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Fernwärme, Tschechow, die bildende Kunst
und das Odenschmieden


Beim Schreiben über Abseitiges an Tschechow zu denken, drängt sich nicht auf; dennoch kam mir – „Fernwärme“ lautete mein merkwürdiges Thema – kein anderer als er in den Sinn: Anton Tschechow, verstorben 1904. Geradezu lebendig sah ich ihn vor mir, bemerkte, wie er auf etwas – seinen bläulich emaillierten Aschenbecher? – starrte, sodann tatsächlich auf diesen deutete und hinein in die fragend-erstaunte Miene eines anwesenden Freundes anhob, die folgenden, berühmt gewordenen Worte zu sprechen: „Wenn Sie wollen, ist morgen die Geschichte fertig. Überschrift: Der Aschenbecher.“

Ob die Situation so oder gänzlich anders verlief, mögen die wahren Tschechowianer klären. Ebenso, ob die Story von oder mit dem Aschenbecher nur Überschrift blieb oder möglicherweise rasch geschrieben, bald wieder verloren ging. Im Œuvre zumindest taucht sie nicht auf, dennoch: vor meinem geistigen Auge steht noch immer der Aschenbecher, eine der Fernwärme vergleichbare Allerweltserscheinung, etwas schlicht aus dem Leben Gegriffenes, dem Tschechow kraft seines Renommees als Autor einen über die Sache hinausgehenden Status zusprechen konnte. Und dank dem Meister kann nun jede und jeder, wenn sie/er es kann, alles zu einem der kreativen Reflektion würdigen Objekt erklären, zum potenziellen literarischen Helden oder Schurken küren, als Subjekt ins Zentrum rücken, beliebig auf- und abtreten lassen, kann die Begriffe wieder und wieder bemühen. So auch den Aschenbecher, ihn überquellend oder, was möglicherweise noch beredter wäre, als gähnend leeres Artefakt darstellen, weil im Hause Tschechow häufig die Kopeken für das Nötigste fehlten. Nicht zuletzt für den Kachelofen, der allzu oft unbeheizt blieb. Das Klavier war ja auch nur gemietet. Und die normalerweise nicht ganz abwegige Hoffnung, dass der anwesende Freund vielleicht doch noch ein paar lausige Krümel Machorka aus der dünnen Joppe schütteln möge, die dann, behutsam umwickelt von einem vor Druckerschwärze erstarrten Fetzen Zeitungspapier in Rauch aufgingen, wodurch das zarenhörige Zeitungsgeschmier wenigstens für einige illusionsstiftende Kringel taugte, kam Tschechow wohl nicht in den Sinn, denn: Der Freund, nun ja, man siezte sich nicht nur deshalb, weil man es im Russischen bis heute gerne so tut. Vielmehr war jener „Freund“ ein von Geldnot ausgezehrter Patient. Also eine derjenigen Personen, von denen es im Leben dieses Schriftstellerarztes nicht wenige gab. „Ich habe viele Freunde – schrieb Tschechow in einem Brief an seinen Onkel und – darum auch viele Patienten.“

Tatsächlich: Das Nötige, um auf seine großzügige Art als Arzt praktizieren zu können, verdiente sich Tschechow durchs Schreiben; der Schriftsteller subventionierte den Doktor. Nicht umgekehrt. Dies gilt es festzuhalten, um damit nun auch mit der Fernwärme ein Stückchen voranzukommen. Vorerst spekulativ und nach wie vor auf einem mit Tschechow gepflasterten Pfad: Die Welt für Tschechow, behaupte ich, war voller Patienten, zu denen nicht nur die Menschen zählten, die seinen ärztlichen Beistand suchten. Ebenfalls als Patienten sah er die Gegenstände, denen er mit seinem schriftstellerischen Instrumentarium zu Leibe rückte. Beide Typen gehörten zusammen, wirkten aufeinander ein und brauchten Behandlung. In beiden steckten riesige Potenziale; auch des Scheiterns, und insbesondere wenn die Herausforderung groß war und die Herangehensweise unkonventionell, endeten Kunstfehler nur dann nicht ganz so fatal, wenn die Patienten keine echten waren, sondern, schlimm genug, „nur“ Literatur.

