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Der Virus und sein Wirt – kommt Zeit, kommt Rat

Eine Freundin: "Ich fühle mich schon wie ein Virus und bräuchte dringend einen Wirt."

In den Tages des Aprils des Jahres 2020:
Ein Bruder mit Frau, der im Wochenendhaus weilend erst einmal keinen Grund sieht davon Abstand zu nehmen mich und meine Frau zu einem zeitgleichen Aufenthalt im Wochenendhaus zu bewegen.
Ein Chef der mental noch nicht gewillt scheint die Hoffnung auf seine alljährliche Fernreise mit Frau und zwei Kindern im Sommer aufzugeben.
Ein Kollege der als Vielposter in Facebook die Ansicht vertritt, dass es keine Veränderung geben wird.
Ein Freund der als Geschäftsführer einer Firma in Südwestdeutschland mit "Pendler-Status" mit dem Auto für die nächsten zwei bis drei Wochen aus dem Home-Office in Wien nach Deutschland fahren wird, zur moralischen Stärkung der Mitarbeiter der Firma.

Ich las in den vergangen Tagen eine Reihe von Beiträgen in der deutschen Wochenzeitschrift „Die Zeit“ in folgender Reihenfolge:
1.) "Die EU kann in dieser Form nicht überleben." Interview mit Ivan Krastev vom 8. April 2020. Ivan Krastev ist ein bulgarischer Politologe und Politikberater, außerdem ist er Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen.
2.) "Der Zweifel wächst." Ein Gastbeitrag von Azadeh Zamirirad vom 8. April 2020. Azadeh Zamirirad ist Wissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
3.) "Durch das Tor des Schreckens." Ein Gastbeitrag von Arundhati Roy vom 9. April 2020. Suzanna Arundhati Roy ist eine indische Schriftstellerin, Drehbuchautorin, politische Aktivistin und Globalisierungskritikerin.
4.) "Für Übertreibungen ist kein Platz mehr." Interview mit Peter Sloterdijk vom 8. April 2020. Peter Sloterdijk ist ein deutscher Philosoph und Kulturwissenschaftler.

Wir Menschen können viel mehr herstellen, als wir uns vorstellen können [Günter Anders in seiner Antiquiertheit der Menschheit].

Ich wollte dem Bruder antworten, das ein wie immer getrenntes Beisammensein in einem gemeinsam bewohnten Wochenendhaus, zu dem man aus getrennten Erstwohnsitzen aufbricht, in der aktuellen Situation eine denkbar schlechte Idee ist.

Ich wollte dem Chef antworten, dass er sich besser eher als später damit abfinden sollte, dass die geplante Fernreise mit seiner Familie diesen Sommer einfach nicht stattfinden wird.

Ich wollte dem Kollegen antworten, dass es keinesfalls keine Veränderung geben. Die von ihm ersehnte Weltrevolution, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend umstürzt wohl auch nicht allein durch den Virus. Darin stimme ich mit ihm überein.

Ich wollte dem Freund antworten, dass es in Zukunft besser sein wird Geschäfte zu führen, die ohne Flugzeug in vertretbarer Weise allwöchentlich zu erreichen sind.

>> Die Landhäuser in Europa sind ein Erbe der Pest. Damals bauten viele wohlhabende Florentiner Landhäuser, um dort die gefährlichsten Zeiten zu überstehen. Einige Europäer bedienen
sich gerade dieser Tradition. << [Krastev]

>> Einige Kleriker befürchten bereits eine theologische Krise und warnen vor einer iranischen Renaissance, die eine Abkehr von der Religion zur Folge hätte. Anhänger eines säkularen Staates sehen in Corona dagegen eine Chance für eine graduelle kulturelle Transformation in Iran. Der Gedanke speist sich aus der Vorstellung, dass auch in Europa einst eine Epidemie – die Pest – zur Entzauberung der Religion beigetragen und damit der Renaissance den Weg geebnet habe. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise gewinnt insbesondere die Idee des Säkularismus neuen Auftrieb. << [Zamirirad]

