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Rechnen in Rheinfelden

Ich kann nicht schreiben. Ach, könnt ich doch nur schreiben!
Ich kann nur rechnen. Ich rechne mit dem Untergang.
Gestern habe ich gerechnet und gerechnet, Stunde um Stunde, und mich dauernd verrechnet. Ich habe den Untergang herbeigerechnet.
Frag nicht, wie einer seine, wie andere Leute sagen, kostbare Zeit verbringt.
Ach, könnt ich doch nur schreiben über die Zeit. Das würde was machen mit der Zeit, füllen würde es sie, wie andere Leute sagen und wie es geläufig ist. Das Leben aus gefüllter Zeit.

Ich rechne. Das muss ich tun, denn sonst geht das Leben nicht. Kostenerstellung. Ich koste vom Leben ab und zu, ein Auskosten, wie die Leute landläufig sagen, ist es nicht. Vor mir liegt ein dicker, runder, grüner Apfel. Zum Reinbeißen. Zum Reinbeißen schön. Ich sollte ihn kosten. Wenn ich nun in ihn beißen und ihn auskosten würde, wäre seine Schönheit dahin. Dinge sind zum Angucken da und das Leben auch. Ich gucke auf mein Leben, und während ich gucke, verläuft es.
Es verläuft im Gucken und Betrachten und in Vorstellungen und Planungen. Leben ist eine Kostenerstellung, die kein Ende findet.

Ich hause in einem Zimmer, es ist ein Monteurzimmer. Schal fällt Licht aus dem bedeckten Himmel durch seine kleine Öffnung hinein. Eine Seite liegt ganz im Dunklen. Dort hat man zu liegen. Wer dort lange liegt, weiß nicht, wann der Tag beginnt, und er weiß nicht, wann das alte Rechnen aufhören kann und das neue Rechnen beginnen muss. Das es notwendig ist, ist ausgemachte Sache.
Es ist stillschweigende Übereinkunft zwischen mir und dem Leben.
Heute lag ich dort nicht lange auf der dunklen Seite meines Monteurzimmers. Ich hantiere mit Zahlen, ich rechne und rechne, und es kommt nicht das richtige Ergebnis heraus, da kann ich rechnen, wie ich will. Es rechnet sich nicht. Das ist das Ergebnis. Das rechnet sich doch nicht, wie die Leute sagen und so sage auch ich. Also breche ich ab. Ich verlasse mein Monteurzimmer und überrechne alles nochmal neu. Nicht in Rheinfelden. Woanders. So wie ich das immer tue und nicht damit aufhöre.

Ich tue alles, was notwendig ist.
Rechnen und Atmen.
Und Einkaufen. An welchem Punkt bist du jetzt? Am Endpunkt. Wir lachen. Die Relativierung dieser Aussage schließt sich unmittelbar an, denn wir können ja nicht minutenlang im Lachen verharren. Die gefletschten Zähne in das Zoombild halten und die Gesichtsmuskeln einfrieren lassen. Ein vorübergehender Endpunkt. Ja, es geht weiter, die Videoaufzeichnung war gestört. So ist es angemessen. Vorübergehend diese Wochen, ein Hoffen, aber ein Ende kaum vorstellbar, ein Punkt nicht in Sicht. Corona, wie schön ist dieser Name. Covid-19 dagegen zeigt uns, was es ist. Nichts mehr berühren. Also nehmen wir einen Einkaufswagen, streng unter Security-Kontrollaugen, und schieben uns unter Kontrolle schuldbewusst durch die Türen, immer den Abstand zum Nachbarn im Blick. Stehen wir in den riesigen Verkaufsräumen der Lebensmittelmärkte, haben wir schon vergessen, was eingekauft werden muss. Mühsam ist das Ganze Geschäft, ist man endlich durch alle Gänge gestreift, hat dies und das in den vorübergehenden Besitz des eigenen Wagens gepackt, ist durch die Kassengänge geschleust worden, ist man froh, dass dies vorbei ist, heil an uns vorbei gegangen ist. So der Glaube. Draußen dann noch schnell ein paar Tropfen Desinfektionsmittel, ausgestreckt am langen Arm der security, gespritzt von Weitem auf unsere Handteller. Auch wenn dort nur wenig landet und nicht genau dorthin, wo es hin soll, so weit kann eben keiner zielen, auch nicht, wenn er seit Wochen schon übt an tausenden Probanden, die ihm in einer unaufmerksamen Sekunde zu nahe kommen oder achtlos an ihm vorbeistreifen.

Ich habe etwas vergessen, etwas Wichtiges. Ich muss noch einmal hinein. Aber mein Wagen ist mir schon unter meinen Händen entzogen worden, also gehe ich wagemutig an den Argusaugen des geschulten Aufpassers vorbei. Oh es hat geklappt. Ohne einen neuen Wagen, auf den ich warten müsste, solange, bis ein neuer Wagen frei wird, ich bin durch gekommen und nicht gesehen worden. Ein Wunder. Ich kann es kaum fassen, ich drehe mich zur Vergewisserung des gelungenen Unterfangens um und sehe der Auflösung des angenommenen Wunders zu. Keine Wundertätigkeit hat mich hier durchgelassen, sondern ein sich wohl zeitgleich zutragendes Ereignis, dessen Aufmerksamkeit den ganzen Securitymann erfordert. Ein beeindruckender Einsatz. Dort steht ein Mann, groß, finsterer in Gestalt, dicht an jenem und rückt nicht von ihm ab. Er lässt sich auch nicht durch das jetzt wild in die Luft und gegen ihn gespritzte Desinfektionsmittel in eine weitere Ferne treiben und ganz vertreiben schon gar nicht. Natürlich hat er keinen Einkaufswagen genommen, so wie dies die Aufgabe eines jeden ist, der Verantwortung trägt, ohne dass er spricht, sagt sein Blick, dass er sich weigert. Er will weitergehen, doch man lässt ihn nicht. Übellaunig, wie vielleicht schon von Tagesanbruch an, dreht er sich von den Spritzern weg und mir zu und weist mit einem sehr langen Zeigefinger spitz auf mich. Jetzt ist er zum Aufpasser geworden, er ist mir gefolgt, so muss es gewesen sein, das von mir fälschlich angenommene Wunder ist keines. Hier gibt es keine Wunder, hier ist die Realität. Es hat keinen Sinn, hier zu bleiben, ich habe ohnehin schon wieder vergessen, was ich vergessen hatte, in den Einkaufswagen zu legen, als ich den mir zugeteilten noch mein nennen durfte, ein vorübergehender Besitz. Passager wie alle Punkte, die an kein Ende kommen. Die Passagiere des Supermarktes sind an Deck gelaufen, keine Passanten mehr in den Straßen und weit verzweigten engen Gassen. Ich dränge zur Ausgangstür des großen Schiffs, ich möchte hier raus, ich gehe in gemessenem Abstand an beiden Herren vorbei, deren wortlose Interaktion ohnehin durch den gekonnten Schwenk des langen Zeigefingers auf mich unterbrochen worden war, und ich erhasche im Vorbeigehen seinen Blick. Finster immer noch, schlechtlaunig ohnehin, solidarisch trotzdem.

Sabine [Rothemann]


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