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Der versetzte Schauspieler

Dichter sind meistens 'eigentlich' etwas anderes, sie sind versetzte Maler oder Graphiker oder Bildhauer oder Architekten oder was weiß ich. Ich begann bereits einmal einen Essay mit diesem Zitat von Thomas Mann aus seiner Princeton-Rede. Seiner Ansicht nach sind Schriftsteller im Herzen meistens andere Künstler. Er verwendet das Verb versetzen. Zählte Thomas Mann sich selbst zu den Musikern unter den Dichtern, will ich mich in die Reihe der Schauspieler unter den Literaten stellen.

Der österreichische Regisseur Max Reinhardt hat in seiner an der Columbia Universität gehaltenen Rede über den Schauspieler bemerkt, dass Theaterspielen ein Elementartrieb des Menschen ist und in jeder und jedem letztendlich die Sehnsucht nach Verwandlung schlummert. Gegenteilig zum Schauspieler, dessen Aufgabe die Enthüllung ist, sehen sich die Menschen auf Grund von Erziehung und Konvention aber genötigt, sich im Alltag zu verstellen.

Ich wandte mich in meiner Jugend tatsächlich zuerst der darstellenden Kunst zu und nicht der Schriftstellerei. Ich hatte das Glück gleich zu Beginn ein Engagement bei den Salzburger Festspielen zu bekommen und wirkte unter dem Dirigat von Herbert von Karajan bei Don Giovanni und Tosca als Statist mit. Obwohl mich Karajan und die Welt der Oper tief beeindruckt hatten, war meine spätere Tätigkeit als Komparse für den deutschen Regisseur Peter Stein weitaus befriedigender und beglückender für mich. In Julius Cäsar spielten Theatergrößen wie Gert Voss, Thomas Holzmann und Martin Benrath, und als ich miterlebte wie der Text von Shakespeare – der mir schon bekannt war – bei der Probenarbeit zum Leben erweckt wurde, das zuvor während des Lesens Imaginierte Gestalt annahm und Voss als Marcus Antonius vor mir stand, begriff und erfuhr ich am eigenen Leib, dass man einen Text wirklich spielen, das Wort tatsächlich Fleisch werden lassen kann.

Nachdem ich mein Philosophie-Studium abgeschlossen hatte, versuchte ich mich neben meiner Statistentätigkeit für Film und Theater ein paar Jahre auch als Regieassistent. Ich arbeitete erneut – dieses Mal unter anderen Vorzeichen – für Peter Stein, hospitierte an der Wiener Staats- und Volksoper und erhielt auch eine Sprechrolle in der Operette Paganini von Franz Lehar.

Die Sehnsucht nach Verwandlung ließ mich in meiner Zeit als Komparse auch schon meine eigenen Stücke auswählen. In einem anderen Essay habe ich davon erzählt, wie ich den Helden des Romans von Thomas Mann Der Zauberberg nach der Lektüre imitiert habe und dass mich das Kino – im speziellen die Filme von Luchino Visconti – die Welt der Literatur entdecken hat lassen. Bezeichnenderweise sind zwei Bücher, die mich in meiner Jugendzeit am meisten prägten, Porträts von Schriftstellern: Der Tod in Venedig von Thomas Mann und Nachmittag eines Schriftstellers von Peter Handke. Wie schon beim Zauberberg spielte ich die Bücher nach, doch dieses Mal ging ich in meinem Part auf, mimte ich über ein Jahrzehnt lang den Autor, solange, bis ich tatsächlich einer wurde.

Mit dem Wechsel vom reinen Konsumenten zum Schöpfer beziehungsweise von der Reproduktion zur Produktion von Kunst, veränderte sich die Intention meiner Art des Schauspielens um hundertachtzig Grad. Müßig zu sagen, dass ich nicht Texte schreibe, um sie dann selbst nachzuspielen. Es war und ist vielmehr so, dass ich die Rollen vorher ausprobiere, bestimmte Lebensmodelle austeste, die Grenzen der menschlichen Existenz ausreize, um sie anschließend zu Papier zu bringen. Wir wollen unsere Experimente und Versuchstiere sein!, fordert Friedrich Nietzsche seinen Leser in der Fröhlichen Wissenschaft auf. Das heißt, ich verkörpere vorher meine Geschichten und erzähle sie erst später.

In Salzburg, in dieser Theaterkulissenstadt, ist man ständig umschwirrt von zwei Bühnen-Charakteren: Jedermann und Don Giovanni, wenn auch die Uraufführung der Oper von Mozart woanders stattgefunden hat. Vielleicht oszilliert jedes männliche Leben zwischen diesen zwei Prototypen. Ich habe mich mit beiden schriftstellerisch auseinandergesetzt. Sicher habe ich den spanischen Edelmann lieber gespielt als den vom Tod bedrückten reichen Mann, um meine Romane verfertigen zu können. Aber mein donjuanesker Protagonist aus Der zweite Blick macht manchmal eine komische Figur, wenn er auf der Straße eine Frau verfolgt und empfindet sein Verhalten selbst oft als lächerlich. Auch ist sein vorläufiges Ende nicht so beglückend, dass sein Leben auf Dauer nachahmenswert erscheint. Ich habe noch nicht den Part gefunden, den ich bis zum Schluss nachempfinden möchte. Selbst das Ich als Autor ist vielleicht nur eine Pose. Ich schließe diesen Essay mit einem Zitat aus meiner Erzählung Der Schriftsteller.


Vielleicht leide ich unter einer Art 'déformation professionnelle', aber frei nach dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg erfreut mich auf Dauer nur die Lesbarkeit beziehungsweise die Erzählbarkeit der Welt. Schlimmer noch gewinnt nur jenes Erlebte an Wert und Bedeutung für mich, welches sich verschriftlichen lässt. Das Fleisch muss Buchstabe werden, als ob ich die Inkarnation quasi rückwärts beschreiten will, und auch wenn künstlerisches Gestalten immer ein Wechselspiel zwischen dem Realen und dem Möglichen ist, oder vielleicht gerade deswegen.

Peter Simon [Altmann]


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