>> Unsere Gedanken rasen noch immer hin und her, der Verstand sehnt sich nach einer Rückkehr zur "Normalität", versucht unsere Zukunft mit unserer Vergangenheit zu vernähen und weigert sich, den Riss wahrzunehmen. Aber der Riss ist da. Und inmitten dieser furchtbaren Verzweiflung gibt er uns eine Chance, noch einmal über die Weltuntergangsmaschine nachzudenken, die wir für uns gebaut
haben.
Nichts wäre schlimmer, als wieder zur Normalität zurückzukehren. In der Geschichte haben Seuchen Menschen gezwungen, mit der Vergangenheit zu brechen und sich ihre Welt neu zu entwerfen. Das ist bei dieser Pandemie nicht anders. Sie ist ein Portal, ein Tor zwischen einer Welt und der nächsten.
Wir können uns entscheiden, hindurchzugehen und dabei die Kadaver unserer Vorurteile und unseres Hasses hinter uns herzuschleppen, unsere Habgier, unsere Datenbanken und toten
Ideen, unsere toten Flüsse und verqualmten Himmel. Oder wir können leichten Schrittes hindurchgehen, mit wenig Gepäck, bereit dazu, uns eine andere Welt vorzustellen. Und bereit, für sie
zu kämpfen. << [Roy]

>> Die letzten Vergleichsgrößen, auf die wir uns beziehen können, sind die Pestwellen, die zwischen dem 14. Und 17. Jahrhundert wüteten. Dagegen ist das Coronavirus harmlos. << [Sloterdijk]

Ich beobachtete es erst an mir selbst. In einer Zeit die schlagartig durch exponentielles Wachstumskurven viraler Infektion geprägt wird unter gleichzeitiger Regierungsaufforderung sich nicht ständig mit den Händen ins Gesicht zu fahren, sondern diese sehr häufig und gründlich mit Seife zu waschen, passiert etwas ganz menschliches, normales, aber der Situation unangemessen Unpraktisches. Das Denkvermögen des Menschen reduziert sich schlagartig in seiner Dimension bis auf Null. Zum vieldimensionalen Denken war der Mensch noch nie im Stande (siehe Günter Anders oben). Selbst in einer Dimension sind nur wenige Mensch in der Lage, Kurven die exponentielles Wachstum anzeigen, ernsthaft zu erfassen. Der Mensch denkt gemeinhin linear. Wenn ihn aber das Geschehen überfordert, bricht selbst das lineare Denkvermögen in sich zusammen und reduziert sich auf punktuelles Denken. So stolpert man von einer Handbewegung ins Gesicht zur nächsten und wäscht sich ebenso punktuell dazwischen immer wieder die Hände mit Seife. Und als ich zwischen meinen Händen im Gesicht und im Waschbecken dann und wann einmal aufschaute, mich umsah, mich umhörte und Mails las, beobachtete ich dieses Phänomen auch bei vielen anderen Menschen.

Aus dem Mathematikunterricht der Oberstufe wird Menschen mit Matura noch die sogenannten Kurvendiskussion erinnerlich sein, sich mit der Analyse interessanter Punkte einer Kurve (Extremwerte, Wendepunkte, Nullpunkte) einen Überblick über eine Funktion zu machen. Später in Mathematikvorlesungen auf der Uni ist zu erfahren, dass zur Lösung von Differentialgleichungen die Kenntnisse der Anfangs- wie auch Randbedingungen wesentlich sind. Auch hier stoßen wir auf "Punktuelles". Die Kunst ist es herauszufinden, welche Punkte befördern ein umfassenderes Verständnis der Situation und welche nicht. Die punktuellen Momente des Händewaschens sind nicht die Lösung zum Verständnis der Krise, so wichtig sie aktuell sind.

Sehen wir uns also die hier wesentliche Anfangsbedingung unserer hoch komplexen und dynamischen Herausforderung und eine extreme Lösung an.

Anfangsbedingung: Für die epidemische/pandemische Ausbreitung des Virus ist nicht der Virus selbst verantwortlich, sondern allein der Wirt. Des Verhalten der Wirten ermöglicht den Viren die Ausbreitung und damit das Überleben.