Die Überprüfung des tschechowschen Patientenbegriffs mögen wiederum die Experten leisten und mögliche Konsequenzen bitte gleich mit bedenken, etwa ob Tschechow, wenn er Alltäglichstes literarisch bearbeitete, eine ganzheitliche Betrachtung im Spannungsfeld zwischen Kunst und Medizin vorschwebte, ob er als Schreiber und Arzt simultan daran forschte herauszufinden, wie weithin missachtete Alltäglichkeiten mit fälschlicherweise isoliert behandelten Krankheitssymptomen zusammenwirkten. Anamnese, Diagnose, Therapie am Einzelnen, unter Einbeziehung auch des allerbanalsten Drumherums. Was um uns ist, ist in uns. Ganzheitlich eben; der Körper vergisst nun mal nicht.

Und genau so ein ganzheitliches Therapiepotenzial à la Tschechow könnte auch in dem so uncool daherkommenden Fernwärmethema stecken, ein Spiel mit der Hoffnung, eine Wette darauf, dass mit der literarischen Hervorhebung eines ansonsten nur funktional gebrauchten Sachbegriffs der Ansporn wüchse, immer mehr von dem verborgenen Sexappeal, bzw. Sprengstoff hervorzukitzeln, das zweifellos in diesem, wie in den vielen anderen, in Schründen, im Schatten vegetierenden Mauerblümchenworten schlummert. In der Folge dann könnten bisher schon salonfähige Plots über Liebe, Leid, Verzweiflung, Abenteuer, Missgunst, Konflikt, Duldsamkeit, Güte oder Hass etc. in Koexistenz treten mit Geschichten herum um als minderwertig behandelte Dienerbegriffe wie Klomuschel, Wattestäbchen, Schnürsenkel, Knopfloch und eben Aschenbecher, Fernwärme & Co. Mit Begriffen, die dann ebenfalls Quelle von tiefgeistigen Ausflüssen würden … ein trügerischer Traum? Bisher zumindest finden meist nur die üblichen Verdächtigen Platz an der gedeckten Tafel, während man das stumme Heer der kreuzbraven Diener behandelt wie Luft. Systemrelevanz hin oder her, Beachtung finden die geborenen Opfer erst dann, wenn Probleme auftreten. Dann aber, Gnade Gott, wird es heftig, hagelt es Kopfnüsse, Anwürfe, Zornes-, ja Gewaltausbrüche. Immer druff auf die Sündenböcke, nur als solche sind sie urplötzlich präsent. Davor, danach Fehlanzeige, gehen den Menschen ihre verbalen Diener schlicht am – auf gut Deutsch gesagt – Arsch vorbei.

