehovas. Er kann sehen, hören, riechen, schmecken, sogar fühlen, aber jeder Versuch, mit der Welt in Kontakt zu treten, scheitert. Selbst Hunde, mit denen er von Kindheit an in Feindschaft gelebt hat, ignorieren ihn.

Seine Nichtexistenz wirkt sich auf Lebewesen ebenso aus wie auf unbelebte Materie. Die Packungen, die er im Supermarkt an sich nimmt, stehen unverändert im Regal, sobald er sie in einen Wagen geben will. Umgekehrt führen ihm die Dinge ihr Sein geradezu provozierend vor. Wütend tritt er gegen eine Wand, die sich als massiv wie eh und je erweist.

Eine Zeitlang schöpft er Hoffnung aus den Schmerzen: Sie beweisen, dass etwas außer ihm existiert. Und da er feststellen kann, dass es etwas gibt, muss es ihn ebenfalls geben. Das spricht gegen die These, die Welt sei nichts als der Traum eines Schmetterlings. Irgendwann fällt ihm ein, dass es sich auch um einen Alptraum handeln könnte.

Der Mann fühlt sich müde wie noch nie. Aus Gewohnheit geht er heim, wie er immer heimgegangen ist, und landet vor einem Haus, das er noch nie gesehen hat. Er läuft zurück und nimmt die nächste Straße. Der Name ist ihm fremd. Er kennt weder die Schrift noch die Sprache auf dem Schild. Es könnte Georgisch sein oder Birmanisch.

Die Form der Bäume erinnert ihn an etwas, das nichts mit Bäumen zu tun hat. Er fragt sich, wodurch sich Pflanzen und Menschen unterscheiden. Was für sind das für Wesen, die ihm entgegenkommen? Existieren überhaupt Menschen unter dem Sternenhimmel?

Gerald [Jatzek]


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