Extremwert - der Freeze: Wenn zum Zeitpunkt X, wo ein neuer Virus und seine mögliche Gefährlichkeit für den Menschen entdeckt wird, jeder Erdenbürger sich noch bis zur nächstgelegenen Behausung begibt, die über Wasserzufuhr und Abwasserentsorgung verfügt, wenn er sich nicht bereits in einer solchen befindet, und alle Menschen da rund zwei Wochen lange ausharren, idealerweise in möglichst kleinen Menschengruppen, wäre dieser Virus erst einmal aus der Menschenwelt eliminiert und wir können weiterleben wie gewohnt und auf die nächste Mutation bekannter Viren warten oder bis einer für den Menschen neuartiger Virus aus der Tierwelt auf die Menschwelt überspringt.

Es wird dabei nicht möglich sein, Menschen die bereits infiziert sind und die einen sehr schweren Krankheitsverlauf erleiden medizinisch helfen zu können. Wenn der Zeitpunkt X früh genug erfolgt und der Freeze angeordnet wird, wird die Opferzahl deutlich unter 1 000 zu liegen kommen. Den 14-tägigen Freeze wird die Weltwirtschaft einige Wochen später ausgebügelt haben, als hätte er niemals stattgefunden.

Dieser Extremfall wäre der Idealfall, um die Gefahr eines Virus für die Menschheit unter geringsten Verlusten an Menschenleben und Lebensqualität zu bannen. Dazu sind wir Menschen offensichtlich heute nicht fähig. China ist jetzt beim Corona-Virus COVID-19 diesem Ideal am nächsten gekommen. Der Zeitpunkt X zum Freeze erfolgte zwar aufgrund regierungsüblicher Dysfunktionalität autoritärer Herrschaft leider später als es möglich gewesen wäre, konnte aber durch die rigoros durchgeführte Quarantäne der Stadt Wuhan danach gut in den Griff bekommen werden. Die meisten anderen Länder, außer den an viralen Seuchen erfahrenen Nachbaren Chinas, Taiwan, Singapur, Südkorea und Neuseeland hatten es leider verabsäumt, rechtzeitig die nötigen Maßnahmen zu setzen, das Verhalten der Wirten so zu steuern, dass die weitere Ausbreitung und Überleben des Virus verhindert wird.

Diese Etappe liegt aber bereits hinter uns. Diese Milch ist vergossen. Beim nächsten Mal werden wir es besser hinkriegen.
Also im Weiteren zur Zukunft.
Nachdem inzwischen die überwiegende Mehrzahl der Länder ähnliche Einschränkungsmaßnahmen zur Steuerung des Verhalten der Wirten ergriffen haben, wird der Virus eingedämmt werden können.
Seit Menschengedenken ist es keinem Virus gelungen, die Menschheit auszulöschen oder ihr einen Schaden zuzufügen, der sie dauerhaft zu Boden gedrückt hält.

Welchen Ereignissen in der Menschen-Virus-Geschichte wird der Corona-Virus ähnlich sein? Nicht mit der Grippe der Influenza-Viren, das ist längst offensichtlich. Weder biologisch, noch von seiner Wirkung auf die moderne Gesellschaft. Ebenso wenig mit der "Spanischen Grippe", wenn auch aus anderen Gründen. Weil diese ebenso ein Virus aus der Familie der Influenza-Viren war und gesellschaftlich auf eine bereits durch den Ersten Weltkrieg demoralisierte Gesellschaft traf. Bleibt, wie Sloterdijk im Zeit-Interview meint, der Vergleich mit der Pest. "Dagegen ist das Coronavirus harmlos." In biologischer Hinsicht mag er Recht haben.

Aber in der gesamten Auswirkung des Virus auf die Entwicklung der Gesellschaft wird COVID-19 durchaus mit der Pest in Europa zur Zeit des ausgehenden Mittelalters mithalten können oder diese sogar übersteigen.

