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Wie Geschichten anderswo enden

Ukraine – Luhansk:
Sie musste auserwählt sein, etwas Besonders haben. Es sollte ein Zeichen geben. Bilder aus Märchenbüchern flackerten in ihrer Erinnerung auf: Ein hageres Mädchen, das vor einem Kamin kniet, verschlissener Rock, ärmliches Hemd. Eine Taube auf ihrem Arm, zutraulich. Als Vater in Luhansk von der Volksmiliz ermordet worden war, hatte Daryna noch geglaubt, es wäre ein Opfer gewesen. Ein Aufschrei wegen des Brudermords und dann Schluss. Aber es ging weiter. Bürgerkrieg nannten sie es. Verrat, sagte die Mutter und bekam vor Zorn keine Luft mehr. Sie erstickte an ihren Tränen. Am Ende diagnostizierte man Lungenentzündung. Daryna wusste es besser. Sie stand vor dem schlichten Grab, fassungslos, dass es für sie nur noch die Tante gab. Die Tante und ihre Familie hielten zu den Prorussischen. Zu denen, die Darynas Eltern auf dem Gewissen hatten. Daryna verbannte den Fluch, den sie nicht gegen sie ausstoßen durfte, in den hintersten Winkel ihres Herzens. Es war einmal ein Mädchen mit ausgezeichnetem Schulabschluss, das studieren wollte. Durch den Krieg wurde sie zur Waise. Dann kam der Angriff Russlands aufs ganze Land. Daryna hätte sich verstecken sollen, aber sie suchte das Zeichen. Einmal noch ging sie zu dem halb zerstörten Gebäude, in dem die Wohnung ihrer Eltern gelegen hatte. Sie schaute hinauf, dorthin, wo früher das Küchenfenster gewesen war. Die Scheiben fehlten. Ein weiß gerahmter Fensterflügel hing schief in den Angeln. Wind kam auf und der Flügel schlug gegen die Mauer. Das war das Zeichen: Wegfliegen – Freiheit. Die Erinnerung an Mutters Stimme und Vaters warme Augen würden sie leiten. Deshalb lag, als keinen Meter von Daryna entfernt eine Flugbombe in einem Kaufhaus detonierte, ein Lächeln der Hoffnung auf ihrem erstarrtem Gesicht.


Angola – Cuangar:
An Omahuvisos elftem Geburtstag geschah ein Mirakel. Ein wundersamer Vogel pochte an die Hütte des Onkels, als Omahuviso allein war und brachte eine Botschaft. Es war natürlich kein Vogel, sondern die Frucht eines Affenbrotbaums, die ein Sturm bis zum Dach getragen und dort fallen hatte lassen. Ihre Botschaft verstand Omahuviso trotzdem. Er brach die Frucht und aß von dem säuerlichen Fleisch, bevor er die Kraft spendenden Samenkörner genoss. Onkel und Tante waren streng und Omahuviso bekam, seit er denken konnte, die schlechteste Kost in der Familie. Wenn es etwas Nahrhaftes zu Essen gab, gaben sie es immer Ramalho, dem Sohn des Onkels. Omahuviso schwenkte einen abgebrochenen Zweig als Zauberstab in der Luft. Eines Tages – so verhieß ihm das Auftauchen der kostbaren Frucht – würde er sich jeden Tag satt essen können. Ein neues Leben ohne Hunger und Durst. Omahuviso würde weiter kommen als sein Großvater und Vater. Großvater war ein Ovimbundu aus dem Norden gewesen, zuerst Viehhüter, dann zur Plantagenarbeit gezwungen. Vater hatte gegen die fremden Eroberer gekämpft, aber die hetzten die Völker des Landes gegen einander auf. Statt einer gab es drei Befreiungsbewegungen und Vaters Familie gehörte zur falschen Zeit der falschen an. Sie flohen in den Süden, wo die Flüsse Cuando, Cubango und Okavango das Land umarmen. Vater heiratete seine Cousine Nuria. Nach einem Jahr schenkte sie ihm Omahuviso. Im nächsten Jahr erlosch ihr Lebenslicht im Feuer einer Landmine. Vater ließ den kleinen Jungen in der Obhut von Tante und Onkel und machte sich auf zu den Minenräumern. Seitdem hatte Omahuviso nichts mehr von ihm gehört. Seine Erinnerung war ausgedörrt wie das Land. Die Erde trug keine Früchte mehr. Das Wasser des Landes brachte den Tod. Als ständige Flamme brannte der Hunger im Körper. Bevor der Mond wieder voll war, würde Omahuviso weg gehen. Er kannte Geschichten von einer langen Reise in sagenhaft reiche Länder. Ein Leben verlieren oder ein Leben gewinnen. Er musste es wagen. Und verlor.


Afghanistan – Kabul:
Zu dem Buch war er durch Zufall gekommen. Bald schien es ihm Schicksal. Wenn er später ein Leben in dem fremden Land führt, würde er davon erzählen. Es sei sein erster Kontakt mit etwas Deutschem gewesen, würde er sagen. Natürlich habe er das Buch nicht, so wie dessen Held, aus dem Laden gestohlen. Da sei nur diese zersplitterte Auslage gewesen. Nach der Machtübernahme war den Taliban jeder junge Mann verdächtig. Besser, Amin versteckte sich, so lange die Milizen durch die Stadt zogen. Also kletterte er kurzerhand durch die Öffnung der zerborstenen Scheibe. Im Raum war es dämmrig. Aus dem Schutt ragten Bücher. Amin horchte nach draußen. Stille. Um sich vom Klopfen seines Herzens abzulenken, griff er nach einem der Bücher. Auf dem Einband war eine Schlange, die sich in den Schwanz biss. Amin schlug die erste Seite auf und las „übersetzt aus dem Deutschen …“. Später würde er sagen, das Lesen im Buch war wie das Ankommen auf einer Lichtung. Ein freier Raum, der sich dem Blick öffnete. Genauso malte er sich das fremde Land aus. Tausende Bewohner und eine kaiserliche Kanzlerin. Gegen die Morde, die Explosionen und die Angst las Amin drei Wochen lang in dem Buch. Immer dann, wenn er versteckt bleiben musste. Das Buch handelte von ihm und seinem Land. Jeden Tag griff das Nichts weiter um sich. Viele versuchten in Teile der Welt zu flüchten, die noch intakt waren. Amin wollte ins Land der kaiserlichen Kanzlerin und sie um Rettung für sein Land bitten. Wenn die Zerstörung aufhörte, konnten sie wieder zurück. Ich muss daran glauben, sagte sich Amin, bis eine Handgranate die Geschichte seines Lebens vorzeitig beendete.

Barbara [Deißenberger]


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