Apropos Deutsch; wie heißt es doch von Kaiser Karl V. aus dem 16. Jahrhundert? „Ich spreche spanisch zu Gott, italienisch zu den Frauen, französisch zu den Männern und deutsch zu meinem Pferd.“ Karl also verbalisierte die Verachtung im Großen, der es einerseits galt ebenfalls groß – etwa mit Luthers Bibelübersetzung – entgegenzuwirken. Andererseits ist Sprache immer auch ein Guerrillakrieg, liegt das Schlachtfeld im Kleinen. Gleich hier oder dort um die Ecke. In Hütten und Palästen. Wort für Wort. Auf allen Ebenen. Auch in der Sprache der bildenden Kunst, die lange brauchte, bis sich Landschaft, Natur, wahres Leben zunächst nur als Hintergrund durchsetzen ließ, oder bis Gemeine, das Volk, tumbe Bauern sogar, bildwürdig wurden. Und obwohl in Pieter Bruegels Bauernhochzeit die Braut mit einem Gesicht dasitzt, das sehr dem Brei ähnelt, den die Gäste verschlingen [1], so sind die Handelnden dennoch die braven, einfachen Leut, wobei, zurück zur Braut, deren dumpfer Ausdruck womöglich von einer herzzerreißenden Ahnung zeugt, einer Ahnung, die nahezu Gewissheit wird, wenn der betrachtende Blick auf die papierne Brautkrone fällt, die statt auf dem sichtbar dafür hergerichteten Haupt der Auserwählten zu thronen, einfach traurig und leer an der Wand hinter ihr hängt. Auch die geladenen Gäste, die sind ja nicht blöd, wissen genau, was die Braut quält – schlucken es aber hinunter; mit dem Brei, aus dem heraus diejenigen, die sehen wollen sehen: Der Bräutigam fehlt. Wo steckt er, der Gute? Ist er mit der Obrigkeit in Konflikt geraten oder war seine Absenz bei flandrischen Hochzeiten einfach so üblich?

Was die Bauern da in derber Geselligkeit in sich hineinfressen, mag mit jedem stoisch in den Mund geschobenen Löffel Brei aufquellen zu einem explosiven Gemisch, befeuert von den elementaren „Dienern“ der Armen. Brei, Fraß, Magendruck, Blähung, Rülpser, Fürze, Neid, Gähnen, Flüche, Rausch, Gerüchte, Dumpfheit, Wut etc., liefern die Nahenergie, bilden Elemente, Fragmente, Ausrufezeichen, Abkürzungen, Gedankenstriche eines noch nicht ausgesprochenen Narrativs, das hier, genial angerissen vom Maler, auf erzählerische Vollendung harrt. Und zudem immerfort auf stetige Erneuerung. Wieder und wieder, seit das Bild um 1568 entstand.

Den Raum für das andere Narrativ aufgestoßen hatte die stille Sprache der Malerei, mit der Bruegel den Stoff für weitere Erzählungen schaffte. Etwa die von dem einzig auf der Hochzeit anwesenden Gottesmann, Franziskanermönch mit beiger Kapuzenkutte, auf den bestimmt keiner der einfachen Menschen hier hofft. Er sitzt an der Ecke, weit entfernt vom bäurischen Zentrum, rechts daneben der distinguierte Notar, wendet sich der Mönch soeben an seinen Nachbarn zur Linken, den bärtigen Gutsherrn, spricht angeregt auf ihn ein, mit flinker Zunge, unbeschwert vom klebrigen Brei. Vielmehr gespeist aus päpstlich-kaiserlicher Gunst, umhegt von einer fernen Wärme, in die sich die Herrschaften eingewoben fühlen. Auf Kosten des großen Rests der Gesellschaft, von der auch des Gutsherrn edler Jagdhund zehrt, der unter dem Tisch lauert und mit spitzer Schnauze für Distinktion durch Abstand sorgt. Dafür, dass links von seinem Herrn eineinhalb Plätze unbesetzt bleiben.

So geht es zu, und dagegen gilt es – so meine ich abschließend –, die Abstände zu verringern, früher wie heute, indem z.B. jede und jeder sich über alles möglichst Unmögliche im Erzählen übe, malend, schreibend, singend, redend, Sarkasmus, Zynismus, sogar Lächerlichkeit nicht scheuend, wenn es sein muss mit einer holprigen Ode an die Fernwärme:

Wäre ich ein Odenschmied,
ich schwänge meinen Hammer,
ließe hitzige Funken springen,
teilte der Fernwärme Lust und Last,
gemeinsam brächen wir Knüppel statt Fraß,
beendeten der Unsäglichkeit Jammer!

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[1] Abbildung s. Kunsthistorisches Museum Wien: Zur Detailansichten des Bildes

Rainer [Willert]


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