Der COVID-19 Virus wird wohl nicht so viele Menschen töten wie es das Pest-Bakterium tat, welches sich heimtückischer Weise nicht bloß über Tröpfchen (Lungenpest) sondern auch über Ratten und Flöhe als Überträger (Beulenpest) verbreitete. Wenn wir nur durch den Virus verursachten Todesfälle zählen wollen, versäumen wir fast zur Gänze den Blick auf seine langfristigen Auswirkung auf die Zivilisation.

Menschen sind sterblich. Sie sterben zu Milliarden an tausenden Ursachen, wie Krankheiten aller Arten, Unfällen, Hunger, Umweltzerstörungen, Waffengewalt und bisweilen auch an Viren. Die Mortalität macht den Virus nicht besonders unter allen anderen Todesursachen vor der Zeit aus Altersschwäche, jedenfalls nicht isoliert betrachtet. Es kommt die Infektiosität hinzu, dann die Komplexität der Zivilisation, ihr Mangel an Resilienz, an regionaler Autarkie, an ausreichenden Kapazitäten einer Reihe von notwendigen Mitteln zur Bekämpfung der viralen Ausbreitung. Der Virus trifft auf eine Gesellschaft, die an Mobilität, Beschleunigung, Vernetzung, Dichte und Menschenzahl die Menschenwelt zur Zeit des Mittelalters in Europa um ein vielfaches übersteigt.

Und mehr noch, der Mensch ist nicht bloß sterblich. Während seines Lebens nämlich lebt er.
Die Wirkung von COVID-19 auf das Leben des Einzelnen, wie auf Kultur und Zivilisation wird alles an Erfahrungen der jüngst vergangenen Jahrhunderte in den Schatten stellen. COVID-19 wird die Welt nachhaltig verändern.

Es wird eine Zeit vor CODIV-19 und eine Zeit nach COVID-19 geben. Und sie werden sich in manchen Aspekten mit der Zeit durchaus fundamental unterscheiden.

Ich habe den Eindruck, dass sich bislang nur wenige Menschen einen Begriff davon gemacht haben, welches zivilisationsverändernde bis zerstörende Potential diese Pandemie als Folge in sich trägt. Viele Folgen und Veränderungen werden nicht über Nacht kommen, wie die Corona-Pandemie, sie werden sich über mehr oder weniger lange Zeiträume erstrecken.

Ob Grippe (Influenza-Viren), ob Pest (Bakterien), ob Husten (Corona-Viren), dieses Mal haben wir einen Husten der allerdings in einer ganz anderen Liga spielt als die oft fälschlicherweise als grippaler Infekt bekannte Erkältung oder Verkühlung. Dieser Husten kann Menschen töten und tut es auch, wenn sich der einzelne Mensch und sein Immunsystem als zu schwach erweist, oder wenn eine Gesellschaft in einer Nation isoliert sich als unfähig erweist Maßnahmen durchzusetzen, die eine Eindämmung oder Eliminierung des Virus voranbringen.

Dieser Husten, der zum Erstickungstod oder Tod durch multiples Organversagen führt, dessen Zeuge zu sein ich weder mir selbst noch einem Angehörigen wünsche (an dessen Bett ich stehen müsste), wenn ans Ende geht, im dem Fall, dass die Krankenhäuser die Aufnahme des Patienten verweigern, benötigt zweierlei:

Eine neuen, anderen Hustensaft, bzw. Impfung UND eine neue, andere Ordnung der Gesellschaft und der Welt. Die Viren begleiten das Leben der Bakterien, Archaeen, Eukaryoten (also uns Vielzeller) seit Anbeginn an. Erstaunlicherweise ist sogar ein Teil unserer DNA Viren-DNA. Die anderen (Bakterien, Archaeen, Eukaryoten) haben es also bislang immer geschafft, einen angepassten Umgang mit jeder neuen viralen Herausforderung (in Proteine gewickelte schlechte Nachrichten) zu finden.

Wie Roy schreibt geht es darum die "Welt neu zu entwerfen", "bereit [zu sein], uns eine andere Welt vorzustellen. Und bereit, für sie zu kämpfen."

Wir wollen diese Zeit nutzen.

Robert [Hobl]


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